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Schienbein einer Heiligen

Von Antje Schrupp


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Sylvie Weil hatte, kaum dass sie geboren war, eine schwere Bürde zu tragen: 1942 kam sie in New York zur Welt, als Tochter französischer Eltern und Großeltern jüdischer Herkunft auf der Flucht vor den Nazis. Und als Nichte einer radikalen Philosophin, die so unbedingt mitten im schrecklichen Geschehen sein wollte, dass sie es im sicheren Amerika nicht aushielt und nur auf die nächstbeste Gelegenheit wartete, nach Europa zurückzukehren. Die in der Zwischenzeit die kleine Sylvie fütterte und einen mysteriösen „Zauber“ über das Baby aussprach. Und das Kind mit dem unmöglichen Auftrag versah, von nun an (nämlich an ihrer Stelle) der „Trost“ der Familie zu sein.

Ein Jahr später war Simone Weil tot, an Schwäche, an Tuberkulose, an Selbstkasteiung oder irgendeinem mysteriösen und nicht aufzuklärenden Grund gestorben. Mit 34 Jahren. Simones Eltern (und Sylvies Großeltern) haben diesen Tod nie verwunden, die Familie Weil zerstritt sich. Und die kleine, später große Sylvie versuchte tapfer, der Trost aller zu sein. Ihre gesamte Kindheit und Jugend verbrachte sie im Schatten der verehrten Tante, jener fernen „Heiligen“, die sie nie kennen gelernt hatte, deren Fotos aber überall herumstanden und der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.

Ihre Erinnerungen an diese Zeit, an die Legenden und Erzählungen, die bei den Weils über die berühmte, verehrte, betrauerte, unvergessene Simone kursierten, hat Sylvie Weil jetzt zu einem Buch verarbeitet. Ihr gelingt dabei ein Kunststück: Weder hält sie mit Kritik an ihrer Tante hinterm Berg, deren Askese, deren fast schon irrationale Ablehnung alles Jüdischen, deren Körperfeindlichkeit und Weltfremdheit sie ablehnt, noch zieht sie sich aber auf eine ärgerliche, verbitterte und negative Position zurück. Ihre Erinnerungen sind geprägt von liebevoller Zuneigung, Verstehenwollen, und an den ganz schweren Stellen von ironischem Humor.

Da wären etwa diese amüsanten Geschichten, wie jene über ein Treffen mit einer amerikanischen Romanautorin, mit der sich Sylvie Weil, die ja selbst Wissenschaftlerin und Autorin ist, zum Essen verabredet hatte. Es war ein wirklich gutes Gespräch – bis die Romanautorin herausfindet, dass sie Simone Weils Nichte ist und daraufhin in heiliges Erschüttern versinkt. Während geichzeitig ihr Interesse an der Person Sylvie Weil schlagartig erlischt.

Sie sei zeitlebens das „Schienbein der Heiligen“ gewesen, beschreibt Sylvie Weil diesen Zustand, ein lebendes Artefakt, Repräsentantin einer anderen. Ständig mit einer toten Tante verglichen zu werden und nie an sie heranzureichen – im Urteil der anderen und irgendwann auch im eigenen. Als Sylvie Weil im Nachkriegsfrankreich einen wichtigen Schulwettbewerb gewinnt, übergibt ihr Charles de Gaulle persönlich den Preis. Statt der Schülerin zu ihrer Leistung zu gratulieren, sagt der General und Staatschef beim Händeschütteln, wie sehr er ihre Tante bewundere (nur posthum natürlich, zu ihren Lebzeiten hatte de Gaulle Simone Weil eher für leicht wahnsinnig gehalten).

Interessant sind auch die Teile des Buchs, in denen Sylvie ihren Vater beschreibt, André Weil, aus dem ein weltberühmter Mathematiker wurde, und der in seiner Jugend quasi denkerischer Sparringpartner seiner drei Jahre jüngeren Schwester war. Als erwachsener Mann und Vater schaffte er es, glaubt man den Schilderungen seiner ältesten Tochter, in ungeahnte Höhen von weltabgewandter Arroganz vorzudringen. Zum Beispiel merkte er sich nicht, wo die Zuckerdose stand, und beanspruchte deshalb jedes Mal die Assistenz von Frau oder Töchtern, wenn er etwas süßen wollte. Er rechtfertigte das offenbar ganz ohne Ironie damit, dass in seinem Gehirn kein Platz für solche Nebensächlichkeiten sei. Und wer würde nicht mitfühlen mit einer Zwölfjährigen, die Angst vor gemeinsamen Spaziergängen mit ihrem Vater hat, weil sie befürchtet, dass ihr nichts Geistreiches zu seiner Unterhaltung einfällt und sie eventuell Dinge sagen könnte, die ihn langweilen?

Andrés Haltung steht dabei weniger für patriarchale Konventionen. Es geht ihm nicht um den Status des männlichen Familienoberhauptes. Sondern er ist wirklich von der Notwendigkeit überzeugt, alle Kapazitäten für die Mathematik freihalten zu müssen. Zuckerdosen finden kann jeder, die neue Formel findet nur er, und das ist ein Argument, das sich in der Tat nicht widerlegen lässt. Das Selbstbewusstsein der Weil-Geschwister muss außerordentlich gewesen sein. Man sieht fast Simone und ihre hartnäckigen Marotten vor sich, die auf Außenstehende ebenfalls leicht lächerlich wirkten. Und genauso wie Andrés Arroganz hatte auch Simones Demut immer einen Einschlag von Größenwahnsinn. Als ob die Welt davon abhinge, dass sie auf dem Fußboden schläft und nicht in dem Bett, das die Gastgeber ja eigens für sie hergerichtet hatten.

