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Rubrik handeln

Staat oder Ökonomie – Realität oder Spekulation?

Von Andrea Günter

Ein Kommentar zur Finanzkrise

Tücher

Weltweit ist nach einem neuen geschlechtergerechten Verständnis von Ökonomie zu suchen ...

2006 entstand die kleine Schrift “Sinn – Grundlage von Politik”, in der neun Frauen gemeinsam mit mir der Frage nach einer neuen Perspektive auf die Ökonomie nachgegangen sind. Den meisten Sinn sahen wir in dem nachhaltigen Schutz der Artenvielfalt von Ökonomie. Es kann nicht darum gehen, einfach das Ökonomiemodell von “Smith” gegen das von “Keynes” zu setzen, wobei in dem einen Fall der Staat sich ganz aus der Ökonomie heraushält und im anderen Fall der Staat als konjunkturelles Korrektiv auftreten soll. Denn diese Alternative folgt einem dualistisch-hierarchisch ausgerichteten Verhältnis von Staat und Ökonomie. Dieser Dualismus muss überwunden werden.

Daher haben wir es für sinnvoll und notwendig erachtet, verschiedene Formen und Logiken der Ökonomie zu berücksichtigen: Die Ökonomie einer Profit-Organisation ist anders als die einer Non-Profit-Organisation oder eines Tauschrings; die eines Bäckers ist zudem anders als die eines mittelständischen Unternehmens in einer Kleinstadt, welche sich wiederum von der in einer Großstadt unterscheidet, oder von der eines groß-globalen Unternehmens in einer Kleinstadt im Unterschied zu einem solchen in einer Großstadt. Auch eine Ich-AG ist etwas Eigenes und unterscheidet sich in einer Klein- von der in einer Großstadt. Alle unterscheiden sich wiederum von der Ökonomie in einem Familien- sowie von der in einem Singlehaushalt ebenso wie von der einer Schule oder Universität. Ferner muss unterschieden werden, ob gesellschaftlich “der Mann” oder “die Frau” als Haushaltsvorstand gilt, usw. So stellt auch die Ökonomiewissenschaftlerin Luise Gubitzer heraus, dass entlang von solch unterschiedlichen Logiken der Ökonomie die damit einhergehenden heterogenen Verhältnisse zwischen Ökonomie und Staat unterschieden werden müssen.[1]

Die aktuelle Finanzkrise bietet genau in diesem Sinne eine weitere Differenzierung “der” Ökonomie an. Nicht einfach Staatsordnung des Marktes oder keine, also Logik von Staat oder Dynamik eines vermeintlich freien und geschichtslosen, staatsfreien Spiels der Marktkräfte ist die Frage. Auch das andere, bislang dritte Modell hierzu, die Formel “Soziale Marktwirtschaft”, ist nach Hartz IV kaum mehr aktuell, weil ungebrochen aktualisierbar. Nein, die vordergründige Dualisierung von Staat  und Markt führt zu der Verschleierung der Frage, die gegenwärtig diskutiert wird.

In der aktuellen Diskussion um die Finanzkrise unterscheiden auf einmal Unternehmer expliziert zwischen der Real- und der Spekulationswirtschaft. Damit aber sind zwei andere Kräfte als “Wirtschaft” und “Staat” einander gegenübergestellt: die Spekulation und das Reale. – Hierzu zunächst als kleine Nebenbemerkung: Jeder Feministin, die mit dem Gender-Konstruktivismus hadert und vielleicht sogar auf die Bedeutung der Differenz als Fähigkeit hofft, neue gute Unterscheidungen und damit Verbindungen nicht nur der Geschlechter anzustreben, müssten die Glocken läuten, ebenso wie jedem Philosophen und jeder Philosophin, die nach einer Alternative zu der Verdoppelung der Welt in eine reale und eine ideale oder spekulierte Welt sucht.

