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Bildung neu denken

Von Ulrike Pittner

Visionen und Thesen für ein postpatriarchales Bildungswesen

Als engagierte Lehrerin möchte Ulrike Pittner das fehlende feministische Wissen im Bildungssystem nicht länger hinnehmen. Deshalb zeigt sie konkrete Wege auf,  wie neues Denken Einzug in der Schullandschaft halten kann. Die Autorin ist mit diesen Thesen schon 2009 im Rahmen eines Vortrages in Aarau (Schweiz) an die Öffentlichkeit getreten. Ihre Visionen setzen den in Deutschland nicht abebbenden Diskussionen um G8 und G9 konkrete Bildungsinhalte entgegen.

images-2, Bildung neu 1Bildung neu zu denken, bedeutet für geschlechterbewusste Frauen und Männer, den patriarchalen Rahmen des gewohnten Denkens zu verlassen.
Doch es fehlt das Bewusstsein davon, dass sich unser Denken in einem patriarchalen Rahmen bewegt und Folgen hat für unser Leben auf individueller, gesellschaftlicher und globaler Ebene.

Angehende Lehrpersonen verlassen die Hochschulen und haben nie etwas gehört von der „weiblichen Genealogie“, das heißt sie wissen nichts von der langen Reihe ihrer geistigen Mütter, die sich mit dem patriarchalen Denken in allen gesellschaftlichen Bereichen auseinandergesetzt haben. Eine „erschreckende Uninformiertheit“ und einen „Skandal für eine direkte Demokratie“ nennt das die Vizepräsidentin des Schweizerischen Verbandes für Frauenrechte, Lucie Waser.
Hier liegt ein patriarchales Bildungstabu vor. Dieses Tabu sollten wir brechen. Schülerinnen und Schüler müssen erfahren, dass der Mensch bisher nur vom Mann aus gedacht worden ist (homo = Mann und Mensch!) Patriarchales Denken ist ein vom männlichen Menschen ausgehendes einäugiges Denken und prägt unsere Welt, unser Menschsein, unsere kulturellen Werte und damit  auch unsere Bildungswerte.

Patriarchales Denken wird von Männern und Frauen erlernt und kultiviert. Zum Glück bedeutet dies, dass auch patriarchatskritisches Denken von Männern und Frauen entwickelt werden kann, sofern das Bildungswesen das entsprechende Wissen weitergibt, zum Beispiel die Erkenntnis:
„Das System des Patriarchats ist ein historisches Konstrukt. Es hat einen Anfang und es wird ein Ende haben. Seine Zeit scheint zur Neige zu gehen – es dient nicht länger den Bedürfnissen von Männern und Frauen, und seine unauflösliche Verstrickung mit Militarismus, hierarchischer Struktur und Rassismus ist eine  unmittelbare Bedrohung für den Fortbestand des Lebens auf unserem Planeten.“ (Gerda Lerner, 1986)

Die Zeit sollte jetzt also reif sein, um alles, was bisher aus männlicher Sicht gedacht und definiert worden ist, neu zu denken und neu zu definieren. Im Fogenden möchte ich das für den Bereich der Bildung tun und ich lasse mich dabei von folgender Vision leiten:
Ich stelle mir ein Bildungswesen vor, in dem bald einmal die erste Generation von Lehrerinnen und Lehrern unterrichten wird, die in der Geschlechterfrage mehr sehen als nur die Frage nach gleichen Rechten für Frauen und Männer. Diese Rechte sind ja heute – bis auf gleiche Entlöhnung – so gut wie erreicht. Und in den Schulen haben die Mädchen die Buben leistungsmäßig längst überholt. Viele Lehrpersonen glauben deshalb, dass die Geschlechterfrage sich im Bildungswesen gar nicht mehr stellt. Ja, sie reagieren sogar mit einer erstaunlichen Allergie auf die Genderthematik. „Es gibt Wichtigeres als Gender“ – so der  Originalton eines jungen Geschichtslehrers. Die Bildungslücke, die er offenbart, wird im heutigen Bildungswesen nicht als Bildungslücke verstanden. Das muss sich ändern.

