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Frauen und Männer im Koran: welche Gleichheit?

Von Elfriede Harth

Elfriede Harth stellt die Koraninterpretation der marokkanischen Medizinerin und Theologin Asma Lambaret vor.

Schon seit Jahren arbeitet die marokkanische Medizinerin und Theologin Asma Lamrabet auf dem Gebiet der Rolle der Frauen in den Religionen, und spezifisch im Islam. Sie sitzt im Vorstand des Groupe International d’Etudes et de Reflexion sur les Femmes en Islam in Barcelona, und seit 2011 leitet sie das Centre d’Etudes Féminines en Islam in Rabat.

Lamrabet betreibt eine systematische kritische Relektüre der schriftlichen Quellen des Islam aus weiblicher Perspektive und in heutiger Zeit. Für sie gibt es nicht nur einen, sondern viele Wege der Befreiung der Frauen.

Ich habe bislang von ihr zwei Bücher gelesen, das erstem Aïcha, Femme du prophète ou l’islam au féminin (Aischa, Frau des Propheten oder der Islam in seiner weiblichen Fassung), erschien 2004. Darin zeichnet sie das Portrait einer für ihre Zeit außergewöhnlichen emanzipierten Frau, die große religiöse, spirituelle aber auch politische Macht ausübte, und Vorbild ist für die volle Gleichberechtigung der Frauen und für ihre legitime spirituelle Autorität im Islam. Das zweite Buch im März 2012 veröffentlicht und trägt den Titel Femmes et Hommes dans le Coran – quelle égalité? (Frauen und Männer im Koran – welche Gleichheit?). Dieses Buch möchte ich hier vorstellen.

Schlagwort „Befreiung der Frau im Islam“

Asma Lamrabet beginnt mit der Feststellung, dass unter dem Schlagwort der „Befreiung der Frau im Islam” heute häufig der herrschenden westlichen Ideologie eine Art intellektuelles „Einmischungsrecht” zugebilligt und nebenbei den Trägern dieser Ideologie ihre Zugehörigkeit zur „zivilisierten Welt” bescheinigt wird. Auf diese Weise wird ein „Wir” konstruiert, das sich deutlich absetzt von „Denen”, obwohl die Geschlechtergerechtigkeit auch in der westlichen Welt – wie überhaupt weltweit – noch sehr viel zu wünschen übrig lässt.

Sie postuliert also das Recht für die Frauen, die sich als Muslimas definieren, sich ihren eigenen Weg der Befreiung aus Diskriminierung und Unterdrückung zu bahnen. Wegen dieses Ansatzes wird Asma Lamrabet zu den Verfechterinnen einer „Dekolonialisierung des Denkens“ gerechnet.

Gleichzeitig prangert Asma Lamrabet auch an, dass in bedeutenden Teilen der muslimischen Gesellschaften der „status quo“ der Frauenfrage in den Debatten um Religion als Banner des kulturellen Widerstands gegen den Westen hochgehalten wird. Auf diese Weise wird die Frage nach der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern als der islamischen Tradition völlig fremd und von einem strukturell hegemonialen Westen aufoktroyiert betrachtet.

Eine ganze Reihe komplexer Tatsachen, wie die Folgen der kolonialen Befreiungsbewegungen und die gegenwärtigen internationalen geopolitischen Konflikte (Palästina, Irak, Afghanistan, 11. September…), gepaart mit undemokratischen Regierungsformen, wirtschaftlicher und technologischer Unterentwicklung erschweren jeglichen gesellschaftlichen Reformversuch, insbesondere auf dem Gebiet der Frauenfrage, da die Frauen als Hüterinnen der letzten zu schützenden Bastion des Islams betrachtet werden.

