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Ein Fest verändert das Bild einer Stadt: Gay Pride in Palermo

Von Dorothee Markert

Dies ist die Zusammenfassung des zweiten Kapitels des Diotima-Buchs “Das Fest ist hier”.

Link zum Beginn der Serie

Diotima: Das Fest ist hier

Diotima: Das Fest ist hier

Maria Livia Alga bezeichnet ihren Text im Untertitel als ethnologische Untersuchung eines Festes. Sie beginnt mit Tagebuchauszügen von 2010, als sie einige Zeit nach dem ersten „Gay Pride“[1] nach Palermo kommt und das Gefühl hat, ein wichtiges Fest verpasst zu haben. Ihre Freundinnen sprechen nur von diesem Fest, und überall in der Stadt sind noch Spuren davon zu sehen. Die Autorin fotografiert solche Überbleibsel in den Straßen, vor allem Plakate und Aufkleber. Dabei wird sie von einer Gruppe von Männern mittleren Alters beobachtet und rechnet damit, früher oder später von ihnen belästigt zu werden. Schließlich kommt einer der Männer auf sie zu und spricht sie an, sie interessiere sich ja wohl für den „Pride“. Er wolle ihr etwas zeigen. Er führt sie zu einem Geschäft für Hüte und sizilianische Mützen und fordert sie auf, eine kleine Mafioso-Figur zu fotografieren. Diese trägt eine Mütze mit dem Emblem des „Pride“, einem magentafarbenen Stern. Der Mann sagt dazu: „Hast du verstanden? Hier sind wir alle gay[2]“.

Die Autorin sieht in dieser überraschenden Erfahrung ein Beispiel dafür, dass ein Fest, wenn es wirklich subversiv ist, die Umgangsweisen bei Begegnungen zwischen Unbekannten im öffentlichen Raum verändern kann, die Art, wie miteinander gesprochen wird und wie Gefühle gezeigt werden. Alga hatte ihre Heimatstadt Palermo verlassen und war in den Norden gezogen, weil sie sie mit ihrer Geschichte von Mord und Verbrechen, staatlicher Gewalt, Auswanderung, den Debatten über Abtreibung und Jungfräulichkeit bis hin zur Anti-Mafia-Bewegung als „verlorene Stadt“ erlebt hatte, als gewalttätig, isoliert und rückständig.

Jetzt ist sie zurückgekehrt, und das ist für sie auch schon ein Fest.

Auf einem Stadtplan zeichnet sie ein, wo sie das Pride-Emblem überall findet: Am Theater, in Schaufenstern, auf Helmen, Rucksäcken, Koffern, auf Fahrrädern … und in Facebook-Profilen. Dass das Symbol sich so in der Stadt ausgebreitet hat, liegt daran, dass in Palermo aus dem erstmals gefeierten „Gay Pride“ ein „Pride“ geworden ist, denn die Kämpfe der Arbeiter um den Erhalt der Arbeitsplätze bei Fiat, Studentenrevolten, antirassistische Flüchtlings-Initiativen im Zusammenhang mit den Bootsflüchtlingen nach Lampedusa und jährlich stattfindende Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Mafia wurden in die Feierlichkeiten einbezogen. Beim ersten „Pride“ 2010 nahmen ca. 10.000 Menschen teil, 2011 waren es bereits doppelt so viele. Die emotionale Intensität bei den Teilnehmenden erinnert die Autorin an die Reaktionen der Bevölkerung auf die Mafia-Morde von 1992.

An den Vorbereitungen des nächsten „Pride“ beteiligt Alga sich intensiv. Sie beschreibt die Vorbereitungsarbeit hier unter der Fragestellung, was alles geschehen musste, dass aus der Erinnerung an ein Ereignis in New York 1969, die in viele andere Weltgegenden übertragen worden ist, das besondere Fest Palermos werden konnte. Aus der begeisterten Atmosphäre nach dem ersten Pride heraus schien es möglich zu sein, Palermo in eine Stadt zu verwandeln, die offen für Differenz ist.