In meiner Vision eines postpatriarchalen Bildungswesens erkennen Lehrerinnen und Lehrer, dass die Geschlechterfrage eine Kulturfrage ist, also eine Frage danach, wie gesellschaftliche Werte verknüpft sind mit den Wertigkeiten von Frauen und Männern. In meiner Vision verfügen  Lehrpersonen über ein umfangreiches Genderwissen und es gibt für sie keine pädagogische Frage, die an der Geschlechterfrage vorbeikommt.
Bildungspolitische Entscheidungen würden nicht mehr am Schreibtisch getroffen. Vielmehr wären es erfahrene Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit dem einseitig männlichen Blick auf die Bildung auseinandergesetzt haben und ihn zu einer ganzheitlichen Perspektive erweitern können. Wenn der patriarchale Denkrahmen erst einmal gesprengt ist, bleibt im Bildungswesen so gut wie nichts mehr, wie es heute ist: Das, was im patriarchalen Denken trivial und unbedeutend erscheint, gewinnt in einer erweiterten Optik plötzlich einen zentralen Stellenwert. Diese Perspektivenerweiterung ist ein spannendes Unternehmen und hat mich zur Formulierung von fünf Thesen veranlasst. Sie bewegen sich auf fünf Ebenen: auf einer philosophischen, einer mythologischen, einer materiellen, einer spirituellen und auf einer sozialen Ebene.

These 1:         Bildung muss von einem erweiterten Menschenbild ausgehen.

Thesenbild1Zu dieser These haben mich italienische Philosophinnen  inspiriert. Von ihnen stammt die Definition „Der Mensch ist zwei“ (Diotima).
Ich staune immer, mit welcher Unbefangenheit sich Männer als die Protoptypen der Menschen dargestellt haben. Der Mensch, das ist der Mann. Es ist  an der Zeit, den Mann nicht mehr als Prototyp für alle Menschen zu verstehen, sondern lediglich als Prototyp für die eine Hälfte der Menschheit. So kann die Frau zum Prototyp für die andere Hälfte werden.

Wenn wir unser Bildungswesen an einem erweiterten Menschenbild orientieren, heißt das, dass wir Kinder und Jugendliche als Mädchen und Knaben wahrnehmen, und zwar über alle soziale Schichten und über alle Kulturen hinweg. Von einem erweiterten Menschenbild ausgehen heißt, dass sich auch Lehrpersonen als Frauen und Männer wahrnehmen.
„Sprache ist das Haus des Seins“, hat einmal ein kluger Mann definiert. Bisher war die Sprache das Haus männlichen Seins. Heute ist es soweit, dass auch weibliches Sein dort einzieht. Das ermöglicht es, die Welt nicht nur aus männlicher Optik, sondern auch aus weiblicher Optik zu definieren.

Ein geschlechterdifferenziertes Menschenbild lässt uns in der Schule zwei Geschlechterkulturen wahrnehmen und es führt zu einem bewussten pädagogischen Umgang  mit ihnen, sei es in der Schulklasse, im Lehrkollegium, in den Bildungsbehörden.
Ein erweitertes Menschenbild anerkennt und schätzt Unterschiede. „Nicht allen das Gleiche, sondern Unterschiedliches für Ungleiche.“ So könnte ein Motto lauten für das Bildungswesen der Zukunft. Es käme zu einem neuen bildungspolitischen Umgang mit unterschiedlichen Lernkulturen auf den verschiedenen Schulstufen. Unterschiede würden nicht aus der Welt geschafft, sondern wertgeschätzt und mit unterschiedlichen pädagogischen Ansätzen kultiviert!

Schülerinnen und Schüler würden lernen – wo immer möglich – in geschlechtshomogenen Gruppen zu arbeiten und ihre Wünsche zu formulieren. Sie würden lernen, wie es ist, sich in einem Mädchenrat und in einem Bubenrat zu beraten. Und sie würden lernen, sowohl demokratisch als auch geschlechterdemokratisch abzustimmen, das heißt sie erfahren, welche Bedürfnisse bei der Mehrheit der Mädchen vorhanden sind und welche Bedürfnisse bei der Mehrheit der Knaben. Die Befriedigung der unterschiedlichen Bedürfnisse wäre dann eine neue pädagogische Herausforderung. Ein erweitertes Menschenbild führt also auch zu einem erweiterten Demokratieverständnis.


These 2:         Bildung muss ein neues Mythenverständnis entwickeln.

