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Der Gebärstreik meiner Oma Emma im Jahr 1913

Von Gudrun Nositschka

Wie es vor 100 Jahren zum Gebärstreik kam. Ein wichtiger Rückblick auf die Situation und den Kampf der Frauen. Gudrun Nositschka hat noch die Worte ihrer Oma im Ohr.

Gudrun Nositschka 1Mit fast 19 Jahren heiratete Emma, die seit der Einwanderung ihrer Familie im April 1907 von Ostpreußen ins Ruhrgebiet als Mädchen für alles gearbeitet hatte, nach einer kurzen, stürmischen Werbezeit ihren geliebten Fritz (26), Bergmann, Gewerkschaftler und Sozialdemokrat. Es gab keine Hochzeitsreise, da es, außer zur Hochzeitsfeier selbst im März 1910 in Gladbeck, keinen Urlaub gab. Also fuhr Fritz zur Mittagsschicht ein, und Emma schlief abends bei ihrer Mutter ein. Nach drei Tagen bat Fritz seine Schwiegermutter Henriette inständig, mit ihrer Tochter über gewisse Dinge zu reden. Emma fühlte sich leicht beklommen, als Fritz am nächsten Abend nach Hause kam. Von nun an erwartete Emma ihn immer in ihrer eigenen Wohnung.

Neun Monate später, im Januar 1911, hielt sie ihre Tochter Frieda in ihren Armen. Der stolze Vater war bei der Geburt dabei und freute sich sehr über ein Mädchen. Ihr würde nämlich erspart bleiben, in der Armee des Kaisers wie die Jungen dienen zu müssen.
Auch nach Friedas Geburt nahm Emma mit Fritz noch an politischen und kulturellen Veranstaltungen der Gewerkschaft und SPD teil und ihre Mutter Henriette hütete die Enkeltochter. In dieser Zeit formte sich Emmas Weltbild neu: Neben ihrem Glauben erhielten die Werte von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit einen festen Platz sowie die Überzeugung, dass auch Frauen ohne Wenn und Aber das aktive und passive Wahlrecht zugebilligt gehöre.
Seit 1911 gärte es auf den Zechen des gesamten Ruhrgebiets. Die Löhne lagen unter dem Stand, der bereits 1907 erreicht worden war. Das bedeutete noch mehr Schichten über die 48 Stunden-Woche hinaus fahren zu müssen.
Am 11. März 1912 legten mehr als 190 000 Bergleute die Arbeit nieder. Mit Streikbrechern des christlichen Gewerkvereins und frisch angeworbenen Arbeitern kam es von Anfang an zu Hand-greiflichkeiten, die zum Einsatz der Polizei gegen die Streikenden führte.
Die Frauen der Bergleute im Ausstand unterstützten ihre Männer, so auch Emma. Sie skandierte mit ihnen im Chor gegen Streikbrecher mit der Parole: Streikbrecher pfui, Streikbrecher pfui!
Auf Druck der Unternehmer und des Gewerkvereins gingen am 14. März etwa 5000 Soldaten gegen die streikenden Bergleute und ihre Frauen vor. Emma flüchtete sich angsterfüllt in einen Hausflur, als Krefelder Husaren mit gezogenen Säbeln in die Pfui rufende Frauenansammlung in Gladbeck hineinritten. Ohne Erfolg, aber großer Entrüstung wurde der Streik beendet.

Der Staat ließ Leute vor Gericht stellen, die Soldaten beleidigt oder Arbeitswillige beschimpft hatten. Bekannt wurde die Verurteilung einer Frau aus Bochum, die mit ihrem Säugling fünf Tage im Gefängnis in Recklinghausen einsitzen musste. Der „Wahre Jakob“, eine satirische Zeitschrift, die Emma und Fritz lasen, um die Wahrheit zu erfahren, veröffentlichte eine Farbzeichnung der Frau mit ihrem Säugling im Gefängnis und nannte sie die „Bochumer Madonna“. Dieses Bild wurde in vielen Haushalten aufgehängt, was Anstoß erregte. In Buer wurde das Bild sogar konfisziert. Das kommentierte der „Wahre Jakob“ so: Ihr löscht ihr Angedenken nicht, Ihr im Westfalenlande. Die Bochumer Madonna spricht von unserer Zeiten Schande.

