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Märchenhafte Theologie

Von Andrea Günter

Das Märchenhafte und das Transzendente

Rosenblätter

Foto: Andrea Günter

Theologische Texte und Märchen, was können diese beiden doch so unterschiedlichen Erzähltraditionen an Gemeinsamkeiten haben? Als Schnittmenge legt sich die Vorstellung nahe, dass auch in Märchen Momente von Transzendenz aufscheinen, ihre Figuren Göttliches repräsentieren, ihre Bilder eine spirituelle Kraft entfalten können. Was wiederum die Theologie betrifft, so handelt es sich nicht nur bei der Bibel um Texttraditionen, in denen viel erzählt wird und vielschichtige Sprachformen genutzt werden, um Transzendentes auszusagen. Erzählen theologische Texte nunmehr auch Märchen?

Einen etwas anderen Weg, den Verschränkungen von theologischen und märchenhaften Erzählweisen nachzugehen, beschreitet die italienische Philosophin Luisa Muraro in ihrer Veröffentlichung „In Dio delle donne“ (Mailand 2003). Der Band wurde von Angelika Dickmann und Gisela Jürgens vorzüglich übersetzt, ist 2009 auf Deutsch bei Frank&Timme mit dem Titel „Der Gott der Frauen“ erschienen und wurde von Antje Schrupp für bzw-weiterdenken.de rezensiert.

Märchenhafte Theologie, so lautet der Titel einer der Beiträge aus Muraros Band. Er erläutert exemplarisch ihren Ansatz, mittelalterliche Aussagen von Frauen poetologisch, also entlang ihrer literarischen Darstellungsweisen einzuordnen. Das, was sie formulieren, muss zunächst allgemein als eine literarische Ausdrucksweise verstanden werden. Und als literarisch-poetisch kann auch die Glaubenspraxis verstanden werden, die in solchen Texten zur Sprache kommt.

Worum Muraro die Poetologie solcher Texte hervorhebt? Viele mittelalterliche Texte von Frauen waren dem Verdacht der Häresie ausgesetzt: sie würden einen Irrglauben verkünden und Ketzerei gegen den richtigen Glauben betreiben. Was sie sagten, passte nicht ins Schema dessen, wie Theologisches aufzutreten habe. Muraro findet allerdings genau in der fehlenden Passgenauigkeit das besondere Moment dieser Texte. Sie nennt dieses Moment „märchenhaft“ und setzt ihre Klassifikation dem Urteil „häretisch“ entgegen. Das Wort für „märchenhaft“ heißt im Italienischen „favoloso“, in ihm ist noch das Fabulieren erkennbar, was das Erzählen als munteres drauf Losreden und Schwindeln charakterisiert. Munteres Erzählen konnte lebensgefährlich sein, Ketzerinnen wurden verbrannt.

Häretisches sei als eine märchenhafte Theologie einzuordnen, schlägt die Philosophin vor. Sie sieht in Märchenhaftem Erzählmomente, die es vermögen, Nicht-Reales zu erzählen. Anhand von Märchenhaftem lässt sich eine Poetologie dessen entwickeln, wie mithilfe des Erzählens vielfältige Darstellungs- und Erzählmöglichkeiten dem Nicht-Realen, der „absoluten Zeit eines neuen Anderen“ ein Raum in der Sprache eröffnet werden kann.(67) Im Märchenhaften kann das Nahen von Anderem ausgedrückt, dem Geschichtlichen Nicht-Geschichtliches entgegengesetzt werden. Muraro behandelt „Häretisches“ als Erzählweise des Märchens, als eine poetische, poietische, autopoietische Praxis.

Deutlich wird, Muraro geht es mit der märchenhaften Theologie nicht um die Interpretation von Märchen. Im Gegenteil, ihr geht es um die Neubewertung sogenannter häretischer Schriften oder Aussagen von Frauen. Und diese Neubewertung macht sie nicht, indem sie deren theologische Inhalte diskutiert, sondern indem sie vermeintlich häretische Aussagen als Erzähl- und Ausdrucksweise gewichtet, ihre sprachkreative, poetologische Bedeutsamkeit hervorhebt.

