beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik denken, studieren

Arbeiten mit den Ethikkonzepten zur Geschlechterdifferenz

Von Claudia Conrady

Die SeminarteilnehmerInnen von Andrea Günters Seminar hatten die Aufgabe, zu den einzelnen Seminarsitzungen Lerntagebücher zu schreiben. Damit konnten sie aufgreifen, diskutieren und entwickeln, was ihnen zur Sitzung am Herzen lag. Hierbei sind unter anderem Briefe an Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Stefan Goertz entstanden. Passend zu dem Themenschwerpunkt der Seminarberichte werden aus diesen Lerntagebüchern Texte ergänzt.

Da im letzten Seminarbericht der Gebrauch des Konzepts „Natur“ in ethischen Argumentationen diskutiert wurde, ist als Auseinandersetzung ein Brief darüber ausgewählt, was aus der Kritik an Naturargumentationen in der Ethik für Geschlechterfragen gelernt werden kann.

 

Sehr geehrter Herr Goertz,

die Argumentation in ihrem Aufsatz „Das Gut des natürlichen Sterbens“[1] hat mich sehr zum Nachdenken angeregt. Mich hat besonders beschäftigt, wie Sie über die Verwendung des Begriffs „natürlicher Tod“ gesprochen haben. Denn wenn es um Geschlechterfragen geht, spielt in meinen Augen die Auffassung des Begriffs „Natur“ und der Umgang mit diesem Konzept eine zentrale Rolle. Ähnliche Argumentationsprobleme wie Sie im Fall der Sterbehilfe aufzeigen, treten im Zusammenhang mit anderen Grundfragen der Geschlechterproblematik auf. Sind wir dazu verpflichtet uns unserer „geschlechtlichen Natur“ entsprechend zu verhalten, zu denken, zu leben? Woraus leitet sich diese Pflicht ab? Können die Kategorien „Mann“, „Frau“ und „Natur“ überhaupt an und für sich festgelegt werden? Mit meinem Brief will ich deshalb aufzeigen, wie diese Fragen, die Sie und mich in unterschiedlichen Bereichen beschäftigen, in der Argumentationsstruktur zusammenhängen. Dabei sollte klar werden, dass das Wesentliche genau die Art, wie  ethisch argumentiert wird, ist und den Blick auf die Geschlechter- und die Sterbehilfedebatte gleichermaßen beeinflusst.

Ich stimme Ihnen zu, dass eine kontextunabhängige Entscheidung für oder gegen aktive Sterbehilfe unmöglich ist, da es für dieses moralische Dilemma keine „an und für sich“ gültige Entscheidung gibt. Im Gegenteil, viel wichtiger als die „Pflicht zu leben“ schätze ich die „Freiheit zu leben und selbstbestimmt zu handeln“ ein. Dass in dieser Freiheit eine individuelle, aber nicht alleinverantwortliche Antwort auf die Frage nach dem Tod gefunden werden muss, ist klar.

Besonders im Zusammenhang mit dem Thema Tod fällt mir auf, dass gerade bei diesem Tabu der Wunsch nach einem allgemeingültigen Handlungsleitfaden groß ist. Selten wird über das Sterben, Sterben lassen und Sterben wollen in der Öffentlichkeit geredet. Mir selbst wird diese Unfähigkeit über Tod und Sterben zu reden im Angesicht eines Sterbefalls oder eines beginnenden Sterbens oft bewusst. Wir sind ständig mit dem Thema konfrontiert, aber wir haben nicht gelernt, darüber zu kommunizieren. Besonders nicht über unsere Ängste, Wünsche und Vorstellungen bezogen auf unser eigenes Sterben. Seit der Patientenverfügung machen wir uns vielleicht etwas mehr Gedanken, aber zu einer echten Kommunikation oder gar Diskussion kommt es oft nicht. Wir sind unfähig uns darüber auszutauschen, gängige Praktiken anzuzweifeln oder zu bejahen ohne dabei in normative Aussagen zu verfallen. Die Güterethik, die Sie in Ihrem Text beschreiben, würde uns dazu zwingen abzuwägen, Verantwortung gegenüber uns selbst und den Folgen unseres Handelns zu übernehmen. Mit dem Verbot der Selbsttötung ist die Entscheidung schon aus unserer Hand genommen, Ethik angesichts der Frage nach aktiver Sterbehilfe wird sozusagen überflüssig. Wenn wir die Forderung nach einer Ethik der Freiheit allerdings ernst nehmen wollen, müssen wir bereit sein zu diskutieren. Mit Ärzten, Angehörigen, anderen Menschen in unserer Situation und das nicht erst, wenn eine Entscheidung unmittelbar bevorsteht.