Thesenbild2Zu dieser These hat mich die neue Matriarchats-forschung inspiriert. Durch sie habe ich gelernt, wie wichtig in der Bildung die Vermittlung von Bildern ist (Bild-ung!) – und zwar von ältesten Bildern! – und wie wichtig es ist, deformierte Bilder als solche zu erkennen und ihre ursprüngliche Bedeutung kennenzulernen. In Mythen spiegeln sich Weltbilder und wir brauchen neue Bilder für unsere Welt.

In der neuen Matriarchatsforschung sind u.a. die klassischen griechischen Mythen hinterfragt worden und es sind die matriarchalen Wurzeln dieser Mythen freigelegt worden:
„Frauen schufen sich einst Bilder zu ihrer Weltdeutung, um den verborgenen Sinn der Welt anschaulich zu machen. Im Symbol machten sie die Bedeutungsvielfalt der Erscheinungen bewusst.“  (Gerda Weiler, p.36)

Bildung neu denken, heißt die Mythen, die heute unhinterfragt als Bildungsgut vermittelt werden, einer Revision zu unterziehen. Das heißt, unsere Schülerinnen und Schüler an die matriarchalen Wurzeln der Mythen heranführen und sie erkennen lassen, dass die einst von Frauen erschaffenen Bilder zur Weltdeutung verzerrt und pervertiert worden sind zu Geschichten von Mord und Totschlag, Raub und Vergewaltigung. Angesichts der aktuellen Menschheitskrise
„liegt es im Interesse von Frauen und Männern, nach matriarchaler Menschlichkeit zu fragen und die Erinnerung an eine verloren gegangene Weisheit als utopische Phantasie in die Zukunft zu werfen.“ (Gerda Weiler, S.15)

Verlorengegangene Weisheit in matriarchalen Urbildern könnte Schülerinnen und Schülern ein neues Verständnis von dem vermitteln, was ein Held ist („Ein Held greift die Aufgaben des Lebens an“, Weiler) und von dem, was weibliche und männliche Stärke ist. Wenn Bildung verloren gegangene Lebensweisheit vermittelt, dann leistet sie im weitesten Sinne Gewaltprävention.

These 3:         Bildung muss geerdet werden

Thesenbild3jpegZu dieser These bin ich durch meine eigenen Erfahrungen im Bildungswesen inspiriert worden – zum einen durch meine Unterrichtspraxis auf sämtlichen Schulstufen, zum anderen durch meine Arbeit als Genderbeauftragte für einen Lehrplan der Sekundarstufe I.

Auch unsere Lehrpläne sind von patriarchalen Mythen geprägt.  Der Mythos von der Höherwertigkeit des Mannes, des Vaters, des Sohnes ist eng verknüpft mit der Höherwertigkeit des Geistes gegenüber dem Körper. Wir sprechen von „höherer Bildung“ und meinen damit akademische, Intellekt orientierte Bildung. Je höher die Bildungsstufe, desto kopflastiger ist sie und desto weniger zählt das Wissen aus den Bereichen der Lebensbasis. Immer mehr Schülerinnen und Schüler durchlaufen die Schulen, ohne geringste praktische Kenntnisse aus dem Bereich der Lebensbasis erworben zu haben. Darunter verstehe ich den hauswirtschaftlichen und den landwirtschaftlichen Bereich inklusiv ihrer ökologischen Dimension.

In ihrem Buch „Die Welt – ein Haushalt“ macht Ina Praetorius klar, wie sehr wir uns von der patriarchalen Glorifizierung der Wirtschaft haben blenden lassen, wenn wir den Unterricht in Wirtschaft für wichtiger erachten als den Unterricht in Hauswirtschaft. Wirtschaft beginnt mit Haus- und Landwirtschaft. Innerhäusliche Wirtschaft ist ebenso wichtig wie außerhäusliche Wirtschaft – wenn nicht sogar wichtiger. Folglich muss Bildung bei der hauswirtschaftlichen Bildung beginnen und mit ihr alle anderen Bildungsinhalte verknüpfen.