Die Weite des Poetischen

Märchenhaftes erzählt Nicht-Reales, will Nicht-Reales erzählen. Diese einfache Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, verhindert es, das märchenhaft Erzählte mit der Realität zu verwechseln. Die spezielle Beziehung eines Erzählten zur Realität, also auch zu der Realität, die die Theologie zu benennen versucht, wäre erst zu gewinnen. Wird etwas als märchenhaft qualifiziert, wird gerade markiert, dass es sich nicht um die Darstellung von etwas Realem, sondern geradewegs um den Versuch handelt, Nicht-Reales auszusagen und dabei nicht den Verdacht zu erwecken, dass das Gesagte ein Reales repräsentiert.

Welche Relevanz ein solcher Ansatz hat, wird deutlich, wenn wir das Forschungsprofil der Philosophin zur Kenntnis nehmen. Luisa Muraro war bis zur ihrer Emeritierung Professorin für Sprachphilosophie an der Universität von Verona. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Erkundung von rhetorischen Figuren wie die Allegorie, die Metapher und Metonymie zusammen mit Bedeutungsbildungsprozessen, verstanden als Symbolisches. Mit ihren Arbeiten reiht sich die Sprachphilosophin in die postmoderne Konturierung von Sprache an der Schnittstelle von psychoanalytischen und philosophischen Diskursen ein. Mit „Der Gott der Frauen“ kommt zu diesem Komplex nun das Moment hinzu, das „Märchenhafte“ und „Fabulieren“ als eine eigenständige poetische Figuration herauszustellen.

Ein weiterer von Muraros Forschungsschwerpunkten ist die Mystik, insbesondere die Frauenmystik im romanischen Raum. Beispielhaft untersucht Muraro „Häresien“ ebenso wie Hexenprozesse gerade auch auf deren sprachkonzeptionell-sprachpolitischen Gehalt. Als erstes wurde ihre historische Rekonstruktion „Vilemína und Mayfreda. Die Geschichte einer feministischen Häresie“ ins Deutsche übersetzt (Kore Verlag: Freiburg 1987). Häresie und das „Märchenhafte“, da gibt es für Muraro einen gemeinsamen, die westliche Kultur unbewusst strukturierenden Nenner.

Muraro zählt zu den nicht-theologischen Wissenschaftlerinnen im italienischen und spanisch-sprachigen Raum, die die Schriften von Frauen im Mittelalter untersuchen.  Sie gehört zu denjenigen Wissenschaftlerinnen, die, da zu mittelalterlichen Zeiten alles Theologie war, gerade nicht von Theologinnen oder Gotteslehrerinnen, sondern von den Autorinnen oder Schriftstellerinnen des 13., 14., 15. Jahrhunderts sprechen, um auf die Vielfältigkeit der Schreibweisen, Perspektiven und Diskurse aufmerksam zu machen, die die Frauen eingebracht haben und nach wie vor einbringen.

Mit der nicht zwangsläufig theologisierenden Kategorisierung „Schriftstellerin“ theologisch markierter Schriften wollen Wissenschaftlerinnen die Zonen der Darstellungs- und Sprechweisen erschließen, die sich Frauen immer wieder anzueignen, zu durchschreiten und zu öffnen wussten. Der begrenzende Charakter von als Theologie anerkannten Diskursen soll erkennbar werden. Scheinbar theologische Diskurse wiederum können sich zugleich als säkular erweisen, weil sie theologischen Konventionen folgen. Säkular poetische, dann auch als häretisch verurteilte Diskurse wiederum können von Spirituellem, Religiösem, Theologischem sprechen, weil sie theologischen Konventionen gerade nicht entsprechen.

Konventionalismus und das Nicht-Reale

Aufgrund solcher Überlegungen besteht der Ansatz Muraros nicht darin, in bekannten und weniger bekannten Märchen Momente von Transzendenz aufzusuchen. Im Gegenteil, mit ihrem Ansatz wendet sich Muraro gegen vorgegebene Wertungen dessen, was theologisch sei und was nicht, was häretisch sei und was nicht. Damit schreibt sie gegen ein unsere Kultur- und Religionsgeschichte maßgeblich prägendes Wertungsmuster an.

