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Rubrik denken, studieren

Ethische Gleichheit, ethische Differenz, Gerechtigkeit

Von Andrea Günter

Welche Gleichheit? Welche Differenz?

Andrea Günter vertieft das Thema Ethik mit diesem 6. Kapitel, um die entscheidenden Bausteine für Gleichheit oder Differenz sichtbar zu machen.

Die bisherigen Ausführungen über Gerechtigkeit und Geschlechterverhältnisse können um einen weiteren Punkt präzisiert werden. Er hat unmittelbar mit einem der zentralen Kategorisierungen zu tun, die im Zusammenhang mit Geschlechterfragen diskutiert werden. Es geht um die Diskussion über Gleichheit und Differenz. Denn wie hier jetzt anhand der Gerechtigkeitsdefinition des Aristoteles gezeigt wird, spielt „gleich“ und „verschieden“ auch eine wichtige Rolle dabei, Gerechtes zu konzipieren. Von der Bestimmung der Gleichheit (und Differenz) im Konzept der Gerechtigkeit lassen sich Differenzierungen für den Geschlechterdiskurs herleiten, so dass Bedeutung und Funktion der Kategorien „Gleichheit“ und „Differenz“ entlang von Gerechtigkeit entschieden werden kann.

Gerecht ist etwas, das nach einem Verhältnis unterschieden wird bzw. nach einem Verhältnis gleich ist. Es besteht aus vier Elementen: aus zwei Menschen und aus zwei Sachen, so legt Aristoteles das Konzept der Gerechtigkeit fest (Nik. Ethik 5.6).

In Aristoteles Bestimmung des Gerechten klingt an: Das Ethische bringt einen speziellen Begriff der Gleichheit, aber auch der Differenz ins Spiel. Dabei hat es sich gerade im Zusammenhang mit Geschlechterpolitik als notwendig erwiesen, die verschiedenen Begriffsebenen von Gleichheit und Differenz auseinanderzuhalten. So muss das ontologische Konzept und das (rechts)politische Konzept unterschieden werden. Ontologisch beziehen sich Gleichheit und Differenz auf die gleiche oder aber verschiedene körperliche, seelische und geistige Identität der Geschlechter; rechtspolitisch verweisen sie auf den gleichen/gerechten oder verschiedenen/ungerechten Anspruch auf das Gesetz (und Rechtssicherheit).

Jedoch macht Geneviève Fraisse noch eine dritte Begriffsdimension auf: „Gleichheit“ als „leere Kategorie“.[1] Damit ist gemeint, dass die Größe „Gleichheit“ selbst keine Inhalte besagt, sondern weitere Größen braucht, die erst bestimmen, inwiefern etwas gleich ist. Welche Größe gewählt wird, ist aber offen. Das Gleiche benennt demnach das gleiche Verhältnis von zweien zu einer bestimmten einzelnen Größe. Es ist diese Größe (nicht die Gleichheit) und die Beziehung zu dieser Größe, die mit „x und y sind gleich“ ausgesagt wird.

Es ist diese Leere des Gleichheitskonzepts selbst, die Fraisse zufolge verhindert, dass wir uns gegen das eindeutige Definieren der Gleichheit (oder aber der Verschiedenheit) von Geschlechtsidentitäten entscheiden. „Gleichheit“ ist damit vorerst als eine negative Kategorie bestimmt, darüber, ein Beziehungsgefüge zum Beispiel als nicht hierarchisch zu gestalten. Auf diese Weise wird es auch denkbar, von der Gleichheit der Geschlechter und gleichzeitig von der Freiheit von Frauen auszugehen, und zwar als Unterscheidungsbewegung zu einer den Männern gleichen Identität und als Anpassungsverhinderung an Vorstellungen der Männlichkeit.

Jedoch auch diese Bestimmung birgt Komplexität. Denn wie steht es mit den zwei Sachen? Ist die Freiheit der Frauen gleich der der Männer? Ist sie dies nicht, ist Freiheit ferner nicht als Alternative zur Natur, sondern regelrecht als Bündnispartner mit der Natur zu verstehen – die Überbevölkerung unseres Planeten beispielsweise wird durch Geburtenregelung kompensiert –, wie muss dann Freiheit gedacht werden? Das geschlechtergerechte Kriterium kann lauten: Sie muss so gedacht werden, dass für beide Geschlechter das gleiche Freiheitskonzept befürwortet wird.

Fraisses Versuch, für die Unbestimmtheit der Gleichheit eine neue Perspektive zu eröffnen, baut darauf, von dem Gedanken auszugehen, dass „die Geschlechter“ bisher nicht richtig gedacht wurden. Zugleich plädiert sie dafür, das Konzept „die Geschlechter“ prinzipiell historisch zu rekonstruieren und zu entwickeln. Allerdings gilt ebenfalls: Gerade diese Konzeptbildung kann und muss ethisch sein, soll ein Geschlechterkonzept das Zusammenleben der Menschen gleichermaßen stabil und mobil halten.

