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Rubrik denken

Fremdheit als neuer Erfahrungsraum

Von Elisabeth Jankowski

Muttersprache

Foto: christian sekulic/Fotolia.com

Sprachlos kommen wir zur Welt und tauchen stumm oder lallend in die Geräuschkulisse der Erde ein. Aber auch wenn wir durch die mütterliche Pflege und Liebe gehalten und genährt werden, wenn sie, die Mutter, das Sprechen mit ihr zu unserem schönsten Spielzeug erwählt, bleiben wir doch immer im Unbenannten verwurzelt. Schön ist diese wortlose Welt, schillernd verführerisch. Sie kann nur durch die Sinne erfahren werden, die uns wie betäubt von einem Gefühl ins andere reißen. Schreiend liegen wir auf dem Rücken und wissen doch nicht, dass es Hunger und Durst ist.

Durch die Pflege und die Sprache erhält dann langsam alles seine Form und seine Begrenzung. Die Beziehung zu ihr, der Mutter, tritt an die Stelle des Geworfenseins in einen dunklen verwirrenden Kosmos. Wie nach einem furchterregenden Traum kehren wir in die ausgestreckten Arme zurück und fühlen uns geborgen. Die Wörter, die wir plappern, füllen den Raum mit seltsamen Schallwellen. Sie bewirken etwas. Sind sie nicht wie ein Zauberstab, mit dem wir die Realität in Bewegung setzen?

Aber die Sprachlosigkeit und das anfängliche Stottern – auch wenn wir davon mehr ein Gefühl als Bewusstsein haben – bewohnen uns weiterhin, auch wenn wir fließend ein oder zwei Sprachen sprechen. Diese Schwellenerfahrung der ersten Jahre unseres Lebens, von der die Psychoanalyse viel zu sagen weiß, und die die Wissenschaft oft unterschlägt, ist der noch sprachlose Raum, der uns immer zeigen wird, dass die Benennung der Dinge nie erschöpfend sein wird, dass Definitionen  nur einen kleinen Teil unserer Erfahrung einfangen können, dass Termini nur Forschungshypothesen sind, aber keine letztendlichen Wahrheiten zum Ausdruck bringen, dass Wörter, die aus ihrem lebendigen Kontext herausgerissen werden, in freiem Fall Bedeutung und Sinn verlieren. Der Raum der Sprachlosigkeit zeigt uns auch, dass Wörter nicht im Kopf existieren, sondern dass sie immer durch den Körper hindurch und aus ihm heraus in die Beziehung eintreten. Sie sind nur zu einem geringen Teil ein Werkzeug, das wie von einem Handwerker eingesetzt wird, um eine Veränderung zu erreichen, sondern sie sind der atmende Teil unseres Körpers. Deshalb ist die Stimme auch ein so wichtiges Element der Persönlichkeit. Sie verrät das Maß der körperlicher Anteilnahme oder  Teilnahmslosigkeit.

Das Schweigen ist ein unverzichtbarer Teil des Sprechens. Manchmal ist es das stille Einverständnis mit dem, was ist oder es ist der Luftraum, der das Ausgesprochene mit seiner Schattenseite konfrontiert. Es kann bedeuten, dass ich nicht weiß, wie ich etwas benennen kann oder dass ich es nicht so benennen will, wie es üblich ist. Oft bedeutet das Schweigen die Verweigerung einer Beziehung, denn jedes Sprechen  lässt eine Beziehung entstehen, ob wir es wollen oder nicht. In manchen Märchen zum Beispiel wird dem Protagonisten empfohlen, nicht auf die Fragen zu antworten. Denn durch die Antwort würde er, in diesem Fall mit dem Bösen, in Beziehung treten und sein Ziel verfehlen.

Während die Frauen noch bis vor einigen Jahren offen das Patriarchat kritisiert haben und Fragen gestellt, die bisher nicht erlaubt waren, haben wir heute manchmal Lust, uns sprachlich zu verweigern. Es genügt nicht, die Politik und ihre Verantwortungsträger anzugreifen. Wir empfinden, dass die Sprache uns nicht entspricht, dass sie nicht das sagt, was wir erleben, dass ein Teil der Politik der Frauen Arbeit an der Sprache bedeutet, damit sie ein Mittel wird, um Wahres zu sagen.

Hinzu kommt die Erfahrung mit anderen Kulturen und anderen Sprachen. Auch dafür haben wir eigentlich keine Wörter: Wir sprechen zwar darüber, wissen aber doch sehr wenig. Besser  wäre es, manchmal zu schweigen und die Auseinandersetzung zu vermeiden. Verstehen, das wissen wir aus unseren frühsprachlichen Erlebnissen, ereignet sich nämlich nur in der Beziehung. Welche Beziehung haben wir aber zu den fremden Menschen und den fremden Sprachen?

