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Ein Ja und drei Neins. Was wir von Parlamentarierinnen wollen – und was nicht.

Von Giordana Masotto, Lea Melandri, Lia Cigarini

Foto: Knud Erik Christensen/Colourbox.

Anmerkung von Antje Schrupp: Zu den Parlamentswahlen in Italien im Februar ist in der Via Dogana, der Zeitschrift des Mailänder Frauenbuchladens, der folgende Artikel erschienen (Nr. 104, März 2013). Die Autorinnen stellen darin die Frage, wie eine Zusammenarbeit zwischen Frauen aus autonomen (also nicht an Institutionen gebundenen) feministischen Bewegungen und gewählten Parlamentarierinnen aussehen könnte. Angesichts der im Herbst bevorstehenden Bundestagswahlen bieten ihre Überlegungen auch interessante Impulse für Deutschland.

Nach den Wahlen im Februar werden viele Frauen im Parlament sein, im nationalen wie in den kommunalen. Einige werden dort als Feministinnen sein. Viele andere, mit ganz unterschiedlichen politischen Hintergründen, werden auf der Welle einer starken Frauenbewegung dorthin gelangt sein, die sich Gehör verschafft hat und auch die Parteien nicht unberührt ließ.

Soweit die Tatsachen. Der politische Punkt, um den es jetzt geht, ist: Welche Beziehung möchten wir zu diesen Frauen aufbauen? Interessiert uns das alles – oder eher nicht? Für uns lautet die Antwort: Ja.

Von dem, was wir gemeinsam mit den Parlamentarierinnen bewahren oder aufbauen möchten, erwarten wir jedoch, dass es sich auf der Höhe des radikalen Feminismus befindet. Damit meinen wir die politische Praxis des Von-sich-selbst-Ausgehens, Beziehungen zwischen Subjekten und die Abkehr von instrumentellen Beziehungen.

Mit der viel beschworenen, wenn auch in Wirklichkeit selten praktizierten Gepflogenheit, dass Parlamentarier sich mit der Bewegung, aus der sie hervorgegangen sind, in einem beständigen Austausch befinden, hat das nichts zu tun. Das wäre im Grunde nichts anderes als ein mit Transparenz ausgestattetes repräsentatives Mandat. Wir wollen etwas anderes.

Wir wünschen uns eine gemeinsame politische Praxis mit den Parlamentarierinnen, deren Zweck und Ziel es ist, einen eigenständigen, neuen Maßstab zur Beurteilung der institutionellen Politik und der heutigen Demokratie zu schaffen, der von der Erfahrung der Frauen und von ihren Beziehungen untereinander geprägt ist.

Wir wissen, dass das nicht leicht sein wird. Es wird eine kritische Beziehung mit Höhen und Tiefen sein, weil wir von den Parlamentarierinnen viel verlangen, sowohl in Bezug auf das Denken als auch in Bezug auf Gesten des Bruchs und des Wandels. Vor allem im Hinblick auf die Feministinnen in den Parlamenten wird dabei auch etwas ins Spiel kommen, was in feministischen Kreisen bislang nur sehr zurückhaltend aufgetreten ist, nämlich der Maßstab des männlichen Urteils. Dem können sie sich jetzt nicht mehr entziehen, weil sie das Mandat – und in Folge den Maßstab des männlichen Urteils – akzeptiert haben, im vollen Bewusstsein, dass sie damit das Risiko eingehen (oder manche geradezu mit Sicherheit damit rechnen müssen) „neutralisiert“ zu werden. Das ist also ein schöner Widerspruch, dem eine sich da stellen muss.

Wir möchten uns aber nicht auf ein Gefühl des Verlusts, der Verminderung beschränken, auch wenn wir das verspüren. Wir finden uns allerdings auch nicht in der Begeisterung derer wieder, die glauben, dass es „jetzt endlich so weit ist“. Wir denken, dass wir einfach vor einer allgemeinen Herausforderung stehen und schlagen vor, uns ihr gemeinsam zu stellen, ob wir nun im Parlament sind oder nicht. Es sind nicht wenige Themen, mit denen wir uns zu beschäftigen haben. Auf einige möchten wir hier aufmerksam machen, indem wir von ein paar Neins ausgehen.