Damit nochmals genauer zur Definition des (Ge)Rechten bei Aristoteles: Das Gerechte ist etwas Proportionales, ein richtiges Ins-Verhältnis-Setzen.

Schon Platon formulierte ähnlich: Die gerechte Gleichheit ist die Gleichheit, die Gerechtigkeit erzeugt.[2] Aristoteles hat mit seiner Definition die Größe, die in Verbindung mit Gerechtigkeit „Gleiches“ gewinnen lässt, genauer klassifiziert. Das Verständnis Platons abstrahiert er mit seiner Definition, jedoch pervertiert er dieses auch, wenn er statt von der Gerechtigkeit her Gleichheit, von der Gleichheit her Gerechtigkeit denkt. Darüber hinaus formuliert er: Es ist das konkret bestimmte Verhältnis, das dazu führt, etwas als gerecht oder ungerecht zu betrachten.

Ein entsprechendes Geschlechterverhältnis führt Aristoteles zum Beispiel in seiner Schrift „Politik“ ein. Hier nimmt er als die zwei Menschen Mann und Frau, als die zwei Sachen die Aktivität und Passivität und als Gleichheitsgröße die Vernunft. Frauen sind in seiner Argumentation zwar den Männern gleich an Vernunft, jedoch unterscheiden sie sich von Männern dadurch, dass sie passiv sind, während Männer aktiv sind. Nach seiner Definition ist es deshalb durchaus ein gerechtes Verhältnis, dass Männer über Frauen bestimmen.[3]

Wird ein hierarchisiertes Verhältnis zum Kriterium von Gleichheit, dann ist dieses Verhältnis die Grundlage dessen, wie Gerechtigkeit gebildet wird. Wird ein solches Verhältnis zum Maßstab von Gleichheit, bewirkte Gleichheit hierarchisierte Verhältnisse. Effekte der Hierarchisierung gälten als gerecht. Gleichheit wäre mit Hierarchisierung gleichgesetzt, Hierarchisierung besagte Gleichheit. Gelten Männer beispielsweise im Vergleich zu Frauen als besser und würde diese Bewertung befragt, könnte der Veränderungswunsch dazu führen, dass Frauen gleich werden würden, indem nun sie als besser als Männer aufgefasst werden.

Gerade anhand dieser bei Geschlechterdiskussionen häufig vorkommenden Argumentationsweise, ein „Besser“ aufzugreifen und die Zuordnung umzudrehen, um Veränderung zu erzeugen („Frauen sind die besseren Menschen“), macht deutlich, wie eingespielt hierarchisches Denken auch in solchen Veränderungsprozessen ist, die Situationen verbessern wollen.

Ganz anders fällt Platons Konzeptionierung aus. Nicht irgendein Verhältnis, im Gegenteil nur ein bestimmtes Verhältnis, nämlich ein gerechtes Verhältnis kann erst eine Vorstellung von „Gleichheit“ gewinnen lassen. Gerechtigkeit erzeugende Gleichheit ist nichts anderes als die Gleichheit, die durch das Streben nach Gerechtigkeit hervorgebracht wird.

Allerdings ist auch damit eine Hierarchie etabliert. Hier ist die Gerechtigkeit das Regens der Gleichheit, das die Gleichheit einem einzigen Verhältnis, nämlich der „Gerechtigkeit“ unterordnet. Damit ändert sich radikal, welche Größe die Hierarchisierung erzeugt. Es sind nicht länger die Hierarchien in den etablierten Verhältnissen zwischen den Menschen, sondern es ist das Ethische in Form der Gerechtigkeit. Und indem das Gerechte zum Mediator einer Handlung wird, wird die etablierte Verhältnisbildung dezentriert und überwunden.

Gleichheit/Differenz ist kategorial betrachtet ein Relativum. Sie dient dazu, zu verbinden und zu unterscheiden. Ihre Maßstäbe sind frei wählbar. Wie gezeigt wurde, macht es allerdings einen eklatanten Unterschied, ob eingespielte Identitäten, etablierte Verhältnisse oder aber Gerechtigkeit als Maßstab von Gleichheit/Differenz gewählt wird. Denn mit dem letzteren sind eingespielte Vorstellungen dessen, wie Gleichheit/Differenz konzipiert wird, infrage gestellt. Ohne eine Dezentrierung der „Sachen“ gibt es keine der Verhältnisse.

Dabei gilt auch für den Ausgangspunkt „Verhältnisse“, dass mit diesem keine Identitäten festgelegt werden. Es sind die Relationen, die in Form von Prozessen und insbesondere in Gestalt des Prozesses „Gleichheit der Gerechtigkeit“ in Betracht gezogen und entsprechend verwandelt werden.

