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Rubrik denken, studieren

Geschlechterthemen – „Geschlecht“ und „Natur“

Von Andrea Günter

In der Rubrik studieren lädt Andrea Günter wieder ein, Theorien kennen und vertiefen zu lernen. Zum „Denken der Geschlechterdifferenz“ gibt es hier nun ihren zweiten Beitrag.

In der Einstiegssitzung des Seminars sollten die Studierenden verschiedene Themen und Aspekte sammeln, die Anlass für Geschlechterdiskussionen sind. Das hierbei genannte Spektrum reichte von der Problematik biologischer Erklärungsmuster, Fragen der Erziehung (insbesondere in der Schule), dem Einfluss von Religionen oder Mediendiskursen auf Geschlechterbilder, der politischen Konzeption von Quoten über die gerechte Entwicklung der Arbeitsteilung, den Umgang mit Geschlechterrollenvorgaben und -stereotypen bis hin zu der Frage danach, wie aus persönlichen Wünschen und Vorstellungen zu Geschlechterverhältnissen Chancen und Wirklichkeiten werden.

Von Frauen-Männer-Problematisierungen also bis hin zu gender-und-queer-Theoremen: Die Seminargruppe war für die gemeinsame Seminardiskussion theoretisch sehr heterogen aufgestellt. Dennoch, die meisten waren über das breite Spektrum erst einmal überrascht, das in dieser Sammlung zusammengetragen wurde.

Nach der Themensammlung bekamen die Studierenden die Möglichkeit, zwei der Themen auszuwählen und in Kleingruppen zu diskutieren. Die Entscheidung fiel auf „Die Bedeutung der Erziehung für Geschlechterverhältnisse“ und „Der Einfluss der Medien auf Geschlechterbilder“. Zu jeder Kleingruppe gab es zwei BeobachterInnen, die darauf achten sollten, welche Argumentationsmuster eingebracht werden. Über diese Muster sollte im anschließenden gemeinsamen Gruppengespräch dann nachgedacht werden.

Die BeobachterInnen haben das Folgende gespiegelt: Egal, um welches Thema oder um welche theoretische Vorentscheidung und vermeintliche Konzeptklarheit es sich  handelte, die Diskutierenden berufen sich in Problemklärungen und längeren Argumentationen relativ kunterbunt entweder auf „die Natur“ oder „die Sozialisierung“/„die Rolle“, auf „sex“ oder „gender“. Über das vertraute Argumentationsgewirr hinaus konnten sie feststellen, dass  sich die Sprechenden hierbei nicht einig werden konnten, was eigentlich womit gemeint und wie im Spiel ist.

Dies liegt daran, dass die gewohnte Unterscheidungspraxis bei den Fragen zu den Geschlechterverhältnissen häufig das Entweder-Oder beinhalten: entweder „Natur“ oder „Sozialisation“. Dieser Entweder-„Natur“-oder-„Sozialisation“-Dualismus wird aber sofort kompliziert, wenn eine Entscheidung nicht programmatisch für die eine oder die andere Seite fällt. Denn entscheiden wir uns klar dafür, eine Größe herauszustellen, z.B. zu untersuchen, wie die Sozialisation zur Erziehung beiträgt, erfahren wir zwar vieles über den Einfluss der Sozialisation auf Erziehung, nicht aber unbedingt etwas darüber, welche Größen und Kräfte überhaupt die Erziehung und ferner wie jene diese beeinflussen. Außerdem kann aus dem Blick geraten, dass es „die“ Sozialisation nicht gibt, dass Sozialisationsprozesse unterschiedliche Weisen und Größen für Erziehung mit sich bringen.

Oder aber für „Natur“ zeigt sich, dass sie einmal als Materialität (als Bedingung des Körpers) und dann als Kausalität (als natürliche Wirkweise) im Spiel ist. So kann eine natürliche und damit unveränderliche Kausalität und sogar Materialität angenommen werden (z.B. Pubertät: Kinder wachsen und spielen dabei ihren Hormonhaushalt neu ein), ohne dass klar sein muss, welche Identität daraus hervorgeht (wir wissen, dass es Pubertätskämpfe zwischen Erwachsenen und Jugendlichen geben kann, in denen u.a. Haltungen und Rollenerwartungen durchgearbeitet werden, ohne dass wir absehen können, was die Jugendlichen einmal für sich daraus ziehen werden.)

Werden beide Größen „Natur“ und „Sozialisation“ nun von einem Problemfeld her diskutiert, und dies dann auch noch in einer Gruppe, entsteht ein Feld von Differenzierungen mit Uneindeutigkeiten, die kaum aufgelöst werden können. Vorannahmen, die die Größen mit sich zu bringen scheinen, verlieren ihre Selbstverständlichkeit.

Die BeobachterInnen der Diskussion stellten hierzu fest: Sobald begonnen wird, sich mit gesellschaftspolitischen Fragen zu Geschlechterverhältnissen auseinanderzusetzen, hält keine/r die eigene theoretische Vorentscheidung tatsächlich durch. Wird aber die Beschränkung auf dieses Entweder-Oder aufgegeben, bildet die Unterscheidung zu hier „Natur“ und da „Sozialisation“ den Durchgang zu einem komplexen und mehrdeutigen Gebilde, das als solches konstatiert und dann auch ausdifferenziert werden kann.