Zurück an den Anfang müssen wir wieder gehen, dahin wo sich die erste Begegnung mit den Dingen oder mit den Personen ereignet hat. Dort entstehen die Wörter und dort erkennen wir, dass sie nie hinreichend sein werden, um die Realität in ihrer ganzen Sinnlichkeit zu beschreiben. Die Realität weist immer ein Übermaß auf, dass wir nicht in unsere Sprache einfangen können. Es bleibt ein Rest, der nicht auszudividieren ist. Auch die Ankunft einer ausländischen Familie bewegt sich vor diesem Horizont der Fülle, die wir durch unsere Bezeichnungen nur notdürftig definieren.

Sich wieder auf den Anfang besinnen, heißt auch, alle überflüssigen, abgenutzten, übermäßig ausgeschmückten oder  kopflastigen  Worte zu vermeiden, um der Sprache wieder mehr Anteilnahme und gefühlsmäßige Verankerung zu geben.

Koloniales Sprechen

Koloniales Sprechen bewegt sich in einer ganz anderen Sphäre: Es kommt von jemandem, der alles schon im Voraus weiß, alles besser und mehr weiß und der, nach dem Kulturkanon der mächtigen Nationen, eine bedeutendere Sprache aufweist. Zuhören ist bei dieser Einstellung nicht notwendig und alles, was die Menschen anderer Sprachen wissen, ist uninteressant. Tzvetan Todorov beschreibt diese Haltung sehr zutreffend in seinem Buch “Die Eroberung Amerikas”, wo Christoph Kolumbus der Prototyp dieses kolonialen Sprechens ist. Er fragt nie, wenn er zu irgendeinem unbekannten Ort kommt, wie dieser Ort von den Einheimischen genannt wird, sondern tauft ihn gleich neu, natürlich mit Namen aus der Heilsgeschichte der Bibel. “Da er selbst keine Muttersprache eigentlich hat, sondern ein typischer Polyglott ist, der viele Sprachen zwar kann, aber nicht gründlich” – das ist jedenfalls die Behauptung von Todorov – hat er auch für die Muttersprache anderer Menschen kein Verständnis. Die Vorraussetzung für Verstehen, die Bereitschaft dem Anderen  zuzuhören und die Fähigkeit das Nicht-Verstehen in Rechenschaft zu stellen, ist nämlich das Ergebnis der Erfahrung in der eigenen Muttersprache.

Wer nämlich eine Muttersprache besitzt und die tiefe Notwendigkeit dieser grundlegenden und gefühlsmäßig dichten Sprache erkennt, empfindet die Bindung, die durch diese Sprache entstanden ist und hat deshalb Achtung vor der Muttersprache eines anderen Menschen, wenn sie auch noch so verschieden ist. Italien ist dafür ein gutes Beispiel: Man kann sagen, dass Italiener nicht polyglott sind, dass sie aber, da sie ihre eigene Sprache über alles lieben, auch Verständnis dafür haben, dass andere auch ihre eigene Sprache sehr lieben. Daraus entsteht oft die Achtung vor den fremden Menschen, auch wenn dies nicht immer zu gelungenen politischen Konzepten führt.

Sprache kann nur aus einer Beziehung entstehen. Sie kann nicht aufgezwungen werden und kann nicht über Bücher, Regeln und Vokabellisten gelernt werden. Die Wörter sind immer Ausdruck ganz persönlicher Gefühle und Erlebnisse. Die Strukturregeln sind das Ergebnis von Jahrhunderte alten Beziehungsstrukturen. “Grammar is not semantically arbitrary.” Die Tatsache, dass unsere gemeinsame Sprache den Männern mehr öffentliche Sichtbarkeit verleiht, ist ein Beweis dafür, dass Grammatik nicht ein willkürliches Regelsystem ist, sondern den Beziehungsregeln des Patriarchats folgte. Für all diejenigen, die mit ihrer ganzen Existenz in das Leben der Anderen eintauchen, ist die Sprache immer ein Seismograph für die Veränderungen, die im Leben geschehen. Das koloniale Englisch zum Beispiel hat ganz schnell, zum Beispiel im Amerika der Indianer oder im Südafrika der Zulu und Afrikaans usw. neue Wörter aufgenommen und sehr bald das koloniale Englisch in seinen Grundfesten erschüttert. Natürlich könnte man sich fragen, warum unsere europäischen Sprachen so veränderungsresistent sind und eine ganz neue Frauengeneration keinen Niederschlag in der Sprache findet. Vielleicht ist unser Problem, dass wir eine überreglementierte Sprache besitzen, und zwar mit all ihren Sprach- und Rechts-Institutionen. Unsere Sprachen sind nicht mehr frei, den tatsächlichen Erfahrungen nachzugehen und sie zum Ausdruck zu bringen. Hier müssen wir vielleicht ansetzen, um mehr Bewegung in unsere Sprachen zu bringen. Wir müssen feststellen, dass die außereuropäischen Kulturen, die oft bisher orale Kulturen waren, eine viel größere Veränderungsfähigkeit haben als unsere europäischen. Der Schriftsteller Abdourahman A. Waberi aus Gibuto sagt, dass gewisse Kulturen aufhören müssen, sich im Mittelpunkt zu sehen. Die Sprachen sind kein Eigentum der Länder, sondern der Personen, die sie benutzen und lebendig erhalten.