Als Relativum können Gleichheit/Differenz, aber auch Gerechtigkeit zudem weder Ausgangspunkt noch Ziel sein. Vielmehr regeln beide die besonderen Bezüge zwischen Ausgangspunkt und Ziel. In dieser Weise erweisen sich sowohl Gleichheit/Differenz als auch Gerechtigkeit als leere Konstanten.

Damit ihre Kriterien nicht beliebig bleiben, muss Gleichheit/Differenz immer erst bestimmt und qualifiziert werden. Erst ihre Qualifizierung transportiert, mit welcher Perspektive die Verhältnisse differenziert und verändert werden. Insbesondere für Geschlechterverhältnisse gilt: wenigstens als Durchgang können sie „Gleichheit/Differenz“ realisieren. Ausschlaggebend bleibt, was hierbei die Gleichheit/Differenz regiert. Geschlechterverhältnisse brauchen Gerechtigkeit als Regulierungsgröße, als Regens der Dezentrierung, wenn eingespielte Hierarchisierungen entlang von Gleichheit/Differenz nicht unbedacht reproduziert werden sollen, sondern ethisch qualifizierte Differenzierungsprozesse das Ziel sein sollen.[4]

 

Die in den vorausgehenden Texten vorgestellten Differenzierungen, was Ethik meint,[5] was das Ethische transportiert und ein „turn“ der Geschlechterfrage als Turn des Ethischen darstellen könnte,[6] eröffnen Analysemöglichkeiten und Perspektiven für die weitere Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen. Ursprung, Zweck, Zeit, Räumlichkeit, Relationalität, das Schöne als Ausdruck eines harmonischen, abgestimmten und passenden Verhältnisses und das Gerechte als die ethische Relationalität des Relationen, mit diesen möglichen Kategorisierungen des Ethischen gehen unterschiedliche, sogar divergierende Verständnisse und Konzeptionen des Ethischen einher. Wird das Ethische dabei als Qualifizierung des menschlichen In-Beziehung-Seins und -Setzens verstanden, liegt es nahe, ein entsprechendes kategoriales Gerüst zum Ausgangspunkt und als ethische Verarbeitungsgröße zu wählen. Etabliertes „In-Beziehung-Stehen“, „Verhältnisse“ werden durch eine moralisch qualifizierende Verhältnisbeschreibung ethisch qualifiziert: durch Gerechtigkeit.

 



[1] Fraisse, Genevieve: Epistemologie, Politik und die Gleichheit der Geschlechter, in: Konnertz, Ursula/Haker, Hille/Mieth, Dietmar (Hg.): Ethik – Geschlecht – Wissenschaft. Der “ethi­cal turn” als Herausforde­rung für die interdisziplinären Geschlechterstudien, Paderborn 2006, 89-100, hier: c92.

[2] Vgl. Platon: Politeia. Werke in acht Bänden, Darmstadt 1990, 359c.

[3] Vgl. https://www.bzw-weiterdenken.de/2012/11/ethikkonzepte-und-geschlechterkonzepte-haben-ein-gemeinsames-schicksal/

[4] „Die Frauen haben doch die Macht über die Männer, die Kinder“, „Frauen sind die eigentlichen Gewalttäter in heterosexuellen Beziehungen, sie üben mehr psychische Gewalt aus als Männer körperliche Gewalt“: solche Argumentationen sind durchaus ernst zu nehmen, sie scheinen dem Bedürfnis einer geschlechtergleichen Bewertung von Gewalt gerecht werden zu wollen. Jedoch sind diese Argumentationen damit nicht automatisch gerecht.

[5] Vgl. vor allem https://www.bzw-weiterdenken.de/2012/04/du-sollst-konzepte-der-ethik-und-kausalitaten-von-geschlechterverhaltnissen/

[6] Der Titel des Sammelbandes „Ethik – Geschlecht – Wissenschaft. Der ‘ethi­cal turn‘ als Herausforde­rung für die interdisziplinären Geschlechterstudien“ (hg. v. Konnertz, Ursula/Haker, Hille/Mieth, Dietmar, Paderborn 2006) verspricht einen ethischen Turn der Geschlechterdiskussionen, beschränkt sich allerdings auf die Etablierung von Geschlechterdiskussionen aus verschiedensten Disziplinen in der Ethik. Damit werden ethische Kategorisierungen, die entlang von Geschlechterstereotypisierungen gebildet wurden, unbefragt tradiert.

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 21.03.2013
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Monika von der Meden sagt:

    Ich würde vorschlagen, mal einen Artikel aus der MatriaVal zu Gleichheit und/oder “gender” zu veröffentlichen.
    Frühlingsgrüsse aus Genf, Monika

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