Kritik an verengenden Koran-Interpretationen

In diesem Kontext versucht Asma Lamrabet, die für sie fragwürdigen, weil am Buchstaben klebenden und sehr verengenden Interpretationen des Korans und der Sunna (die Überlieferung dessen, was der Prophet Mohammed gesagt, wie er gelebt und in konkreten Situationen gehandelt hat) zu dekonstruieren, und einer unserer Gegenwart gerecht werdenden Analyse zu unterwerfen. Damit will sie einen Beitrag leisten zu einer „Beziehungsethik zwischen Frauen und Männern, so wie sie in den Schriftquellen des Islams konzipiert ist“ (S.13). Damit soll eine theologische Grundlage geschaffen werden, die ein Umdenken in Sachen Geschlechtergerechtigkeit nicht nur rechtfertigt, sondern sogar zu einer Notwendigkeit für die Menschen und Menschengruppen werden lässt, die sich der islamischen Tradition verpflichtet fühlen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil: „Frauen und Islam, eine neue Herangehensweise“, plädiert sie dafür, zuallererst die Idee „der Muslima“ zu begraben. Abgesehen davon, dass es eine solche gar nicht gebe, spreche der Koran immer von den Frauen im Plural, eben um ihre Vielfalt zu betonen. Die Rede von den „Rechten der Frau“ und ihrem „besonderen Status“ im Islam sei erst im 19. Jahrhundert im Zusammenhang der Kolonialisierung aufgekommen und habe zu einer „Verdunklung der universalen Größe der Botschaft des Korans“ geführt.

Für eine „kontextuelle Theologie“

Sie plädiert dann für eine kontextuelle Theologie, die zu unterscheiden weiß zwischen dem Geist der Offenbarung des Korans, der in den 14 Jahrhunderten seiner Geschichte noch nichts an Aktualität eingebüsst habe, und der je konkreten historischen Begebenheit, auf die der Koran zu seiner Entstehungszeit eine Antwort gegeben hat.

Die Offenbarung des Korans habe eine tiefe Umwälzung auf drei Ebenen bewirkt:

Erstens auf der transzendentalen Ebene – Das Prinzip der Einheit der Schöpfergottheit ist für Lamrabet ein „tiefes Symbol der menschlichen Freiheit“. Durch den Glauben an die göttliche Einheit befreie sich der oder die Gläubige von jeglicher Entfremdung, sei es materieller oder moralischer Art.

Zweitens auf der politische Ebene – Das Zusammenleben gründet nun auf sozio-politischer Gleichheit.

Und drittens auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen – Der Koran vollziehe eine „Rehabilitierung des sozialen Status der Frauen der damaligen Zeit, und eine Neuorientierung des Beziehungsrahmens zwischen Frauen und Männern zu mehr Gleichheit hin und einer größeren interaktiven Teilhabe“.

Grundwerte Vernunft, Freiheit, Gerechtigkeit

Vernunft, Freiheit und Gerechtigkeit sind für Lamrabet die drei Grundwerte, die die Botschaft des Korans in Erinnerung (dhikr) rufen will. Der Islam sei nämlich keine neue Religion, sondern baue auf älteren Traditionen (Abraham, Moses und Jesus) auf, die bereits offenbart und verkündigt worden waren. Sie alle schöpfen aus dem „Ur-Buch“ (umm al-kitâb) und verlieren ihre Gültigkeit nicht, aber sie wurden nach islamischer Vorstellung von den Menschen „vergessen“. Muslim oder Muslimin ist somit, wer sich „erinnert“.

So beginnt der Koran mit der Aufforderung Iqra’, Lies! Lies im Buch der Offenbarung, aber auch im Buch des Lebens. Der oder die Gläubige erhält den Auftrag, die Sinne zu schärfen, das Heilige und die Welt zu erkunden, sich zu öffnen und sich der Stimme Gottes in sich zu bewusst zu werden.

Dies sei der Grund, weshalb in der arabischen Welt die Wissenschaften aufgeblüht sind. Nur in Freiheit könne aber der Mensch sich Gottes bewusst werden und Gott anbeten. Daher die doppelte Forderung nach Befreiung von jeglicher Form der sozialen Unterdrückung und nach Gerechtigkeit (al-’adl), die besonders den Unterdrückten dieser Erde (al-mustad’afûn fi al-ard) zuteil werden soll.

