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Pietistisches Erbe neu anschauen und bei sich selbst fundamentalistischen Tendenzen bewusst entgegenarbeiten

Von Claudia Koltzenburg

Welche Rolle spielt Pietismus in Kultur und Gesellschaft in Deutschland heute? Dorothee Markert hat sich selbst und sechzehn andere Erwachsene befragt, die überwiegend in Württemberg in einem pietistischen Umfeld aufgewachsen sind. Sie findet Gemeinsamkeiten und macht Vorschläge, wie fundamentalistischen Tendenzen heute entgegengewirkt werden könnte.

Es zeige sich in den Fragebogeninterviews eine große Vielfalt an Erfahrungen, so  Dorothee Markert, die die Biografien jeweils auf etwa einer Seite zusammenfasst. Es gebe aber auffällige Gemeinsamkeiten: eine Sehnsucht nach Gemeinschaft oder eine „Gottessehnsucht“, dazu bei den meisten ein großes Engagement, sei es kirchlich, sozial oder politisch, und drittens eine Zurückhaltung und Unsicherheit in der Frage der Weitergabe der selbst erfahrenen religiösen Beeinflussung an die eigenen Kinder (S. 33).

Lebenslänglich besser

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Über die Autorin selbst ist zu erfahren, dass sie 1950 geboren wurde, Pädagogik studiert hat, als freie Autorin und Lerntherapeutin arbeitet und in der Nähe von Freiburg im Breisgau lebt. Dorothee Markert erzählt über sich, dass sie in ihrer Jugend viele Freundinnen mit pietistischem Hintergrund hatte, von denen sie die erste mit 14 Jahren bei den evangelischen Pfadfinderinnen kennenlernte (S. 31). Tisch- und Abendgebet kannte sie von ihrer eigenen Mutter, ihre Eltern beschreibt sie als „normale Sonntagskirchgänger“ (S. 32). Das Fazit zu ihrer eigenen Biografie fasst sie folgendermaßen: „Offensichtlich genügte für pietistische Beeinflussung eine normale bürgerliche Erziehung in einem pietistisch geprägten Umfeld. Auf fruchtbaren Boden fielen dann bei mir die Enge und Strenge der dogmatischen maoistischen Linken, in der ich nochmals neu und viel umfassender verzichten und unermüdlich für eine bessere Welt arbeiten lernte. Hier lernte ich auch, andere zu verurteilen, die das nicht taten und sich harmlose Vergnügen gönnten“ (S. 32/33). Ihre Überlegungen zu den eigenen Erfahrungen während der Studentenbewegung (ab S. 182) und zum Verhältnis der Geschlechter sind vermutlich nicht nur für Leser*nnen der älteren Generationen von großem Interesse.

Im zweiten Teil des Buches zeichnet die Autorin historische Linien des vielfältigen pietistischen Erbes nach, ein Erbe, das sie als zwiespältig ansieht und ausführlich beschreibt. Viele Zusammenhänge mit der heutigen Situation können so verständlich werden.

Am meisten beeindruckt hat mich der Schlussteil des Buches, die „Vorschläge für den Weg zurück in die ganze Welt“ (ab S. 187). Dorothee Markert fragt darin sich und uns: „Wie können wir fundamentalistischen Tendenzen bei uns und in unserer Umgebung entgegenarbeiten? Wie können wir uns aus dem Eingebundensein in eine der Fronten befreien, die die Welt in gegensätzliche „Wege“ aufspaltet?“ Hier meint sie den „breiten und den schmalen Weg“ aus der Tradition des Pietismus. Weiter fragt Dorothee Markert: „Wie können wir überhaupt erkennen, wo wir in solche Fronten eingebunden sind?“ Und nicht zuletzt: „Wie bekommen wir wieder Zugang zum ursprünglichen Reichtum sozialer und religiöser Bewegungen wie dem Pietismus, der Aufklärung, der sozialistischen Bewegung und der Frauenbewegung?“

Dafür schlägt Dorothee Markert drei Ansatzpunkte vor, die beachtenswert sind. Erstens, Kontakt aufzunehmen mit Menschen, die „anders“ sind, und über konkrete Situationen in Bezug auf eigene Visionen, Sehnsüchte und Herzenswünsche miteinander zu sprechen. Als zweiten Aspekt schildert die Autorin ein Verfahren, das sie von der italienischen Philosophin Luisa Muraro gelernt hat: „Die Kunst, Maschen aufzuziehen“, das sei ein Vorgang zwischen dem Aufbewahren und dem Wegwerfen, zwischen dem Zerstören und dem Restaurieren. Und damit meint sie hier: „Wir dürfen und müssen einiges abbauen, um auf neue Ansätze zu stoßen, an denen wir heute vielleicht weiterbauen wollen“ (S. 189). Beim dritten Aspekt geht es um „Doppelsinnigkeit“. Hier nimmt Markert Bezug auf Simone de Beauvoir. Es ist der Hinweis darauf, dass eine fundamentalistische Haltung vermieden werden kann, indem man anerkennt, dass Handlungen und Meinungen eventuell mehr als eine Bedeutung haben. Es gebe nicht auf meiner Seite nur Positives, Gelungenes und auf der gegnerischen Seite nur Fehler und Scheitern, sondern beides auf beiden Seiten. Es sei zudem lohnend, sich bewusst zu machen, „dass der Sinn der Existenz niemals festliegt, dass er unaufhörlich gewonnen werden muss“ (Simone de Beauvoir).

Dorothee Markert hat aus meiner Sicht einen wesentlichen Beitrag zur allgemeinen Diskussion über Fundamentalismus verfasst. Ihr Schreibstil erscheint mir von einer Wahrhaftigkeit, die einer offenen Auseinandersetzung mit sich selbst förderlich sein kann. Ihren Vorschlägen dazu, wie fundamentalistischen Grundhaltungen nachhaltig zu entkommen ist, wünsche ich zum Wohle der Allgemeinheit eine große Bereitschaft, sie auszuprobieren – und natürlich breite Diskussion.

Dorothee Markert: Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe. Norderstedt: Books on Demand, 2010. 216 Seiten, 16,90 €. ISBN (EAN) 978-3-8391-9542-0.

Auf bzw-weiterdenken erschien von Juliane Brumberg bereits am 22.11.2010  eine weitere Rezension zu diesem Buch .

Autorin: Claudia Koltzenburg
Eingestellt am: 15.12.2011
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