Eine ähnliche fehlende Diskussionskultur findet sich in unserer Gesellschaft zu vielen Tabuthemen. Gerade die Geschlechterfrage ist ein solches Beispiel. Auch hier steht eine deontologische Ethik einer Güterethik gegenüber. Die eine argumentiert im Sinne der Pflicht oder des Zwangs. Als Frau oder Mann geboren zu sein, heißt automatisch die Pflichten des jeweiligen Geschlechts zu erben. Die Handlungsmuster und Denkweise sind vorgegeben, es bleibt kein Raum zur freien Entfaltung der Persönlichkeit über den Tellerrand der geschlechtlichen Kategorie hinaus. Im Sinne einer Güterethik gilt es aber die Pluralität der Menschen und die Pluralität der Werte zu achten und den Freiraum zur Entscheidung zu schützen. Das bedeutet unter anderem, sich bewusst zu machen, wann es sinnvoll ist, die Geschlechter zu unterscheiden. Wie Sie in „Das Gut des natürlichen Sterbens“ deutlich machen, richtet sich diese Forderung nicht gegen die Existenz der Kategorien „natürlicher Tod“ beziehungsweise „Mann“ oder „Frau“ an sich, sondern plädiert für einen anderen Umgang mit diesen. Schließlich würde es uns behindern und vielleicht wäre es gar unmöglich, nicht mit Kategorien zu denken. Sie völlig zu verwerfen kommt daher nicht infrage. Wie diese Kategorien zu füllen sind, muss jedoch geklärt werden. Sie fragen berechtigterweise nach einer Definition des natürlichen Todes und stellen fest, dass es diese Definition nicht geben kann und sich der Begriff vielmehr im „Reservat der Unverfügbarkeit“ befindet. Genauso kann im Sinne der Geschlechterfrage argumentiert und herausgestellt werden, dass es die Frau oder den Mann „an sich“ nicht gibt, sondern dass beide sich nur in konkreten und damit vielfältigen Repräsentationen ausdrücken lassen.

In meiner eigenen Schulzeit haben wir im Religionsunterricht über Sterbehilfe und Abtreibung diskutiert und verschiedene ethische Standpunkte dazu betrachtet. Ihre Sichtweise ist mir damals nicht bekannt gewesen. Einen derart offenen Diskurs würde ich mir in der Schule häufiger wünschen. Oft wird die Förderung der Entwicklung einer ethischen Haltung bei Schülerinnen und Schülern sowie bei Lehrerinnen und Lehrern in die Fächer Religion oder Ethik/Philosophie abgeschoben. Zu der Geschlechterfrage oder dem noch größeren Tabuthema Sexualität findet in der Regel gar keine Diskussion statt, die ethische Reflexion ermöglicht. Um das zu ändern, wäre es nötig, in der Schule eine Diskurskultur im oben beschriebenen Sinne zu etablieren, die die Tabus beim Namen nennt und verschiedene kulturelle Hintergründe miteinbezieht. Im Idealfall wären Lehrende, Lernende und deren Eltern am Diskurs beteiligt und zwar in den verschiedensten Konstellationen. Im Schulgesetz ist verankert, dass Schülerinnen und Schüler in der Schule lernen sollen, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen. Eine neue Art sich über Ethik, Geschlechterfragen, Sterben, Rassismus und andere kontroverse Themen auszutauschen ist meiner Meinung nach ein wichtiger Schritt. Dabei geht es mir nicht darum, Meinungen aufzudrängen, sondern ein Klima zu schaffen, das das Individuum und die Gesellschaft gleichermaßen nicht aus den Augen verliert.

Ihr Text gibt mir allerdings auch Fragen auf, für die ich noch keine Antwort habe. Wie diskutiere ich mit einem Gegenüber, das genau die Argumentationsweisen benutzt, die ich aufzubrechen versuche? Spontan würde ich sagen, dass die Diskussion zu Ende ist, bevor sie angefangen hat. Doch wie kann ich dann zu einer Entscheidung kommen, wenn die Diskussion elementarer Bestandteil meines Entscheidungsfindungsprozesses ist? Außerdem stellt sich mir die Frage, wie sich Gesetze oder Regeln bilden und etablieren, die in einem Staat oder in dem kleinen Kosmos Schule gelten sollen, wenn es nur relative Maßstäbe gibt? Wie verhalten sich dann das Kollektiv zum Individuum und die Pflicht zur Freiheit?

Abschließend möchte ich sagen, dass Ihr Text mir geholfen hat, die zugrunde liegende Argumentationsstruktur besser zu verstehen, zum Beispiel wenn mit „Natur“ oder „natürlich“ argumentiert wird, besonders dadurch, dass Sie die unterschiedlichen Denkweisen direkt gegenübergestellt haben. Das Thema Tod hat sich dadurch für mich etwas enttabuisiert. Und dafür, Geschlechterfragen zu diskutieren, eröffnen sich neue Denkweisen, die uns konkrete Menschen vor Augen führen statt „den“ Mann und „die“ Frau in unseren Gedanken zu erzeugen, die uns dazu einladen die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und uns selbst als „Pflicht“ wahrzunehmen und die uns auffordern, immer wieder unsere Sichtweisen zu teilen, infrage zu stellen und zu weiten.

Mit besten Grüßen,

Claudia Conrady



[1]    Goertz, Stephan: „Das Gut des natürlichen Sterbens. Anmerkungen zu einer moraltheologischen Argumentationsfigur.“ ZEE 52 (2008): 23-30

Autorin: Claudia Conrady
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 02.06.2012
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