Fremdheit als neuer Erfahrungsraum

Wenn einem also die Luft allzu dünn in der eigenen Sprache wird, dann kann man immer noch versuchen, eine fremde zu erlernen. Jede neue Sprache enthält in sich eine Verführung zu etwas Fremden. Sie nimmt uns an die Hand und begleitet uns über eine Schwelle, an die wir bisher nicht herangekommen waren.

Dem Wunsch, eine neue Sprache zu lernen, geht fast immer eine Leid-Erfahrung voraus. Bei meiner Arbeit in der Erwachsenenbildung habe ich feststellen können, dass Menschen, die eine Ehekrise hinter sich haben, depressive Zustände, auch eine ideologisch-politische Krise, dass sie manchmal diese Niederlagen und dieses Nichtverstehen dazu nutzen, um über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Wer eine fremde Sprache lernt, kennt diese Erfahrungen. Unbewusst ist es manchmal ein Versuch, der erdrückenden Last der ausdividierten Sprache zu entkommen, die nicht mehr als Mittel zur Benennung der eigenen Wirklichkeit empfunden wird, sondern ganz im Gegenteil als Barriere, die uns den Zugang zu den Dingen und Personen verstellt. Außerdem erahnen wir, dass in einer anderen Sprache eine ganz andere Welterfahrung zum Ausdruck kommt oder dass wir noch einmal die Möglichkeit haben, uns ganz neu in die Sprache einzubringen. Wir empfinden das Wohltuende der elementaren Benennung der Bedürfnisse und der Beziehungen zu Menschen. Dort wo keine Wörter sind, müssen wir mit dem ganzen Körper arbeiten, um uns mitzuteilen. Und immer wissen wir, dass wir vielleicht den anderen nicht verstanden haben, oder nur ein Bruchteil von dem, was möglich ist.

Die neue Sprache ist allerdings kein Verrat an dem eigenen, sondern ein Zurück zu den Anfängen des eigenen nicht Verstehens, als wir klein waren und die Welt noch nicht in feste Kategorien eingeteilt hatten. An den Anfang zurück kehren, heißt auch in der noch unbenannten Fülle der Realität zu verharren. Alle unsere sieben Sinne sind wieder gefragt und wir sind nicht unabhängig, wie es unsere moderne Welt von uns fordert, sondern begeben uns wieder in die Abhängigkeit der Anderen, die uns an die Hand nehmen müssen und uns ihre Sprache anvertrauen. Wir sind wieder da, wo wir angefangen hatten und wollen vielleicht immer dort bleiben. Im Raum des Nicht-Verstehens ereignen sich mehr Dinge als anderswo. Das Dasein in einer fremden Sprache entspricht unser menschlichen Bedürftigkeit eigentlich am besten.

Angeführte Literatur

Luisa Muraro, L’allegoria della lingua materna, in: Eva-Maria Thuene (a cura di), All’inizio di tutto la lingua materna, Rosenberg&Selier, Torino 1998, pp. 39-56

Sloterdijk Peter, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Edition Suhrkamp, Frankfurt 1988.

Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Edition Suhrkamp, Frankfurt 2005.

Anna Wierzbicka, The Semantics of Grammar, John Benjamins Publishing Company, Amsterdam/Philadelphia 1988, p.3.

Abdourahman A. Waberi, Liberare le lingue (Die Befreiung der Sprachen), in: Internazionale, Nr. 731 vom 15./21. Februar 2008, S. 58

Autorin: Elisabeth Jankowski
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 12.11.2008

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Ina Praetorius sagt:

    In alle Richtungen zugleich

    Liebe Lisa,
    so ein wunderbarer Text ist das! Er erinnert mich an Deinen Balkon in Verona: alte Mauern, Stille, Aprikosen, Wärme… Wenn ich mir eine Schule vorstelle, die auf diesem Sprachverständnis beruhen würde, oder ein interreligiöses Gespräch, oder eine Moraltheorie! Wir sollten unbedingt am Thema Muttersprache weiterdenken. Es schliesst an die Philosophie des Geborenseins an und öffnet viele Türen.
    Mit Gruss von Ina

  • Sylvia sagt:

    Schweigen

    Liebe Elisabeth, dein Abschnitt über das Schweigen war sehr aufschlussreich. In den letzten Jahren habe ich begonnen, intuitiv zu schweigen, ohne mir der Gründe wirklich bewusst zu sein. Deine Ausführungen hierzu sprechen mir aus der Seele. Nun sehe ich deutlich: mein Schweigen ist die Verweigerung einer Beziehung zu einer Welt, die ich so nicht mehr will, so nie wollte. Mein Schweigen soll Raum schaffen für “die Schattenseite” des Ausgesprochenen. Immer wieder aber erschüttert mich, wie wenig Schweigen akzeptiert ist, wie fremd es erscheint in dieser Welt, zwischen all den unablässig Redenden.

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