Nein zu „Gendergesetzen“, weil sie eine einfache und gefährliche Ausflucht sind – für Frauen wie für Männer – denn dann können sie sich fühlen, als wären sie „auf der Seite der Frauen“. Das Denken und die Praxis der Frauen haben in den vergangenen vierzig Jahren allerreichhaltigste Erkenntnisse hervorgebracht. Juristinnen, Philosophinnen, Naturwissenschaftlerinnen machen Vorschläge, die von jenen, die Gesetze machen, nicht ignoriert werden dürfen. Und sie bringen uns dazu, festzustellen, dass man a) über Sexualität keine Gesetze erlässt, dass b) Antidiskriminierungsgesetze, die in der Regel von den Gesetzgebern mehr geliebt werden als von den Frauen selbst, den praktischen Effekt haben, die gegenwärtige kulturelle und soziale Dynamik der Frauen zu zügeln und in eine Norm zu gießen, während die Frauen es zu Recht nicht mögen, wenn sie als schwach und als Opfer behandelt werden, und dass c) die Verfassung, wenn man sie nur richtig anwendet, auch so schon einiges an antidiskriminatorischem Handeln erlauben würde.

Auch im Bezug auf mögliche Aktionen sind bereits alle Informationen vorhanden, um darüber differenziert und auf der Höhe des Bewusstseins der Frauen befindlich urteilen zu können. Was wir verlangen, sind Reflektionen und gemeinsame politische Arbeit zu Themen, die in unserer politischen Praxis wichtig sind. Parlamentarier_innen befinden sich, unter anderem, an einem Ort, wo heute fast nichts mehr entschieden wird: Die Macht hat sich verschoben vom Parlament zur Regierung und von der nationalen Regierung zu verschiedenen undurchsichtigen Mächten, die nicht vom Wählerkonsens abgesegnet werden müssen. Das Parlament gesteht seinen Mitgliedern zum Ausgleich aber eine Menge an Zeit und Ressourcen zu (Bibliotheken, Mitarbeiter_innen, Geld), die sie zum Nachdenken und für Aktionen nutzen können.

Die Lust, sich an Orten zu befinden, wo Entscheidungen gefällt werden, manifestiert sich auch noch auf andere Weise. Viele Frauen möchten regieren. Sie möchten positive Gestaltungsmacht haben. Dieses Begehren manifestiert sich häufig, und in unseren Augen kohärenter, auf der Ebene der lokalen und regionalen Verwaltungen. Auch unter diesem Aspekt scheint uns der Moment gekommen zu sein, die bisherigen Gemeinplätze und „Abkürzungen“ zur Diskussion zu stellen: Sicher sind Frauen oft kompetenter und weniger korrupt! Aber heute haben sie die politische Kraft, sich nicht länger darauf zu beschränken, die „gute Verwaltungsfrau“ zu sein. Sie haben die Möglichkeit, aus der Heiligenecke der von Natur aus moralischen Frau herauszukommen und nicht länger die weibliche Ausnahme zu bilden, die einbezogen wird, um eine Politik, die ihre Glaubwürdigkeit verloren hat, zu „erneuern“. Sie können heute die Frau sein, die einen Wandel der Regeln für alle erzwingt. Die nicht mehr wie automatisch vom Politikmachen zum „Problem Solving“ übergeht, und die nicht mehr in jene Operation der symbolischen Verarmung einwillig, wonach die weiblichen Kompetenzen anerkannt werden, ohne aber gleichzeitig die bestehende männliche Ordnung in Frage zu stellen.

Nicht verleugnen, dass es heute um einen generellen Diskurs über die Demokratie geht. Davon zu sprechen, dass Frauen gleichgestellt werden müssen, damit die repräsentative Demokratie wieder neu legitimiert wird, erscheint uns ein ganz und gar falscher Ausblick zu sein. Wir können heute als Subjekte in den Diskurs über die Demokratie eintreten, als Subjekte, die den öffentlichen Diskurs bereits prägen und auch schon längst politisch handeln. Die Frauen sind nicht ein Problem, das repräsentativ „angeglichen“ werden muss. Uns interessiert heute nicht, wie die Demokratie weniger unglaubwürdig gemacht werden kann. Uns interessiert, dass sie substanziell verändert wird, wenn sie sich positiv auf die weibliche Freiheit bezieht – das reicht von Veränderungen im Konzept der Bürgerschaft bis hin zur Anerkennung der Subjekte als wechselseitig voneinander Abhängige. Auf dieselbe Weise haben wir auch den Diskurs über die Arbeit verändert: Es geht dabei nicht länger um eine „Frauenfrage“, sondern darum, dass wir das gesamte Szenario der lebensnotwendigen Arbeit ausleuchten, sodass sichtbar wird, was viele sich bisher erlaubt haben, zu übersehen.