„Der Sinn des Kochens … liegt in der genüsslichen Mahlzeit, und der Sinn des Schreibens ist der bekömmliche Text. Jenseits des überholten Dualismus von geistiger Freiheit und körperlicher Notwendigkeit wird es wieder möglich, den Zusammenhang zu erkennen und zu kultivieren, der zwischen hausfraulichen und geistigen Tätigkeiten besteht.“ (Ina Prätorius S. 8)

Bildung erden heißt, eine neue Verbindung zwischen Geist und Körper herstellen und sie so vom Kopf auf die Füße und damit auf die Erde stellen, auf die MATERie – mater! – beziehen. Bildung erden heißt: Von der Praxis zur Theorie Bildungskonzepte verfassen, lehren und lernen – nicht umgekehrt.

Bildung erden heißt auch: Die Kompetenzbegriffe, die bis jetzt definiert worden sind, erweitern. Die bis jetzt definierten Kompetenzen sind aus einer eingeschränkten Optik heraus formuliert worden. Darin erscheinen Schülerinnen und Schüler als Individuen, deren Lernen erst dann beginnt, wenn sie, vorwiegend von mütterlicher Hand versorgt, morgens das Haus verlassen und sich in die Schule begeben, in der – von unsichtbarer Frauen- oder Männerhand gereinigt – ein sauberer Arbeitsplatz auf sie wartet. In einer erweiterten Optik erscheinen Schülerinnen und Schüler als Individuen, deren Bildung bereits im innerhäuslichen Bereich zu beginnen hat. Deshalb haben Frauen zur „Ich-Kompetenz“ und zur „Sach-„ und „Sozialkompetenz“ noch die „Selbsterhaltungskompetenz“ definiert. Praetorius spricht von „Daseinskompetenz“.

Gerade für Schülerinnen und Schüler, die einmal in Führungspositionen arbeiten werden, ist es wichtig, dass sie über Erfahrungen in den Basisbereichen des Lebens (Hauswirtschaft, Werken, Handarbeit) verfügen.

These 4:   Bildung muss einen neuen Zugang zu Spiritualität finden

Thesenbild4Zu dieser These bin ich inspiriert worden durch die Afrikanerin Sobonfu E. Somé. Mit ihrem Buch „Die Gabe des Glücks“ möchte sie dem Westen die Weisheit einer alten Kultur schenken und uns dadurch helfen, das zusammenzufügen, was unsere westliche, patriarchale Welt zerbrochen hat, nämlich die Verbindung zwischen unserem körperlichen Dasein und unseren spirituellen Kräften. Unser patriarchales Bildungswesen stärkt diese unheilsame Trennung von Körper und Geist. Einer spirituell bewussten Frau aus Afrika erscheinen wir als spirituell unterentwickelt und brauchen folglich spirituelle Entwicklungshilfe.
Ein neuer Zugang zur Spiritualität würde bedeuten, die verlorene Verbindung zwischen Körperlichkeit und Spiritualität wieder herzustellen. Das könnte eine gemeinsame kultur- und religionsübergreifende Basis werden für Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund.

Wir brauchen dann nicht darüber zu streiten, welche Religionen in unseren Schulen unterrichtet werden sollen oder ob es überhaupt noch Religionsunterricht braucht. Viel spannender und ergiebiger als dieser Streit, der ja ausschließlich Vaterreligionen betrifft,  wäre ein ganz neues Spiritualitätsverständnis.
„Wir sind die Augen der Ahninnen und Ahnen in dieser Welt.“ So beschreibt Somé ihr Verständnis vom Menschsein. Da geht es nicht um ein Verbundensein mit einem fernen Vatergott, sondern um ein Verbundensein mit allen Geistwesen dieser Welt: mit den Geistwesen unserer Vorfahren, unserer Mitmenschen, der Tiere und der gesamten Natur.

„Wenn wir anerkennen, dass die Erde, auf der wir gehen, nicht nur Dreck ist, dass Bäume und Tiere nicht nur Rohstoffe für unseren Gebrauch sind, dann können wir uns selbst als spirituelle Wesen annehmen, die im Gleichklang mit allen anderen spirituellen Wesen um uns herum ‚vibrieren’.“   (Sobonfu E. Somé, S. 77)