Für eine ganzheitliche Vision des Koran

Es sei dieser Geist, in dem heute die Frage der Geschlechtergerechtigkeit gestellt werden müsse, meint Lamrabet. Die Antwort darauf dürfe aber nicht, wie oft üblich, mittels einer „Fragmentierung“ des Korans gegeben werden, sondern aus einer ganzheitlichen Lektüre heraus: „Wir müssen verstehen, was der Koran über die Frauen sagt und auch über die Männer, und zwar aus dem Beziehungsrahmen heraus, den die ganzheitliche Vision des Korans bietet.“ (S. 29)

Dabei gelte es zu unterscheiden zwischen Versen des Korans, die an alle gerichtet sind und daher alle Menschen als Gleiche ansehen (das ist die überwiegende Mehrheit der Verse), zwischen solchen Versen, die rein konjunkturell auf eine historische Begebenheit oder Tatsache Bezug nehmen, und schließlich solchen, die spezifisch an Frauen oder Männer oder an bestimmte Frauen oder Männer gerichtet sind.

Bei den rein konjunkturellen Versen geht es zum Beispiel um die Frage nach der Sklaverei, der Kriegsbeute, des Konkubinats und der körperlichen Strafen. Auch der Islam hat die Sklaverei nicht abgeschafft (In Saudi Arabien gab es sie noch bis 1962 und in Mauretanien bis 1980), doch der Koran unterstreiche die Wichtigkeit, Sklaven und Sklavinnen zu befreien (tahrir niqaba, Koran 4:92; 2:177; 90:12; 58:3; 5:89).

Die Verse, die sich spezifisch an Frauen beziehungsweise an Männer richten, könnten ebenfalls aus der historischen Situation heraus verstanden werden, aber es sei aufschlussreich, ihren Zweck im Licht des ihnen zugrunde liegenden Gerechtigkeitssinnes zu analysieren. Asma Lamrabet beschränkt sich dabei in diesem Buch auf die Frage der Polygamie (auf die Frage nach dem „Schlagen der Ehefrau“ ist sie bereits in einem ihrer anderen Bücher eingegangen).

Der Islam habe die Polygamie nicht erfunden, sondern eine bereits vorgefundene Praxis übernommen, die sehr häufig darauf abzielte, durch Ehelichung einer Witwe ihr Erbe und das ihrer Kinder zu konfiszieren. Der Koran (4:2-3) prangert solches Vorgehen als ein Verbrechen an. Erst nachdem der Schutz der Witwen und Waisen als Gebot formuliert ist, wird den Männern zugestanden, bis zu vier Frauen heiraten zu dürfen, ihnen jedoch im gleichen Atemzug geraten, nur eine zu heiraten, sollten sie sich nicht sicher sein, alle gleich behandeln zu können. Da der Vers 4:128 dann statuiert: „Ihr könnt nicht gerecht sein, wie groß auch euer guter Wille sein mag“, kann das als formale Empfehlung der Monogamie gelten.

Tatsächlich habe es im Laufe der Geschichte immer wieder Stimmen gegeben, die sich geradeheraus für ein Verbot der Polygamie aussprachen. Heute wird die Polygamie in der muslimischen Welt nur noch zu unter fünf Prozent praktiziert. In manchen Teilen Afrikas liege der Prozentsatz der von Katholiken praktizierten Polygamie weit über der von Muslimen, von der Polygamie bei den Animisten ganz zu schweigen.

Das Urteilsvermögen der Gläubigen

Inwiefern der Koran seine Gültigkeit behält, hängt nach Lamrabet vom Urteilsvermögen der Gläubigen ab, also von ihrer Fähigkeit, die unterschiedlichen Ebenen der Botschaft voneinander zu unterscheiden und ihrem Geist treu zu bleiben. Schlüsselbegriffe müssten von geschichtlich spezifischen Versen unterschieden werden.

Frauen und Männer müssen aus der Perspektive der Befreiung, die die Offenbarung von allen Formen der Unterdrückung gebracht hat, als „Menschen“ gesehen werden. Durch das Zeugnis des Glaubens (shahâda), mit dem der oder die Gläubige bekräftigt, dass es „keine Gottheit gibt außer Gott“ (lâ ilâha illâ Allâh), werde das Bewusstsein von jeglicher Unterwerfung unter irgendwelche irdische Gottheiten befreit, also etwa Macht, Berühmtheit oder den Ausartungen eines hemmungslosen Materialismus. Die Gläubigen legen Zeugnis ab von ihrer „Zugehörigkeit zu der menschlichen Gleichheit, welche soziale Klasse, Geschlecht und Rasse transzendiert“ (S. 36).