Wenn wir diesen Schritt nicht tun, wird auch das Motto „Zuerst das Leben“ (unter diesem Motto haben sich die jüngsten Aktionen der italienischen Frauenbewegung versammelt, Anm. d. Übers.) banalisiert und klingt wie eine Forderung, die Frauen aufstellen, weil sie diejenigen sind, die die Sorge für das Leben übernehmen. Es muss daraus aber ein neuer Konflikt entstehen, der grundsätzlich das Wie und Wo betrifft, aus dem heraus Entscheidungen getroffen werden, die direkt unser aller Leben betreffen.

Uns liegen also große Themen und tiefgreifende Widersprüche am Herzen: Die Freiheit der Frauen (und der Männer) ist nicht reduzierbar auf die Demokratie, wie wir sie kennen, auf das Wahlsystem, auf die Diktatur der Mehrheit, und nicht einmal auf die Rechte, auf die Parteipolitik – die seit den 1970er Jahren die Fähigkeit verloren hat, die neuen Subjektivitäten aufzufangen – oder die einflusslos gewordenen Staaten. Sondern wir denken, dass die Freiheit der Kraft der politischen Praxis von Subjekten anvertraut werden kann, die sich als wechselseitig voneinander abhängig anerkennen.

Schon vor sechzig Jahren hat Hans Kelsen den tendenziellen Konflikt zwischen Freiheit und Demokratie unterstrichen und versucht, ihn mit dem Konzept der demokratischen Freiheit zu überwinden. Heute öffnet sich vor uns mehr denn je eine riesige praktisch-theoretische Leerstelle dafür.

Das verlangt jedoch von den feministischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, dass sie sich des hohen Niveaus der Widersprüche bewusst sind und sich nicht mit den Lösungen zufrieden geben, die bisher vorgeschlagen werden: demokratische Teilhabe, aktive Bürgerschaft, Beziehungspflege zur Region und zu den Wähler_innen und so weiter. Sie haben die Fähigkeit und die Möglichkeit, mehr zu tun. Sie können sich von ihrem Ort (dem Parlament) und von ihrer feministischen Praxis (der Beziehungen) aus einen Überblick verschaffen, können von den Erfahrungen erzählen, die sie dort sammeln: Welche Konflikte entstehen, wenn man die traditionellen Regeln der Macht ignoriert? Haben sie die Kraft und den Mut, den männlichen Regeln zu widerstehen? Welche Art von Praxis der Beziehungen möchten sie dort aufbauen?

Nicht versuchen, voranzuschreiten, indem man zurückblickt. Schließlich kann man sich im derzeitigen Moment der Politik nicht darauf beschränken, einfach die Verfassung zu verteidigen. Die Verfassung ist vom sozialen Gesichtspunkt aus schön und gut, aber sie stellt sich nicht der Freiheit der Einzelnen. Es ist kein Zufall, und das muss durchaus unterstrichen werden, dass sie zu einer Zeit geschrieben wurde, als Frauen dabei noch nicht mitreden konnten.

Vor allem aber kann man der Komplexität der Gegenwart nicht beikommen, indem man versucht, sie mit Gewalt erneut in ein konzeptuelles Schema zu pressen, das für eine Gesellschaft und für Staaten gedacht war, die grundlegend anders waren als die heutigen. Heutzutage gibt es viele Bewegungen, die für sich selbst eine jeweils eigene „konstituierende Natur“ behaupten: Subjekte, die sich zueinander in Beziehung setzen, die zusammenarbeiten, die sich selbst regieren, zum Beispiel bei der Politik der Gemeingüter. Der Feminismus ist von Anfang an eine dieser „sich selbst konstituierenden“ Bewegungen gewesen und ist es heute noch. Es ist sogar geradezu so, dass der „Einbruch“ der Frauen in die Politik mit ihren Begehren und Bedürfnissen die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem zu Fall gebracht hat: Etwa in der Subjektivität derjenigen, die in erster Person über „objektive“ Probleme spricht, oder in Form der Einzelnen, die sich auf ihre Geschlechtsidentität, Klassenzugehörigkeit und so weiter bezieht.

Wir erwarten also, dass die Frauen, die in die Parlamente gewählt wurden (womit wir freilich weder Männer ausschließen noch Frauen, die nicht in Parlamente gewählt wurden), positiv auf unsere Einladungen antworten: Wir entbinden sie in der Tat nicht von der Aufgabe, nach Praktiken zu suchen, nach Ideen und Initiationen, um das zu verwirklichen, was wir von ihnen erwarten. Weder sie, noch uns selbst.

Übersetzt von Antje Schrupp.

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