Mit dem Ruf nach dem Staat als Alternative zum Markt suchen wir eine neue Verbindung von Realität und Spekulation. Oder feministisch-theoretisch gesagt: Die Dekonstruktion des (sozialen) Geschlechts führt nicht unbedingt zu einem Geschlechtsspekulatismus, womit sie unfähig dazu würde, eine Politik für die realen Geschlechterverhältnisse zu entwickeln, noch weniger führt sie zu einem Geschlechtspositivismus, einem rein funktionalistischen und formalistischen Geschlechterpolitikkonzept ohne Momente von Transzendenz, wie es etwa – aus Rentengründen – die rein formale Gleichstellung der finanziellen und Erwerbssituation von Müttern mit den Vätern darstellt.

Produktion

Jenseits von Gift und Spekulation ...

Solche Parallelen machen deutlich, dass die Finanzkrise eine Kulturkrise ist: die Krise einer Kultur, die ihren Sinn für die Realität verloren hat. Und mit der Diskussion um Real- und/oder Spekulations-Wirtschaft geht es um die Organisationsweise der Verhältnisse und folglich um Politik: um Real- und/oder Spekulations-Politik.

Wenn dies, die Real- und die Spekulationsökonomie, die beiden neuen Kräfte sind, die unser politisches Feld derzeit determinieren, dann rückt damit die Frage in den Vordergrund: Warum hat die positivistische Realwirtschaft die Spekulationswirtschaft, die ja nichts als eine Erscheinungsweise von ihr ist, in dieser Art hochkommen lassen und also gebraucht?

Wenn dieser Frage nachgegangen wird, kann deutlich werden, welche Funktion der Staat in diesem Fall übernimmt und was er tun kann. Auf jeden Fall wird klar, dass der Staat gegenwärtig für das Realitätsprinzip zuständig ist, nämlich für die Vertrauensbildung, die die Realität braucht, so dass keine Hysterie entsteht: Damit die Menschen nicht aus Panik ihr Geld von den Banken abziehen, sondern weiterhin dem Finanzsystem vertrauen, garantiert die Kanzlerin mit einer Unsumme, dass keine Bank kollabiert, und versucht, Regelungen einzuführen, die den Spekulationshabitus eindämmen sollen. Sie erfindet dafür eine letzte Realität zur realitätsabgewandten Spekulation: die BürgerInnen und ihre Steuern.  Das Verhältnis von Realität und Spekulation wird verkehrt. Die Spekulation ist nicht mehr eine Reaktion auf die Realität. Die BürgerInnen selbst mit ihren Steuern werden zu der Realität, die die Spekulation braucht, um nicht einzubrechen; ihre Realität wird zu jener Realität, nach der die Spekulation verlangt. Der Staat wird dabei zu derjenigen Größe, die die Realität zur Spekulation erschafft. Die US-amerikanischen Eigenheimbesitzer erfahren dies gerade hautnah.

Der Staat als die neue kulturstiftende Kraft, die die Realität begründet? Eine seltsame Idee. Dass dies die BürgerInnen und ihre Steuern sein sollen, ist ein rein formales und abstraktes Prinzip, das das Leben der einzelnen in der Gesellschaft zusammen mit der Realität selbst gefährdet, weil es dies nur prinzipiell, aber nicht im Einzelfall in den Blick bekommen kann. Die Realität also als formales Prinzip jenseits der Einzelsituationen, das ist die Realität, wie der Staat sich selbst darstellt, nicht aber die tatsächliche Realität. Das Realitätsprinzip des Staates ist also nichts anderes als das, was der Staat als seine Realität benennt, was jedoch nicht die Realität ist.

Wenn nun die Aufgabe der Realitätsstiftung der Staat übernimmt und die Spekulationsabsicherung die Realität der BürgerInnen sein soll, wofür wäre dann aber die Realwirtschaft zuständig und vor allem verantwortlich? Dafür, nach der Realität und in der Folge nach dem Staat zu rufen? So dass auch ein neoliberaler Guido Westerwelle sich nicht mehr scheuen muss, in den Ruf nach Regeln und in diesem Sinne nach dem Staat einzustimmen, weil auch er eine Realität braucht, wenn er den freien Markt will?