Der Koran spreche dabei Frauen und Männer unterschiedslos an („Oh ihr Gläubigen“, „Oh ihr Völker“, „Oh ihr Menschen“), auch wenn meistens die grammatikalische männliche Form verwendet wird, die wie in vielen Sprachen auch im Arabischen als „neutral“ gilt. In einigen wenigen Fällen werde allerdings explizit auch die weibliche Form verwendet, um der Gleichheit von Frauen und Männern in den Augen Gottes Ausdruck zu verleihen. Dies geschehe zum Beispiel als Antwort des Propheten auf die überlieferten Beschwerden einiger Frauen, er spreche immer nur in männlicher Form zu ihnen.

Im Koran kommen auch verschiedene Frauen vor als Symbole der Freiheit, der Autonomie, des gerechten Regierens, der Liebe, der Selbstlosigkeit und der Heiligkeit. Asma Lamrabet stellt sie in ihrem Buch: Le Coran et les femmes, une lecture de libération (Der Koran und die Frauen, eine Befreiungslektüre) als Leitfiguren von damals für heute vor.

Unvorstellbare Frauenfeindlichkeit im 7. Jahrhundert

Im beginnenden 7. Jahrhundert hatten solche Leitbilder auf der arabischen Halbinsel eine ganz besondere Bedeutung, wenn man sich vor Augen führt, wie unvorstellbar groß die damals herrschende Frauenfeindlichkeit war: Schon kleine Mädchen wurden bei der Geburt getötet, Frauen galten als Kriegsbeute, wurden enterbt und besaßen keinerlei sozialen Status. Darüber hinaus spornte der Koran die Frauen an (60:12), sich politisch einzubringen, besonders bei Zeremonien, in denen Delegationen von Frauen und von Männern politische Treue schworen. Auch sind viele von ihnen, den Männern ebenbürtig und unter großen Opfern, ins Exil (hijra) gegangen, als der Koran sie dazu aufrief. Alles Tatsachen, die heute in der Debatte meistens übersehen werden.

Die Thematik der Beziehungen zwischen Frauen und Männern in einer globalen Vision des Korans müsse also auf der Grundlage all dieser aufgezählten Elemente neu formuliert werden. „Diese Vision des Korans betrachtet sie vor allem als Träger einer ewigen Verheißung, der Verheißung auf der Erde zu leben und den Fortbestand der göttlichen Schöpfung in all ihrer Schönheit und Pracht zu gewährleisten“(S. 39)

Der zweite Teil des Buches: „Frauen und Männer im Koran: die Schlüsselbegriffe“ setzt diese vorgeschlagene Vorgehensweise in elf Kapiteln um.

Autorin: Elfriede Harth
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 24.09.2012
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • stephan philipp sagt:

    etwas zu unserem (!) thema …

  • gabi Bock sagt:

    der Anfang ist schon mal gut, warte auf die Fortsetzung, aber das Bild in arabischen Ländern – dh die Lebensituationen der Frauen – ist oft erschütternd, es kommt darauf an, welchen Kontakt zum Ausland die Familien haben…aber das dürfte ich schon wieder nicht denken, sagen und schreiben.
    Viele Grüße Gabi
    (ich arbeitete 5 Jahre in Tripolis , Libyen, als unser Goethe Institut noch erlaubt war)

  • elfriede harth sagt:

    Ja, die Realität vieler Frauen in diesen Ländern ist alles andere als rosig. Das ist, was Asma Lamrabet dazu motiviert, sich intensiv mit der Religion auseinanderzusetzen, die als Rechtfertigung für ihre Diskriminierung und Unterdrückung benutzt wird. Sie will aufzeigen, dass die gängigen Rechtfertigungsdiskurse jeder Grundlage entbehren, dass im Gegenteil der Koran Ausdruck einer verkannten Befreiungsbewegung war/ist und dass es dringend notwendig ist das zu begreifen. Damit hätten die Frauen und Männer, die sich als dieser Glaubenstradition zugehörig sehen, ausreichend ethische und religiöse Instrumente und Maßstäbe zur Verfügung, um ein gutes Leben für alle zu organisieren. Sie bräuchten keine fremden Befreiungsmodelle zu importieren oder sich aufoktroyieren zu lassen.

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