Eine so verstandene Spiritualität würde unsere Schülerinnen und Schüler mehr lehren als jeder patriarchale Religionsunterricht. In einer neu gedachten Bildung könnte dann ein Lernziel so heißen: Schülerinnen und Schüler lernen, einen Alltag zu leben, der sie immer wieder mit einer spirituellen Dimension verbindet. Dazu gehören entsprechende Rituale, die neu eingeführt werden müssten. Und dazu gehört ein neues Verständnis von Konflikten und ein neuer Umgang damit. Konflikte können nämlich als spirituelle Geschenke, als eine Art Segen, verstanden werden.
„Konflikte entstehen aus Herausforderungen, die die spirituellen Kräfte an uns stellen. Sie sind ein Geschenk, das uns helfen soll voranzukommen. Durch Konflikte erfahren wir etwas über uns selbst…. Wir sollten dieses Geschenk hegen und die richtigen Schritte unternehmen, um die spirituellen Energien hinter dem Konflikt anzusprechen.“ (Sobonfu E. Somé, S. 97)

Wir können unseren Kindern natürlich keine afrikanische Dorfgemeinschaft mit deren Ritualen zur spirituellen Energiegewinnung bieten. Aber wir können ihnen in einer Klassen- und Schulgemeinschaft beibringen, was ein Gemeinschaftsgeist ist und wie daran gearbeitet werden kann.

Bildung neu denken, heißt auch, einen spirituellen Bezug zu Körperlichkeit und Sexualität lehren.

Beim Thema Sexualität möchte ich ansetzen an dem Ort des weiblichen Körpers, an dem wir auf die Welt kommen. Dieser Ort war ursprünglich ein heiliger und ein heilender Ort und er war kulturell repräsentiert in verschiedenen Symbolen.

sheelanagigEs gibt im Englischen einen Ausdruck, der die ursprüngliche Bedeutung anklingen lässt. Er be-zeichnet den Geburtsvorgang als „the crowning of the head“. Welch ein erhabenes Bild!
Und was ist daraus geworden? Scham, Schmutz, Verschweigen, Verteufeln, Zerschneiden, und die neu-este Variante: chirurgisches Manipulieren.

Wenn auf Schulhöfen Witze über Geschlechtsteile gemacht werden, lernen Knaben etwas über die Großartigkeit ihres Penis, während Mädchen lernen, „dass ihr Genitale angeblich nach moderndem Thunfisch stinkt oder eine Schleimspur wie die einer Schnecke hinterlässt.“  (Mithu M. Sanyal, S. 25)
Wissenschaftlerinnen, also hochgebildete Frauen, sind in der Lage, einen Penis zu zeichnen, während sie ihr eigenes Genitale nicht einmal rudimentär nachzeichnen können. (S. 8)

Das primäre weibliche Geschlechtsorgan ist im Patriarchat eine kulturelle Leerstelle, ein Nichts, ein Loch im konkreten wie im übertragenen Sinn. Das hat natürlich Folgen für das Selbstwertgefühl von Schülerinnen auf ihrem Weg zum Frausein. Und für das Frauenbild von Schülern auf ihrem Weg zum Mannsein!

„Vulva“ möchte darum die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal den verborgenen Teil des weiblichen Körpers nennen. Alles andere hält sie für eine Fehlbenennung, denn Vagina und Klitoris sind ja nur Teile der Vulva. Ihr gleichnamiges Buch ist eine faszinierende Kulturgeschichte der Vulva mit einer neuen Deutung der mythischen Gestalt der Baubo aus dem Demeter-Mythos.

Wir wissen, Sexualität ist der Knackpunkt für die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins. Bildung neu denken heißt, diesen Knackpunkt prioritär behandeln. Wenn der unsichtbare Ort benannt und symbolisch repräsentiert wird, der unsichtbare Mund, mit dem Frauen den Menschen die Welt eröffnen (mundus – lat. Welt, die Wurzel von Mund!), dann ist ein wichtiger Schritt getan, um Mädchen und Frauen die Kraft zu verleihen, ihren sichtbaren Mund zu öffnen und mit ihrer eigenen Stimme den Menschen die Welt zu eröffnen, das heißt den Mut gewinnen zu eigenen Definitionen.