Vieles fällt frau ein, was als Scharnier da ist und eigentlich nicht direkt thematisiert wird, doch indirekt schon: vor allem als Trittbrettfahrer die Autoindustrie, die ihren Marktverlust mit der Finanzkrise kaschieren kann. Wobei sie selbst ein Teil gerade der Realwirtschaft zu dieser Finanzkrise ist, weil sie in den letzten Jahrzehnten die Spekulation brauchte, um von ihrer Realität, genauer gesagt von ihrem Realitätsverlust ablenken und/oder diesen kompensieren zu können: mehr und größere Autos trotz der Erfahrung, dass wir von all dem mehr als genug haben und unsere ökologische Situation nach umweltfreundlicheren Modellen verlangt. Die fehlende Rückbindung: ermöglicht durch (v)erspekulierte Gewinne.

Was nun hat der Staat damit zu tun? Was hat er getan? Denn dass er an diesem Realitätsverlust nicht beteiligt sei, kann er kaum behaupten. Verdient er das Vertrauen dafür, der Stifter von Realität und des ihr notwendigen Vertrauens zu sein? Hat er sich also in der Fähigkeit der Realitätsstiftung und Rückbindung bewährt?

Wenn frau daran denkt, wie unbedacht die Prinzipien der Wirtschaft, die gerade kollabiert sind und deren Fehlsteuerung schon lange deutlich sind, trotzdem in andere Bereiche hineingetragen werden wie in den sozialen, den Bildungsbereich und die Universität, dann können wir aufgrund des Scheiterns dieser Weise von Wirtschaft selbst schon ahnen, was da auf uns zukommen wird bzw. schon am Laufen ist. Und wir müssen uns wundern, dass das hier nach wie vor forciert wird, während Merkel und Steinbrück schon seit einiger Zeit versuchen, der Spekulation gleichzeitig international Riegel vorzuschieben.

Ein Wirtschaftsdenken ist gefragt, eines ohne die unzeitgemäße Wachstumsideologie, die den Spekulatismus forciert, eines, das kein Entweder-Oder-Sein ist, so dass aus Wachstum Gier werden muss, kein Wachstum des Kapitals anstelle der Sicherung von menschenfreundlichen Arbeitplätzen, vor allem aber von Wohlbehagen – im Unterschied zum Wohlstand – im Leben der Menschen. Die Suche nach Alternativen scheint schwierig, die allgemeine Ratlosigkeit ist deutlich zu spüren.

Die Wirtschaft der Nachhaltigkeit verspricht derzeit die einzige Alternative zu sein. Dann aber: Wie setzen sich Realwirtschaft, Nachhaltigkeit und Spekulationswirtschaft zueinander ins Verhältnis?

Ist die Realwirtschaft das Korrektiv, weil mittleres Maß in der Polarisierung von Nachhaltigkeit und Spekulationswirtschaft? Nein, in Anbetracht der Klimakatastrophe, vor allem aber in Anbetracht davon, wessen Kind die Spekulationswirtschaft ist, nämlich das der sogenannten Realwirtschaft, kann diese Form der Polarisierung und Verhältnisbildung nicht die richtige sein. Betrachtet werden muss, dass die Realwirtschaft die Spekulationswirtschaft erfunden bzw. gestärkt hat, und zwar gerade auch gegen das Prinzip der Nachhaltigkeitswirtschaft.

Die Nachhaltigkeit ist nicht ein falscher, weil realitätsferner Konservatismus, sondern das einzig zeitgemäße Maß der Realwirtschaft, wenn diese keine Spekulationswirtschaft bleiben soll. Sie steht für Beständigkeit und Weitsicht anstelle der bisherigen Kurzfristigkeit und Spaltung.

