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Care statt Crash

Von Ina Praetorius

care statt

Die Titel machen neugierig: „Care statt Crash“ und „Care, Krise und Geschlecht“ – so heißen zwei kurz hintereinander in der Schweiz erschienene Publikationen zum Thema Care-Arbeit und Ökonomie:

* Hans Baumann, Iris Bischel, Michael Gemperle, Ulrike Knobloch, Beat Ringger, Holger Schatz (Hg.), Care statt Crash. Sorgeökonomie und die Überwindung des Kapitalismus. Denknetz Jahrbuch 2013, Zürich 2013
* Care, Krise und Geschlecht. Widerspruch (Beiträge zu sozialistischer Politik) 62, Zürich 2013

Da scheint sich etwas zu ereignen, das unsereine sich seit dreissig Jahren wünscht: Die von viel mehr Frauen als Männern geleistete un- und unterbezahlte Fürsorgearbeit, seit jeher der grösste Wirtschaftssektor überhaupt, kommt in der Mitte der linken politischen Ökonomie an.

Was allzu lange wider besseres Wissen erst als „Natur der Frau“, dann als „Lebenswelt“ (in der es nicht um Wirtschaft, sondern bloss um „Sinnfragen“ gehe), schliesslich als unscheinbares Anhängsel des „eigentlichen“ produktiven Wirtschaftens gehandelt wurde, wird jetzt, endlich auch von einigen Männern, als das in den Fokus gerückt, zu dem es inzwischen geworden ist: der wirkliche Ort der vielfältigen Krisen unserer globalisierten Gegenwart.

Wird nämlich Care, wie zum Beispiel im „ABC des guten Lebens“, nicht nur als eine Ansammlung bestimmter un- oder unterbezahlter, unmittelbar an Bedürfnissen orientierter Tätigkeiten, sondern darüber hinaus als „Einsatz für einen kulturellen Wandel“ verstanden, so umfasst die „Care-Revolution“, von der neuerdings die Rede ist, weit mehr als „Gleichstellung“ oder „Lohn für Hausarbeit“: Es geht um die Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeit aller Menschen im und vom verletzlichen Kosmos Welt und damit um die Ablösung der Logik kapitalistisch organisierter Warenproduktion durch ein neues Paradigma, das „die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen“ (Gabriele Winker in Denknetz, S. 130) ins Zentrum des Wirtschaftens stellt.

Eine kritische Wirtschaftstheorie des Sorgens

Wer die beiden kurz hintereinander in der Schweiz erschienenen Publikationen zusammen liest, bekommt den Eindruck einer facettenreichen Debatte, die sich, bei aller inneren Differenziertheit, erfreulich eindeutig vom gängigen um Bankenrettungen und Marktberuhigungen kreisenden Krisengerede abhebt und entschieden in eine andere Richtung zielt: Die zunehmenden Verwerfungen im Bereich der Befriedigung unmittelbarer menschlicher Bedürfnisse – vom Pflegenotstand in Altersheimen über den Stress berufstätiger Eltern bis hin zu menschenrechtsverletzenden Zuständen in Krankenhäusern, prekären Lebensbedingungen migrierender Hausangestellter und dem Leiden der Hebammen an fachfremdem „Qualitätsmanagement“ – sind nicht als Einzelfälle zu verstehen und zu beheben, sondern stehen für das Ende eines Systems, das seit langem den Kern des Wirtschaftens, die Befriedigung der Bedürfnisse aller Menschen, zugunsten der monetären Profitmaximierung für wenige aus dem Blick verloren hat.

Wie sich die Care-Krise in unterschiedlichen Kontexten vergleichbar auswirkt, veranschaulichen eindrückliche Fallbeispiele: ein Gespräch mit einer griechischen Chirurgin, die durch die von der Troika aus EU, IWF und Weltbank verordnete Sparpolitik in schier unlösbare berufsethische Konflikte gerät (Denknetz 50-63), Berichte über die Auswirkungen der neoliberalen Gesundheitspolitik in Polen (Widerspruch 32-42), über die Lebensbedingungen osteuropäischer Care-Migrantinnen in der Schweiz (Widerspruch 51-57) und über unterschiedlich gelagerte, durch Sorgekonflikte bedingte prekäre Lebenssituationen in Ländern des Nordens (Denknetz 33-40, Widerspruch 43-50) und des Südens (Widerspruch 66-72 und 120-126).