These 5:   Bildung muss sich an einem neuen Leistungsverständnis orientieren

Thesenbild5Zu dieser These bin ich wieder durch meine eigene Unterrichtspraxis inspiriert worden. Seit jeher ärgere ich mich über das einseitige Leistungsverständnis unserer Schulen. Leistungen gelten nur dann als Leistungen, wenn sie auf dem Papier oder im Computer erbracht werden. Hierfür  erhalten Schülerinnen und Schüler Noten. Ihr Benehmen, ihre Achtsamkeit im Umgang mit Menschen, Material und Aufgabenstellungen, all das zählt nicht als Leistung.
Laut Lehrplan sollen Schülerinnen und Schüler Sozialkompetenz erwerben, aber die Praxis bleibt weit hinter der Theorie zurück. Was sich in den Pausen auf den Schulhöfen und in den Treppenhäusern abspielt, darüber sehen Lehrpersonen am liebsten hinweg. Das gehört nicht zum Lernstoff.

Bildung neu denken heißt, soziales Verhalten, Fleiß, Disziplin, Achtsamkeit, Ordnung, Ausdauer als Leistungsbereiche zu definieren und entsprechend zu qualifizieren. Nicht nach alter Väter Sitte, sondern in einer neuen Form, die wir, wenn wir es wollen, finden werden.
Sich sozial verhalten, Verantwortung übernehmen, Fürsorglichkeit entwickeln – das ist Beziehungsarbeit, das ist Leistung und die ist erlernbar. Allerdings braucht es dafür Zeit.  Ruth Mitschka fordert in ihrem Buch „Die Klasse als Team“, dass von fünf Schuljahren auf der Sekundarstufe ein Schuljahr für den Erwerb von Fachkompetenzen aufgewendet werden soll und vier Schuljahre für den Erwerb für die Selbst- und Sozialkompetenz, die ich noch um die Selbsterhaltungskompetenz erweitern möchte.

In einer neu gedachten Bildung können wir das einbeziehen, was Carol Gilligan über die unterschiedliche moralische Entwicklung von Mädchen und Knaben erforscht hat: Knaben orientieren sich vorwiegend an dem Wert der Gerechtigkeit und Mädchen vorwiegend an dem Wert der Fürsorglichkeit – „caring“ nennt das Gilligan – Sorge tragen zu sich und anderen, zu Pflanzen, Tieren und Umwelt.

„Mütterlichkeit“ darf nicht auf Mädchen und Frauen reduziert werden (Das wäre patriarchales Denken!), sondern muss in Form einer sozialen Mütterlichkeit als eine Ethik der Fürsorglichkeit für alle zu einem zentralen Bildungswert werden. Das hat nichts mit einer „Feminisierung“ der Bildung zu tun, sondern mit einer Humanisierung der Bildung.

Literatur:

–           Diotima: Der Mensch ist zwei, Wien 1989

–           Gilligan, Carol: Die andere Stimme, München 1988

–           Mitschka, Ruth: Die Klasse als Team, Linz 1997

–           Sanyal, Mithu M. : Vulva, Berlin 2009

–           Prätorius, Ina: Die Welt – ein Haushalt, Mainz 2002

–           Somé, Sobonfu M.: Die Gabe des Glücks, Berlin 1999

–           Weiler, Gerda: Der enteignete Mythos, München 1985

Wer an der ausführlichen Variante des Vortrags interessiert ist, kann ihn anfordern unter

 

Autorin: Ulrike Pittner
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 31.07.2013
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Einverstanden! Ich erinnere an meine Essaysammlung
    “Macht und Moral. 16 Essays zur Aufkündigung patriarchaler Denkmuster” Xanthippe VerlagZürich 2007

  • Gudrun Nositschka sagt:

    Ein Dank an Ulrike zu ihrem Erfahrungsschatz. Ich habe erlebt, dass beide Werte, Gerechtigkeit und Fürsorglichkeit, sich miteinander im Empfinden (Moral) von Jungen und Mädchen entwickeln oder nur wachgerufen werden müssen, um zum Tragen zu kommen. Was für eine wunderbare Aufgabe für Lehrkräfte und für Mütter und Väter.

  • Karina Starosczyk sagt:

    Liebe Ulrike Pittner

    Ohne LehrerInnen wie Dich, wird sich das Patriarchat als „rechtlich“ geltendes System der Ungerechtigkeit nicht wandeln. Wenn die Motivation zur Veränderung bei den heranwachsenden jungen Leuten ausbleibt, werden wir patriarchalisierten MitgliderInnen der Gesellschaft weiterhin im eigenen Saft schmoren und den Abgrund abwarten!