Erfreulich war im Verlauf dieser Sitzung, dass die Studierenden mehr und mehr damit etwas anfangen konnten, der gewohnten Unterscheidungspraxis nicht auf den Leim zu gehen, sondern sie hingegen zu überschreiten. „Natur“ und „Sozialisation“ sind schon jeweils für sich komplexe und mehrdeutige Gebilde, von ihrer Kombination oder Unterscheidung ganz zu schweigen. Genau diese Beobachtung aber kann zu der Bereitschaft führen, diese Begriffe jeweils als Homonyme zu behandeln: also ein und dasselbe Wort („Natur“ oder „Sozialisation“ oder „Geschlecht“) hat verschiedene Bedeutungsebenen. Und wenn jeweils der Sinn für die unterschiedlichen Bedeutungsebenen dieser Begriffe entwickelt wird, können ganz unterschiedliche Akzente gesetzt und Argumentationen erarbeitet werden, die wiederum unterschiedliche Kombinationen der Zusammensetzung erlauben.

Eine solche Differenzierung erleichtert in der Analyse konkreter Geschlechterfragen. Wollen wir aber nur auf einen einfachen Nenner kommen, führt genau dies zu schwachen Erklärungen und einseitigen Handlungsoptionen. Das Bestreben zu vereinfachen, führt zu Kurzschlüssen, zu anhaltenden Selbstwidersprüchen, die dann mit der theoretischen Vorlage und weniger mit dem Phänomen zu tun haben. Akzeptieren wir jedoch, dass es gerade um komplexe Konstellationen und nicht um einfache Entweder-Oder-Nenner geht, trägt die erkenntnistheoretische Position, „Natur“ und „Sozialisation“ für komplexe Gebilde zu halten, zur Klärung bei. Sie führt jedenfalls aus den Engführungen heraus, die entstehen, wenn Theoreme in den Vordergrund gestellt werden, statt ein Problemfeld herauszuschälen.

Die Erfahrungen, die die BeobachterInnen zu den Diskussionen festhielten, wurden zum Ausgangspunkt dafür, sich mit den Grundworten der Geschlechterdiskussion, mit „Geschlecht“ ebenso wie mit „Natur“ jeweils eigenständig auseinanderzusetzen und sie als Homonyme zu betrachten.

Für beide Begriffe lässt sich festhalten: Ihre Bedeutungsdimension wird uneindeutig bzw. mehrdeutig in Anspruch genommen, ausgetauscht, identifiziert.

Eine erste Annäherung zur Homonymität der Worte „Natur“ bzw. „Geschlecht“ hat zu einer Unterscheidung der zunächst vorgestellten Bedeutungsebenen geführt. Um diese Begriffsdimensionen zu erweitern, werden danach in Form eines Anhangs I und II Bedeutungsebenen benannt, die zugleich die Etymologie der Worte transportiert.

1. Natur

  • Materialität, Faktum, Verhaltensmuster, Bedingung, Vorgabe (Körper, Substanz): was ist die Natur (von)?
  • Kausalitätsmuster, Wirkungszusammenhang, Begründungszusammenhang (Ursache): wie wirkt die Natur (von)?

2. Geschlecht

  • Geschlechtliches, Sexuelles, Fortpflanzung: Wirkungszusammenhang, Verhaltensmuster
  • Kategorisierung, Rolle, Identitätsmerkmal
  • Identifikationsangebot, Individuierungsgröße
Anhang 1: Etymologische Bestimmung „Natur“
  • Griechisch physis: Gewordensein, Natur; Naturanlage; natürliche Beschaffenheit, Eigenschaft; Körper(lich); angeborene Fähigkeit, Talent, Begabung; Naturordnung; der natürliche Vater; Naturkraft; das Gewordene, Geschöpf, Wesen; Kreatur; Gattung, Art;
  • phylo: Familie, Geschlecht, Stamm
  • phyō: werden; erzeugen, wachsen lassen, schaffen; eine Zunge bekommen, an Verstande zunehmen. Intr.: hervorgebracht, von Natur beschaffen sein, abstammen (Lat: fui, futurus (werden, in Zukunft sein…)
  • Latein natura: Geburt; Beschaffenheit, Wesen, Natur; Naturell, Charakter; Weltordnung (gr. kosmos; lat. mundus) Naturgesetz, Naturkraft; Weltall; Wesen, Ding, Stoff, Substanz
  • naturalis: natürlich, von Geburt an, naturrechtlich
  • natus: geboren, geschaffen, geeignet, bestimmt; geartet
  • nascor: geboren werden, entstammen; wachsen, heranwachsen, vorkommen; entstehen, entspringen
Anhang 2: Etymologische Bestimmung „Geschlecht“
  • althochdeutsch: gislahti: was in dieselbe Richtung schlägt
  • mittelhochdeutsch: geslahte, geslehte: Geschlecht, Stamm, Stammbaum, Abstammung, Herkunft, Spross, Sprössling“
  • Duden: Sinn- und sachverwandte Wörter (1972) Abkunft; Dynastie; Familie; Penis; das dritte Geschlecht; das schöne G: Frauen
  • -> Die Genealogie -> Die Fortpflanzung -> Das Sexualorgan -> Die Geschlechter

 

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 22.03.2012
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • claudia l. sagt:

    hallo andrea, ich möchte etwas zu der geschlechterdiskussion bemerken: beide geschlechter kommen aus der frau, die natur ist daraus nicht weg zudenken und nicht getrennt zu diskutieren. und aus dieser tatsache entwickelt sich auch kulur. nämlich mütterliches verhalten beider geschlechter, um das leben zu garantieren, und wie die aufgaben verteilt werden. das zeigen die verschiedenen fähigkeiten der einzelnen. gruss claudia

  • Danke für diesen Beitrag. Er ist anregend; allerdings wäre eine Ausdifferenzierung der Stichwortsammlungen zu Geschlecht und Natur hilfreich gewesen, weil die Diskussionsprozesse für jemand Außenstehenden nicht ohne Weiteres nachvollziehar sind.
    Herzlichen Gruß,
    Ch. Lehmann

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