Einige Großkonzerne haben inzwischen ausgerufen, dass sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren wollen. Sie wollen lediglich einen Aufschub, stellen sich anscheinend nicht mehr grundsätzlich dagegen. Ist dies der Einsicht in den Unsinn der Spekulation zusammen mit dem der beständigen Konzernausweitung geschuldet? Jedoch in eindeutiger Weise für die umfassende Nachhaltigkeit einzustehen, das wäre heute die vordringliche Aufgabe der Politik, des Staats und der westlichen Welt.

Anmerkungen

[1] Luise Gubitzer: Was, wie, von wem, wann, wo? Zentrale Fragen einer feministischen Politischen Ökonomie, in: Birge Krondorfer u.a., Frauen und Politik. Nachrichten aus Demokratien, Wien 2008, 67-79.

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 26.11.2008

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Jutta sagt:

    endlich – aber!

    ich freue mich, dass es endlich Beiträge gibt aus feministischer Sicht zur Finanzkrise – und mit letztlich brauchbaren Ansätzen und Perspektiven: Nachhaltigkeit und Abschied von der Wachstumsideologie. Nur schade, dass teilweise die Sprache so abstrakt-theoretisch ist, dass ich eigentlich die Aussage nicht erkennen/verstehen konnte. Geht es nicht auch konkreter? was ist Geschlechtsspekulatismus? – positivismus? ein funktionalistisches und formalistisches Geschlechterpolitikkonzept ohne Transzendenz? usw. Schade!

  • Maria Wolf sagt:

    Artenvielfalt der Ökonomie ist kulturstiftend und ermöglicht uns zu handeln

    Die Finanzkrise zeigt, dass das Pferd, auf das gesetzt wurde, ein imaginäres ist – es wird den Karren nicht aus dem Dreck ziehen. Die “Lösung” der Finanzkrise, die der Staat bereithält, verleiht diesem Pferd Flügel, mit deren Hilfe es erneut abhebt in die Welt der Illusionen, um weiterhin das zu kultivieren, was mit unserem Leben eher wenig zu tun hat. Wollen wir das? Brauchen wir das beflügelte Pferd? Denn es ist unser Geld, das dem Pferd die Flügel finanziert. Sinnvoller wäre es, die im Schatten des Pegasus aber nichtsdestotrotz real existierenden Räume der verschiedenen wirtschaftlichen Aktivitäten, die „Artenvielfalt der Ökonomie“, wie Andrea Günter schreibt, zu sichern und auszubauen.
    Kurzzeitig hat diese Krise ja auch Möglichkeiten aufgedeckt, die in den “Steuern der BürgerInnen” stecken. Zuerst habe ich das Argument im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen gehört: Wenn der Staat Milliarden bereitstellt um die Banken zu retten, dann muss er doch auch ein Grundeinkommen finanzieren können – ganz zu schweigen von Bildung, Pflege, Umwelt, …
    Wirtschaft reguliert sich durch Angebot und Nachfrage: Real nachgefragt in jedem Haushalt, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, wird Bildung, Pflege, Umwelt. Der Umgang mit dieser Realität ist meiner Meinung nach kulturstiftend. Doch wie hartnäckig fragen wir das nach, was uns wichtig ist? Und wie investieren wir in das, was wir nachfragen bzw. wie können die NachfragerInnen den Staat dazu bringen, Finanzen und auch Spekulation mit den von ihnen nachgefragten Gütern zu verbinden? Was könnte werden, wenn wir unser Geld z. B. in Theater, Bibliotheken, öffentliche Räume, Nahverkehr usw. stecken. Es müsste ja nicht gleich in „Theaterzwang“ wie bei Karl Valentin ausarten …
    Spekulation ist positiv, macht den Blick weit und richtet ihn in die Ferne. Aber Spekulation ohne Bodenhaftung entführt in die Welt der Mythen und macht uns letztlich handlungsunfähig.

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