Immerhin habe ich an der Episode von André und der Zuckerdose verstanden (oder bilde es mir ein), warum Simone Weil von ihrer Mutter so leicht getäuscht werden konnte, wenn diese der Tochter zum Beispiel bestes Rinderfilet servierte und behauptete, es sei billiges Restefleisch, oder wenn sie Birnen aus dem Delikatessengeschäft mitbrachte (Simone aß nämlich kein Obst, das auch nur ein bisschen angedetscht war), aber erklärte, sie habe es vom Billigmarkt um die Ecke. Nach herkömmlicher Ansicht belegen diese Anekdoten, wie „weltfremd“ Simone gewesen sei, aber mich hat das nie überzeugt. So weltfremd kann doch niemand sein. Jetzt denke ich, sie hat dem Fleisch oder den Birnen ganz einfach nicht mal das allerkleinste Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet. So wenig wie André dem Standort der Zuckerdose. Für Nebensächlichkeiten stellten die Weil-Geschwister einfach keine Gehirnkapazitäten zur Verfügung.

Mit viel Liebe, aber gleichzeitig kritischer Distanz schreibt Sylvie Weil schließlich über ihre Großeltern, Selma und Bernard Weil, in deren Obhut sie teilweise aufgewachsen ist. In deren Schränken sie Briefe fand, die Simone aus London geschrieben hatte und die Anweisungen für Sylvies Erziehung enthielten, wie etwa die, dass man sie doch unbedingt katholisch taufen solle. Allerdings nicht, wie man annehmen könnte, weil Simone im Laufe ihrer philosophischen Überlegungen zu dem Schluss gekommen war, im katholischen Glauben liege die meiste Wahrheit, sondern weil sie der Ansicht war, als Katholikin hätte Sylvie die besten Chancen und Wahlmöglichkeiten im Bezug auf künftige Ehemänner.

Ohnehin gibt das Buch auch Hinweise auf die Natur von Simone Weils merkwürdiges Verhältnis zu ihrer Weiblichkeit. Sie verstand sich selbst als gewissermaßen „männlich“ (und unterschrieb etwa Briefe an ihre Mutter mit „Dein Sohn“), aber nicht in einer anpasserischen Art und Weise. Sie bewunderte Männlichkeit nicht, sie sah nur, dass sie damit mehr Möglichkeiten hatte. Anders als etwa Simone de Beauvoir hatte Simone Weil überhaupt keine Abneigung gegen sich „weiblich“ gebende Frauen – es war nur einfach nicht ihre Sache. So sei sie mit ihrer Schwägerin, Sylvies Mutter, gut ausgekommen, obwohl Evelyne Weil „typisch weiblich“ gewesen sei und zum Beispiel auf schöne Kleidung Wert legte und fraglos die ihr zugewiesene Famlienrolle übernahm. Simone Weil verurteilte sie deshalb nicht, sie mochte Frauen, auch „weibliche“ Frauen, glaubte aber, selbst jenseits dieser Kategorien zu stehen.

Ihre Nichte Sylvie hat dann im Übrigen jemanden geheiratet, den Simone für völlig abwegig gehalten hätte: einen Mann aus einer streng orthodoxen jüdischen Familie. Die Auseinandersetzung über die ablehnende Haltung ihrer Tante zum Judentum ist Sylvie ohnehin am Wichtigsten, ihr widmet sie viel Platz in dem Buch. Woher kommt die große Abneigung von Simone gegen alles Jüdische? Warum hat sie, die in Tränen ausbrach, wenn sie in der Zeitung von einer Hungersnot in China las, keine einzige Zeile über das Leiden jüdischer Kinder in deutschen Konzentrationslagern geschrieben?

Sylvie Weil hält die in vielen Biografien gängige Erklärung, Simone habe als Kind und Jugendliche keinerlei Bezug zu ihrer jüdischen Herkunft gehabt, oder sie sei von der Überfrömmigkeit ihrer einen Großmutter traumatisiert worden, für falsch. Sie weist nach, dass beide Großeltern von André und Simone praktizierende Juden waren und gleichzeitig liberal, aufgeklärt, intellektuell. Mit viel Fleißarbeit hat sie die jüdischen Wurzeln der Familie ausgegraben. Sie zeichnet die Genealogie beider Seiten, die sich über ganz Europa erstreckt, über mehrere Generationen nach – und in der Tat wäre das Stoff für einen Roman. Sylvie Weil ist jedenfalls der Ansicht, dass vieles an Simones Handeln und Denken zumindest auch Wurzeln in genau jener jüdischen Tradition hatte.

Sie hat mit diesen Erinnerungen ein interessantes, literarisches und unterhaltsames Buch vorgelegt, das in vielerlei Hinsicht empfehlenswert ist. Wer sich für Simone Weil interessiert, findet hier Neuigkeiten und Informationen. Wer sich für Simone Weil bisher nicht interessierte, wird neugierig auf sie. Und auch für alle, denen Simone Weil völlig egal ist, kann das Buch interessant sein: Als Beispiel für eine intelligente, gleichzeitig liebevolle wie kritische Aufarbeitung einer problematischen Kindheit und Familiengeschichte. Und für eine respektvolle und zugewandte Auseinandersetzung mit einer Frau, deren Ansichten und Entscheidungen man zwar über weite Strecken falsch findet, die man aber dennoch ernst nimmt und in gewisser Weise auch bewundert.

Sylvie Weil: André und Simone. Die Familie Weil. Leipziger Universitätsverlag, 2010, 223 Seiten, 22 Euro.

Autorin: Antje Schrupp
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 15.01.2011
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