Solche scheinbar weit voneinander entfernte Konstellationen lassen sich durch eine „kritische Wirtschaftstheorie des Sorgens“, um die sich Ökonominnen seit Jahrzehnten bemühen und die hier weiter systematisiert und präzisiert wird, zueinander in Beziehung setzen (vgl. vor allem Ulrike Knobloch in Denknetz 9-32, Gabriele Winker in Denknetz 119-133, Gisela Notz in Widerspruch 105-119). Dass sorgendes Tätigsein nicht, wie von grossen Teilen des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream noch immer angenommen, ein „Anderes“ der Ökonomie, sondern unverzichtbarer, integraler Bestandteil des Ganzen und daher in seiner Eigenlogik zu würdigen und zu organisieren ist, wird so ins Bewusstsein gehoben.

Care und Kapitalismus: eine Mesalliance?

Wie aber verhält sich die „teure“ und immer teurer werdende, da nur begrenzt der Warenform subsumierbare und rationalisierbare Wirtschaftsweise des unmittelbaren Sorgens für bedürftige Menschen zum Imperativ der „Produktivitätssteigerung“, der die nach wie vor dominante neoliberale Politik quasi naturgesetzlich zu beherrschen scheint? Wie lässt sich das Dilemma, dass der kapitalistische Verwertungsprozess Sorgetätigkeiten gleichzeitig voraussetzt und ausschliesst, lösen? Lässt sich verantwortliches Sorgen innerhalb bestehender kapitalistisch dominierter Sozialregimes – etwa durch neu organisierte staatliche Transferleistungen, gewerkschaftliche Organisation, Erwerbsarbeitszeitverkürzung, Förderung freiwilliger Tätigkeiten oder Investitionsprogramme in den bezahlten Care-Sektor – menschenwürdig gestalten, oder handelt es sich bei Care und Warenform um einen grundsätzlichen Widerspruch, der sich nur auflösen lässt, wenn die marktzentrierte Produktionsweise als solche in Frage gestellt und einem neu verstandenen sorgenden Gemeinwesen unterstellt wird?

Solche Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit durchaus divergierenden Ergebnissen systematisch zu stellen, darin besteht die eigentliche Neuheit und Stärke der beiden Publikationen: In einem Gespräch mit der Care-Ökonomin Mascha Madörin (Denknetz 84-98) arbeitet Tove Soiland das Dilemma der „Kostenkrankheit“ der Care-Tätigkeiten heraus. Dass es durchaus unterschiedliche Möglichkeiten gibt, mit dem Auseinanderdriften der Arbeitsproduktivitäten im Rahmen herkömmlicher Staatlichkeit umzugehen, zeigt ein Vergleich des schwedischen mit dem Schweizer Care-Regime.

Eine feministische Autorinnengruppe (Denknetz 99-118) setzt das derzeit in der Linken vieldiskutierte „Theorem der neuen Landnahme“ in Beziehung zum bereits in den achtziger Jahren begründeten Konzept der „Hausfrauisierung der Arbeit“ und weist so nach, dass die „fortlaufende primitive Akkumulation“ des Kapitals faktisch weitgehend auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird. Ausgehend vom Dilemma der vermeintlichen „Unproduktivität“ insbesondere der unverzichtbaren Sorge für „Kranke, verunfallte und behinderte Menschen sowie Kinder“ („Kern-Care“, Denknetz 154) entwerfen Heinz Baumann und Beat Ringger (Denknetz 134-175) konkrete Perspektiven für eine öffentliche Finanzierung des Care-Sektors, die sich nicht einfach als technokratische Neuorganisation verstehen, sondern Care als emanzipatorische Praxis in die Mitte gesellschaftlicher Entwicklung rücken.

Kontrapunkte zu solchen Versuchen, Care-Tätigkeiten in bestehende kapitalistische Verhältnisse zu integrieren, bilden Peters Samols Appell „Raus aus der Arbeitsgesellschaft!“ (Denknetz 74-83) und Frigga Haugs Vorschlag, auf die im deutschen Sprachraum traditionsreichen Debatten um „Reproduktionsarbeit“ zurückzukommen (Widerspruch 81-92).