Denn das Fiktionale, Poetische, gar Märchenhafte hatte sowohl bei Philosophen als auch bei Theologen über die Jahrtausende keinen guten Ruf. Schon Platon lehnte in seiner Politeia das Romanhafte ab, insofern es lüge, falsche Vorbilder verbreite. Romanhaftes hintertreibe die komplexe und komplizierte Beziehung zwischen Realem, Begehren, Vermittlungen und Sprechen. Wird es als Abbild der Realität begriffen, verzweckt es zum belanglosen positivistischen Material. Folglich wird es entpolitisiert.

Als Folge von Platons Kritik pflegten einige oftmals eine Abbildbeziehung zwischen Ideen/Worten und dem Realen zu favorisieren, seine Kritik wurde banalisiert. Auch Theologen verschaffte diese Banalisierung Pläsir, Muraro verweist auf Augustinus.

Eine derartige Banalisierung des Verhältnisses von Realem, Begehren, Ausdrucksweisen und Vermittlungen prägt wesentlich auch den Umgang mit der Welt von Vorstellungen und Wünschen insbesondere in religiösen Kontexten. Dies zeigen auf extreme Weise Hexenprozesse an. Hexenprozesse zeigen, dass Gott von Menschen zum Garant des Ursprungs des Realen, zum Wächter des Sinns der Realität erhoben wurde.(S. 73) Denn Gewünschtes, Phantasiertes, das, was als Jenseits zum Realen verstanden wurde, konnte abgelehnt werden, wenn es in Ausdruckweisen zur Sprache gebracht wurde, die nicht den Konventionen entsprachen. Wenn Nicht-Reales in anderen (religiösen) Zeremonien und Erzählungen als in konventionellem (religiösem) Habit(us) auszudrücken versucht wird, wird es aus Gründen des konventionell gewohnten Glaubens abgelehnt. Es bekommt den Stempel der Häresie, während es per Gewohnheit festgelegt ist, wie Glaube und Glaubensaussagen Realität stiften.

Menschen werden als Hexen verbrannt, weil die Grenzen zwischen der äußeren Wirklichkeit und der der Wünsche und Vorstellungen zu eng, regelrecht falsch gezogen wird, greift Muraro die These von Julio Caro Baroja (Fn. 13, S. 71) auf. Damit werde nur die eine Seite, die des (zuvor anerkannten) Realen gutgeheißen. Nur dieses scheint das Richtige und Wahre zu transportieren. Infolgedessen ist anderes als Nicht-Reales zu verurteilen. Wünsche, das Bedürfnis nach Transzendenz kann dabei allerdings keinen Platz finden.

Poietisches vor einem solchen Hintergrund mit Realem abgeglichen, wird infolge der konventionalisierten Bestimmung des Realen bzw. des Verhältnisses zwischen Sprachlichkeit und Realem lügenhaft, sagt Irrglauben aus. Es wird als Irreales verteufelt und verb(r)annt. Einerseits ist damit, wie gesagt, das Verständnis des Realen eingeschränkt. Andererseits wird das Potential des Poetischen, Nicht-Reales gerade aussagen zu wollen, zusammen mit dem Nicht-Realen missachtet.

Die Berührung zwischen Realem und Nicht-Realem erzählen

Eine märchenhafte Rede über den Zusammenhang von Realem und Nicht-Realem beginnt für Muraro damit nicht mit den Nacherzählungen der Märchen der Gebrüder Grimm und anderen. Es beginnt vielmehr mit Erzählungen über die möglichen Berührungen der realen und der nicht-realen Seite menschlicher Wirklichkeit. Davon wiederum wird gerade auch in Märchen erzählt. Die sinnträchtigen Berührungen dieser Seiten münden in die Erzählung eines Märchens: in die Erzählung von einem erzählten und auf diese Weise realen, letztlich „poetischen“ Erkundungsraum für absolut(es) anderes und ferner für die Berührung von Realem und diesem absolut(en) anderen.