    Ich sehe es auch so, dass in „unserer“ Gesellschaft das Bewusstsein darüber fehlt, dass wir mindestens rechtlich im Patriarchat leben. Der ton-angebende männliche Herr Gott da oben, wird immer noch von vielen Menschen gefürchtet. Mögen viele Feministinnen den geistigen Zustand des Patriarchats verlassen haben – das finde ich übrigens richtig – viele Menschen strampeln jedoch weiterhin eifrig nach Geld, um individuell selbstständig zu werden. Dass jedes weibliches und männliches Individuum bei dieser Gymnastik-Übung persönlich zugrunde geht, wird oft zu spät registriert.

    Die „ganzheitliche Perspektive“ ist etwas, was ich auch bereit bin anzustreben. Es ist genau so, wie Du Ulrike Pittner sagst. Die „Perspektivenerweiterung“ ist unumgänglich. Nichts wird sich allerdings verändern, wenn die perspektiv-erweiterten Denker ihre neuen Perspektiven nicht anfangen zu leben und am Schreibtisch den Geist abgeben. „Bildung muss geerdet werden.“ Ein „erweitetes Menschenbild“ als Frau und Mann würde ich auch gerne begrüßen. Ohne meine Fräundinen würde ich vieles, was ich heute genieße, nicht geschafft haben. Wenn die Bedürfnisse des Menschen befriedigt werden, kann sich der weibliche und männliche Mensch auf einer weiteren Stufe entwickeln. Motivation hängt mit der Bedürftigkeit zusammen – wie die PsychologInnen heute herausgefunden haben. Es wäre aus meiner Sicht eins der essentiellen Ziele, die „Göttlichkeit des Mannes per se“ in Frage zu stellen. „In Mythen spiegeln sich Weltbilder und wir brauchen neue Bilder für unsere Welt. .. Bildung erden heißt, eine neue Verbindung zwischen Geist und Körper herstellen und sie so vom Kopf auf die Füße und damit auf die Erde stellen, auf die MATERie – mater – beziehen.

    Die „eingeschränkte Optik“ finde ich auch problematisch. Allerdings hilft diese Beschränktheit die Menschen als Gruppe zusammenzuhalten. „Unser patriarchales Bildungswesen stärkt diese unheilsame Trennung von Körper und Geist. Einer spirituell bewussten Frau aus Afrika erscheinen wir als spirituell unterentwickelt und brauchen folglich spirituelle Entwicklungshilfe.“ Wie süß Du es ausgedrückt hast. Mir fallen dazu Bilder von schwarz uniformierten Professorinnen und so. Nicht, dass ich die einzelnen Frauen hier beleidigen will, nicht. Es ist nicht so lange her, dass weibliche Denkerinnen sich bis zur Unkenntlichkeit biegen mussten, um als Denkerinnen zu gelten. Im Patriarchat gibt es die Vorstellung, Kinder würden Hiebe gut gebrachen können, um zu vernünftigen Menschen zu werden!

  • Danke für diesen Text! Gerade ist mir auf einer Reise durch das agrarisch geprägte Georgien wieder einmal klar geworden, wie viel Herrschaftswissen sich in 13 Jahren deutschem humanistischem Gymnasium und 9 Jahren Universitätsstudium in mir angesammelt hat. Ich habe Hebräisch, Griechisch, Latein, mathematische Beweise etc.etc. gelernt. Aber wenn ich in einer landwirtschaftlichen Kooperative vor einem schlecht gepflegten Tomatenfeld stehe, dann weiss ich nur, DASS wir es besser machen könnten, aber nicht WIE. Biographisch lassen sich solche Defizite nicht mehr aufholen, aber immerhin können wir sie heute analysieren und für zukünftige Generationen abbauen, im Sinne postpatriarchaler Bildung, ja! Und übrigens ist mir aufgefallen, dass mein Buch “Anthropologie und Frauenbild…” dieses Jahr 20 Jahre alt wird. Die Rezeption steht immer noch weitgehend aus… Aber der Paradigmenwechsel ist doch unterwegs. Liebe Ulrike, kommst du zur Denkumenta?

  • In meinem neuesten Blogpost nehme ich auf diesen Text Bezug: http://inabea.wordpress.com/2013/08/

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