Und jetzt: Vernetzung!

Dass die Care-Thematik derzeit in der Mitte linker Diskurse anzukommen scheint, ist zweifellos ein Fortschritt. Die Linke ihrerseits tendiert allerdings traditionellerweise dazu, sich in die Relektüre des eigenen umfangreichen Texterbes zu verstricken. Auch in der erfreulicherweise beginnenden Auseinandersetzung mit dem Care-Thema wirkt sich dies dahingehend aus, dass andere Diskurse, in deren Mitte die Care-Problematik längst angekommen ist und konstruktiv verhandelt wird, zugunsten linker Selbstbezüglichkeit vernachlässigt werden: das postpatriarchale Denken, die US-amerikanische Caring Economy Campaign, feministisch theologisch orientierte Ansätze der Sozialethik, die Haushaltsökonomik, die kulturwissenschaftliche Geldtheorie, die tiefenökologische Bewegung, die arbeitspsychologische Forschung und mehr.

Da die Linke allein kaum stark genug sein wird, den fälligen Paradigmenwechsel wirksam voranzutreiben, wäre sie gut beraten, sich solchen Diskursen gegenüber zu öffnen. Es ist zu hoffen, dass die für Mitte März 2014 in Berlin geplante Konferenz zur Care-Revolution Gelegenheit für entsprechende „interkulturelle“ Gespräche bieten wird.

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 04.11.2013
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Danke fuer die website und die literaturhinweise! Ich werde dran bleiben und weiterlesen! Noch ein Hinweis : Ende Novemer/ Anfang Dezemeber erscheint mein Buch “Die Seele des Sozialen -Diakonische Energien fuer den Sozialen Zusammenhalt”, das manches davon aufnimmt!

  • Karina Starosczyk sagt:

    „Es geht um die Anerkennung der wechselseitigen Abhängigkeit aller Menschen im und vom verletzlichen Kosmos Welt und damit um die Ablösung der Logik kapitalistisch organisierter Warenproduktion durch ein neues Paradigma, das „die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen“ (Gabriele Winker in Denknetz, S. 130) ins Zentrum des Wirtschaftens stellt.“

    Damit wäre nach meiner Vorstellung Claudia von Werlhof, die die Mutter Erde in ihrer Verletzlichkeit mutig thematisiert, auch einverstanden.

  • Elisabeth von Grafen sagt:

    „..Fallbeispiele: ein Gespräch mit einer griechischen Chirurgin, die durch die von der Troika aus EU, IWF und Weltbank verordnete Sparpolitik in schier unlösbare berufsethische Konflikte gerät (Denknetz 50-63), Berichte über die Auswirkungen der neoliberalen Gesundheitspolitik in Polen (Widerspruch 32-42), über die Lebensbedingungen osteuropäischer Care-Migrantinnen in der Schweiz (Widerspruch 51-57) und über unterschiedlich gelagerte, durch Sorgekonflikte bedingte prekäre Lebenssituationen in Ländern des Nordens (Denknetz 33-40, Widerspruch 43-50) und des Südens (Widerspruch 66-72 und 120-126)..“

    Den Bezug zu der Realität finde ich sehr wichtig: danke.

  • Angela Melkfeld sagt:

    Ich finde es wichtig, „dass sorgendes Tätigsein nicht, wie von grossen Teilen des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream noch immer angenommen, ein „Anderes“ der Ökonomie, sondern unverzichtbarer, integraler Bestandteil des Ganzen und daher in seiner Eigenlogik zu würdigen und zu organisieren ist, wird so ins Bewusstsein gehoben.“

  • Christine Wildberg sagt:

    In der Tat – finde ich, wird das Paradigma-Wechsel möglich sein, wenn die „marktzentrierte Produktionsweise“ in Frage gestellt wird und jede und jeder von uns nach seinen Möglichkeiten Schritte in diese Richtung tun wird.

  • Ich habe das Thema nach Kräften in die EKD-Synode reingetwittert, die soeben zu Ende gegangen ist. Cornelia Coenen-Marx vertritt die Care-Thematik dort sehr gut. Und hier ist noch ein kleiner sichtbarer Erfolg: http://paper.li/MatthaeusInfo/1304420560

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