Die Spuren, die Muraro von solchen Darstellungsversuchen findet, sind vielfältig. Quellen mit italienischen „Erzählungen“ aus dem 14. und 15. Jahrhundert von „häretischen“, vorwiegend spirituell sich artikulierenden Frauen über ihre Praxis, Nicht-Christliches, tradiertes Christliches und postkonventionelles Christliches zu verbinden, lassen sich als „Synkretismus“ verstehen: als sprechende Kontextualisierungen von neuen christlichen Gedanken und überlieferten Traditionen entlang der Wünsche und religiösen Bedürfnisse.

Neben die rhetorische Analyse von den Reaktionen der Inquisitoren auf solche „Synkretismen“ stellt Muraro beispielhaft ihre Rekonstruktion von Augustinus berühmten Leitsatz „uti ut frui“ („nutze, um zu genießen“). Dieser Leitsatz vermag auf einmal eine autopoietische Dimension des Spirituellen anzunehmen. Er kann als Einladung gelten, alle möglichen Erfahrungsweisen des menschlichen Lebens als po(i)etische aufzugreifen. Wie Muraro exemplarisch ausführt, haben viele mittelalterliche Autorinnen diese Einladung angenommen.

Aber auch im dichterischen Umgang mit den Erfahrungen des Notwendigen vermag sich das Religiöse wesentlich herauszubilden. Muraro nennt diesen Zustand in ihrer Einleitung auch „sich in den Ferien von den Notwendigkeiten der Welt“ – wohl auch der welthaften Theologien – zu befinden, um mit dem freien Sinn der eigenen Existenz in Berührung zu kommen. Für Muraro bestehen diese Ferien in einem Zwischenstopp, der gerade auch Frauen zusteht.

„Der Gott der Frauen“ nennt Muraro ihre Schrift. Die Philosophin macht sich immer wieder als eine feministische Denkerin kenntlich. Dabei hat sie nie den Positivismus in der Rede von der Weiblichkeit Gottes bedient, da dieser eine Abbildbeziehung zwischen Worten wie „Frau“, „weiblich“ und Realem behauptet, die Gottesrede entsprechend frauenpolitisch bzw. die Frauenrede theologisch funktionalisiert.

Muraro sucht hingegen Möglichkeiten des Übergangs in ein anderes auf, die jedes simplifizierende und vereindeutigende Verständnis des Realen und folglich des Zusammenhangs eines Worts – „Frau“, „weiblich“ – und eines festgefügten Realen hintertreibt, sei es letztlich auch durch ein vereindeutigendes Realitum „Gott“. Die Würdigung der vielfältigen poetischen Möglichkeiten von Sinngebungsprozessen hingegen kann es anhaltend ermöglichen, das, was als real gilt, nicht einzuschränken, sondern es immer wieder zu transzendieren. Indem Muraro für die vielfältigen und unterschiedlichen Beziehungen von Frauen zu Gott und zu Transzendentem durch die Jahrhunderte hindurch sensibilisiert, öffnet sie den Raum der Gotteserfahrungen und -reden. Sie literarisiert diesen Raum, was dazu führt, dass er offen gehalten werden kann: ein Raum für eine Praxis des vielleicht oftmals nur vordergründigen theologischen, vor allem Realitätskonzepte transformierenden Sprechens, für ein Sprechen, das wir heute Autopoiesis nennen können, und dem manches Mal durchaus auch eine religiöse Komponente innezuwohnen vermag – ohne dass solches ableitbar wäre.

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Christel Göttert Juliane Brumberg
Eingestellt am: 10.11.2011
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • gabi Bock sagt:

    Vielen Dank, gut – ein bisschen zu lang – besprochen, habe als ev frau der feminsitischen Theologie schon gleich verstanden, was Muraro meint: ein gewisses Verstecken des scharfen Verstandes….und in märchenhaften Bildern reden….zu der Zeit lebensnotwendig, nicht mehr heute…Göttin sei Dank und Euch auch.
    Viele Grüße. Gabi Bock
    (im Moment in Padua, wir schreiben kurze, deutsche Märchen für den Unterricht!)

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