Nach dem Streik hatte Emma Gewissheit, wieder schwanger zu sein und war froh, nicht zu den Frauen zu gehören, die eingesperrt worden waren. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes, Sohn Ernst, im November 1912 wäre Emma um eine Hilfestellung ihrer Mutter froh gewesen, da sie sich mit der Bearbeitung des Gartenlands und der Schweinehaltung sowie zwei kleinen Kindern sehr belastet fühlte. Doch Henriette hatte selten Zeit, ihrer Tochter beizuspringen.

Die ungewohnten Anforderungen zehrten an Emmas Kräften, so dass meine Großeltern Angst hatten, Emma könnte wieder schwanger werden. Jedes Beisammensein war von nun an von dieser Furcht überlagert. Emma kannte sich weder mit dem weiblichen Zyklus aus, noch traute sie einem Schutz durch Kondome, da diese oft von mangelhafter Qualität, auch teuer waren. Frauen, die sich bei ungewollten Schwangerschaften an „EngelmacherInnen“ wandten oder selbst Hand an sich legten, wurden bei Entdeckung nach § 218 StGB hart bestraft. Im Kampf gegen dieses Unrecht rief im Jahr 1913 die SPD zum Gebärstreik auf. Emma wollte gern diesen Gebärstreik unterstützen, auch wenn sie ihre Schwangerschaften als einen Teil ihres Körpers ansah. Dennoch war sie überzeugt, dass keine Frau wegen einer Abtreibung bestraft werden dürfte. Da erfuhr sie, dass in Luxemburg Tabletten hergestellt würden, die die Wahrscheinlichkeit von Schwangerschaften reduzierte. Fritz unterstützte Emmas Kampfwunsch und ließ für teures Geld die Tabletten schicken. Emma nahm davon ein, bis ihr davon schlecht wurde. Der Kindersegen schien gebremst. Sie hatte es im Jahr des Gebärstreiks bis weit ins Jahr 1914 hinein geschafft, nicht schwanger zu werden, war sehr stolz darauf und sprach noch in hohem Alter voller Selbstbewusstsein über ihren Beitrag zum Kampf gegen den „Unrechtsparagraphen“.

EmGudrun Nositschka 2ma war der Überzeugung, dass die Gesetze, die Frauen im BGB und im Strafgesetzbuch benachteiligten, abgeschafft gehörten. Ebenso dachte Fritz, der die Gleichberechtigung der Frau für selbstverständlich hielt. Beide bildeten eine Liebes- und Interessengemeinschaft, die erst durch den Ersten Weltkrieg Ende Juni 1917 zerstört wurde. Ihre gewohnte Subsistenzwirtschaft hatten Frauen und Männer ins Ruhrgebiet mitgebracht und wurden darin sogar durch die Zechenverwaltungen durch preiswertes pacht- und Gartenland gefördert. Trotz harter Arbeit erfüllten die Ergebnisse Emma und Fritz mit Stolz: Sogar in den folgenden schweren Zeiten musste Emmas nun vielköpfige Familie dank Gartenland und Viehhaltung nie hungern.

Die Angst vor ungewollten Schwangerschaften allerdings überschattete das Miteinander der Paare, trübte bisweilen auch starke Liebesgefühle ein, führte zeitweilig zum Verzicht auf Sexualität. Erst mit der Menopause begann für viele Frauen ein zweiter Frühling. Gesprochen hat darüber meine Oma allerdings erst im Alter – mit mir.

Dieser Beitrag beruht auf den Schilderungen meiner Familiengeschichte „Die Hoffnung zog mit“, 1990/1992 und wurde in der SPIRALE DER ZEIT Nr. 5/2009 als Schrift aus dem Haus der Frauengeschichte Bonn www.hdfg.de zum Thema „Geschlechterdemokratie in Deutschland“ veröffentlicht. Ein Besuch dort lohnt sich.

