beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik denken, studieren

Arbeiten mit den Ethikkonzepten zur Geschlechterdifferenz

Von Claudia Conrady

Die SeminarteilnehmerInnen von Andrea Günters Seminar hatten die Aufgabe, zu den einzelnen Seminarsitzungen Lerntagebücher zu schreiben. Damit konnten sie aufgreifen, diskutieren und entwickeln, was ihnen zur Sitzung am Herzen lag. Hierbei sind unter anderem Briefe an Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Stefan Goertz entstanden. Passend zu dem Themenschwerpunkt der Seminarberichte werden aus diesen Lerntagebüchern Texte ergänzt.

2. Brief aus dem Seminartagebuch von Claudia Conrady

Sehr geehrte Luce Irigaray,

in diesem Brief nehme ich Bezug auf Ihren Text „Ethik der sexuellen Differenz“, den ich in einem Seminar zu ethischen Konzepten und Konzepten der Geschlechterverhältnissen gelesen habe. Was mir an Ihrem Schreibstil besonders ins Auge gefallen ist, sind die vielen literarischen Verweise, die Sie im ersten Teil des Textes benutzen und die es mir schwer gemacht haben, diesen zu verstehen. Eine solche Art, wissenschaftlich zu schreiben, war mir vorher nicht bekannt.

Es kann in Ihrem Text durchaus vom literarischen Begriff der Erzählperspektive gesprochen werden. Durch die Verwendung der ersten Person Singular, bekommt der Aufsatz für mich gleich einen anderen Tonfall. Er wirkt wärmer, persönlicher, lebendiger. Dennoch wurde er für mich nicht einfacher – ganz im Gegenteil. Viele der Verweise entziehen sich meinem Wissen und manche der Metaphern erschließen sich mir nicht vollständig. Trotzdem übt diese Art, Philosophie zu formulieren, einen gewissen Reiz auf mich aus, weil sie versucht, die Gedanken genau so auszudrücken, wie sie der postulierten Ethik entsprechen.

Auffällig finde ich zum Beispiel, dass viele Sätze, die ich als Aussagesätze empfinde, mit einem Fragezeichen abschließen. Als Literaturwissenschaftlerin komme ich nicht umhin, diese Geste zu interpretieren und als Relativierung Ihrer eigenen Theorie zu verstehen. Auch das, was Sie schreiben, sehen Sie nicht als absolutes Wissen an, sondern eher als Gedanken in einem freien Austausch, den Sie ja gerade im Laufe des Textes fordern. Ein Punkt am Ende eines Satzes hat einen allgemeingültigen Charakter, er fordert und definiert. Ein Fragezeichen hingegen hebt diese Allgemeingültigkeit auf, ohne an Nachdruck oder Willen zu verlieren. Es weist lediglich daraufhin, dass noch nichts endgültig entschieden ist. Der Freiraum zu bejahen oder zu verneinen ist gewahrt und jede Zustimmung oder Ablehnung muss begründet werden.

Als Leserin habe ich oft an solchen Stellen gestutzt und mich gefragt, warum gerade hier? Warum überhaupt ein Fragezeichen? Und schon entstand ein Bezug zum Text, zur Autorin und zur Thematik, den ich bei anderen Aufsätzen im Seminar nicht verspürte.

Die Fragen, die Sie im Zusammenhang mit Wissenschaft aufwerfen, finde ich einleuchtend. Obwohl wir akribisch versuchen, die Phänomene dieser Welt zu erklären und Technologien weiterzuentwickeln, schaffen wir es oft nicht, die Dinge zu sehen, die nicht unseren Modellen entsprechen. Modelle können Gedankenstützen sein, aber niemals die Komplexität des Lebens widerspiegeln. Allgemeingültigkeit ist eine Vorstellung von der wir uns verabschieden müssen, auch wenn es sehr anstrengend ist, alle Aussagen, die wir treffen, zu relativieren. Auch, dass der Wissenschaftler bzw. die Wissenschaftlerin kein geschlechtsloses Subjekt ist, sondern seine Geschlechtlichkeit in sein Forschen einbringt, sollte sichtbar gemacht werden.

Interessant fand ich vor allem die Stelle, an der Sie auf die Bereiche der einzelnen Wissenschaften eingehen, die kaum erforscht werden, weil sie die vorhandenen Axiomensysteme durcheinanderzubringen drohen und uns in unserer absoluten Sicherheit verunsichern können. Dabei verweisen Sie immer wieder auf die Bedeutung von Kräften, von Begehren, vor allen Dingen von dem weiblichen Begehren, aus dem Dunkel des Unerforschten herauszusteigen und gemeinsam mit dem Männlichen die Welt zu gestalten. Weiblichkeit setzen Sie hier mit dem Überschreitenden gleich, das will und doch nicht darf und einen Kontrast bildet zu dem Männlichen, das als Spannung und Entladung in einem geschlossenen System beschrieben wird.

Die entscheidende Frage stellt sich also danach, wie Begehren – in Ihrem Text vor allem weibliches Begehren – gelebt werden darf. Was wir begehren, ist dabei zunächst zweitrangig. Wenn ein Bewusstsein für das Begehren der Frau geschaffen wurde und sie gehört wird, können wir in einen Diskurs treten, der zu wirklicher Veränderung führt und sich damit beschäftigt, das Was zu gestalten. Es kann nicht das Ziel sein, darauf zu warten, dass dieser Zustand von selbst eintritt. Ethik verlangt Handeln und die passive Rolle der Frau muss überwunden werden, um schöpferische Kräfte freizusetzen.

Für meine spätere Berufspraxis erscheint es mir wichtig für dieses Begehren, dieses Kräftespiel von Anziehung und Abstoßung zwischen Männern und Frauen zu sensibilisieren. Darin geht die Frage danach, wer wen begehren darf, auf.

Die Möglichkeit der Kombinationen von Sexualität ist vielfältig und frei, aber mit Begehren ist nicht nur die sexuelle Komponente gemeint. Wir begehren Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit auf unterschiedlichste Art und Weise von verschiedensten Menschen, zu denen wir mittels unseres Begehrens in Verbindung treten. Die Qualität unseres Zusammenlebens entscheidet sich also an der Vielfältigkeit und der Gestaltung dieser Verbindungen.

Um sowohl Lehrende als auch Lernende im Sinne einer Ethik der sexuellen Differenz zu sensibilisieren, muss ich natürlich selbst Vorbild sein, indem ich versuche, die klassischen Argumentationsstrukturen zu verlassen und selbst eine solche Ethik zu praktizieren. Dazu kann ich mir vorstellen, Raum zu geben für das Nicht-Modellhafte, das Nicht-Ideale und ständig daran zu erinnern, dass ein Diskurs nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten die Gelegenheit haben zu sprechen.

Sich vom Abstrakten zum Sinnlichen hinzuwenden, die „Wahrheit“ der Wissenschaft anzuzweifeln und neue Wege zu gehen, ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Ihr Text hat mich dazu angeregt, einen neuen Weg im Verfassen einer Abschlussreflexion zu gehen und mich bewusst darauf einzulassen, Grenzen zu überschreiten.

Mit besten Grüßen

Claudia Conrady

Autorin: Claudia Conrady
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 06.08.2012
Tags:

Weiterdenken