Nachtrag: Im Frühjahr 1991 lernte ich Gerda Weiler kennen, der ich meine Familiengeschichte „Die Hoffnung zog mit – Von Ostpreußen ins Ruhrgebiet“ schickte. Sie schrieb am 12. April 1991: „Die Hoffnung zog mit habe ich schon ziemlich weit gelesen und bin ganz begeistert von dem Buch. Ich werde es besprechen. Das verspreche ich dir. Denn Frauen brauchen Rezensionen für ihre Bücher. Neben der Mund-zu-Mund-Propaganda ist das ein wichtiges Mittel, unsere Bücher bekannt zu machen. Dein Buch vermittelt ein Stück vergessener Geschichte, die Frauengeschichte ist. Das ist wichtig…“

Bildnachweise:

1 Emma und Fritz Chomontowski, Hochzeitsbild 1910
2 Emma 1918 mit ihren Kindern Frieda (1911), Ernst (1912), Hedwig (1915)

Autorin: Gudrun Nositschka
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 31.10.2013
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Sabrina Bowitz sagt:

    Liebe Gudrun Nositschka, danke für deinen ehrlichen und so persönlichen Bericht von deiner Oma! Der Bericht hat mich noch einmal in dem bestärkt, was ich denke und wofür ich kämpfe. Vielen Dank! Ich glaube um wirklich auf einer Höhe zu stehen und Liebe erst zu ermöglichen, müssen wir wirklich jeden Tag uns dafür einsetzen dass wir auf einer Ebene stehen können. Es muss nicht viel sein, aber jeden Tag ein bisschen.
    Ich sehe sowieso immer wieder wie schwierig heute überhaupt eine gesunde Sicht auf Liebe geworden ist oder was Liebe überhaupt sein könnte und es ist gut, wenn an kluge und starke Menschen in der Geschichte erinnert wird, die dafür gekämpft haben.
    Ich fühl mich dann immer bestärkt.
    Ich habe ganz viele Frauen gehört, die erst im hohen Alter über Vergewaltigungen reden konnten, über die Not. Meine Oma hatte mir beispielsweise erzählt, dass sie ihre Kinder nie schützen gelernt hat, vor Schlägen. Oder dass sie ihren Mann nie wirklich geliebt hat. Sie brauchte ihn als Schutz im Krieg und das war ihr zuwider. Und diesen Hass und das Unterdrückte hat sie weitergegeben, was furchtbar war. Sie hätte dringend Hilfe gebraucht, einen Beruf und Chancen, Therapie. Und ich finde es so so schlimm wenn heute es vielen immer noch unmöglich ist das zu leben was für sie gut ist. Besonders wenn ich von häuslicher Gewalt höre oder anderes. Deshalb sind solche Beispiele wie die deiner Oma mutmachend!

    Und ich wünsche mir sehr, dass diese Geschichte auch gerade die lesen werden, die sich verpflichtet fühlen, Frauen vorzuschreiben wann sie abtreiben dürfen und wann nicht.
    Als ob es den Kindern nicht viel schlechter geht wenn sie geboren werden, wenn niemand sie haben will. Ich frag mich immer welches Leben da geschützt wird. Das ist doch dann gar kein Leben, für niemanden. Das hat für mich dann auch nur was mit Macht und Grausamkeit zu tun und eben nicht mit “Nächstenliebe” oder mit was auch immer.
    Diese Sprachverdrehungen und Realitätsverdrehungen sind immer furchtbar.

  • ehemalige Studentin des Matriarchats sagt:

    Aus meinem Studium über Matriarchat zu dem AhninnenRitual:

    „AhinnenRitual – Halloween – Dunkelheitsfest

    Alles um uns herum erinnert uns an den Weg in die Tiefe der jetzt vor uns liegt. Die Kräfte ziehen sich in die nicht sichtbare Welt zurück. Die Planzen vergehen bis auf die Samen, die warm in der Erde ruhen und auf die Zeit ihrer Neuentfaltung warten. Die Bäume und Sträucher holen ihre Lebenskraft in ihre Wurzeln unter die Erde, um geschützt und sicher Stille einkehren zu lassen. Die dunkelste Zeit im Jahresrad liegt vor uns. Auch wir ziehen uns vor der zunehmenden Kälte in unser Inneres zurück, um dort die Kräfte für unsere Wanderung durch die dunkele Tiefe des Jahrskreises zu sammeln, um uns zu erinnern woher wir kommen, um uns zu erinnern ein Glied, in der unentlichen Kette unserer Ahninnen zu sein und – dass wir es sind, die als verantwortlich Handelnden – die nächsten Ahninnen sein werden.“

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