Während die Autorin keinen Termin der Vorbereitungsgruppen versäumt, wird ihr zunehmend bewusst, dass „der Feminismus“ dort vollständig fehlt. Sie weiß, dass feministische Gruppen durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit seit 1993 – eine Art nicht-institutioneller Antimafia-Arbeit – wesentlich zu den atmosphärischen Veränderungen in der Stadt beigetragen haben. Und hier scheinen sie jetzt plötzlich gar keine Rolle mehr zu spielen. Nach intensiven Diskussionen erreicht sie, dass eine der Frauengruppen an einer Demonstration gegen Berlusconi teilnimmt, rot gekleidet. Doch während der Demonstration empfindet sie Traurigkeit und Frustration, erlebt also das, was Diana Sartori über das „Ausgeschlossensein vom Fest“ schreibt. Ermutigt durch die Auseinandersetzung mit Gedanken aus dem Mailänder Frauenbuchladen und anderer Feministinnen übernimmt sie schließlich öffentlich im Vorbereitungsteam Verantwortung für die Gestaltung des „Pride“, „im Namen der lesbischen Subjektivität in Beziehung mit den feministischen Bewegungen und der queeren Gegenkultur“ (S. 39). Diese klare Stellungnahme verändert die Art, wie die Frauen dort präsent sind.

Als Text auf den Transparenten beim großen Umzug entscheiden sie sich für den Slogan „Palermo lesbicissima“ (in etwa: „allerlesbischstes Palermo“). Sich selbst als „lesbisch“ zu bezeichnen, ist für viele der Beteiligten eine Herausforderung. Alga weist auf die Parallele zu Aussagen wie „Wir sind alle illegal“ in der antirassistischen Bewegung oder „Ich bin ein Berliner“ durch John F. Kennedy hin. Das größte Wagnis beim Slogan „Palermo lesbicissima“ ist, diese Bezeichnung vom „Ich“ und vom „Wir“, also vom Einzel- oder Gruppensubjekt, auf die Stadt zu übertragen. „Nicht im Sinne einer Gemeinschaft, sondern eines Territoriums, eines lebendigen Umfelds“ (S. 42). Der Slogan „Palermo lesbicissima“ erinnert auch an den Titel einer Serie in der örtlichen Presse über die Geschichte Palermos und seiner Baudenkmäler aus dem 19. Jahrhundert: „Palermo felicissima“ („allerglücklichstes Palermo“). Dazu zitiert die Autorin eine Stelle aus Chiara Zambonis Buch „Unverbrauchte Worte“: „Die Erfindung eines Begriffs setzt die gegenseitige Öffnung zwischen uns und der Welt in Gang, gerade auch dann, wenn nicht miteinander vereinbare Welten nebeneinandergestellt werden, so dass die gewohnte Identität verlorengeht, an die die Erfahrung sich gebunden hat“ (vgl. Zamboni 2005, S. 137): Palermo lesbicissima – Palermo felicissima.

Um auf den „Pride“ einzustimmen, nutzen die Frauen die Gewohnheit der Bevölkerung, ihren Wohnraum auf die Straße hinaus zu erweitern, für zahlreiche phantasievolle Aktionen, gerade auch an „neuralgischen“ Punkten der Stadt. Ein bekanntes Volkslied dichten sie um, wobei sie den sizilianischen Dialekt beibehalten, und machen eine Plakataktion daraus. Auf einem Plakat steht dann „Und ich, die ich schön bin, möchte heiraten“, auf einem anderen „Und ich, die ich schön bin, sollte keine Kinder haben dürfen?“, auf einem dritten „Und ich, die ich schön bin, muss alles verändern!“

Das Fest dauert eine ganze Woche lang, es soll ein umfassendes soziales Ereignis sein. Am Ende steht der große Umzug mit stark karnevalesken Zügen. Durch eine riesige Zuschauermenge wird ein Fest daraus, an dem alle teilnehmen können. Entgegen ihrem Vorhaben steigt die Autorin sogar auf einen Wagen und tanzt dort mit den anderen Frauen, dies verändert ihre Perspektive und den Sinn ihrer Teilnahme vollständig. Möglich wird ihr das nur durch die Anwesenheit guter Freundinnen und die vorherigen Gespräche über den Sinn einer solchen Präsenz auf den Straßen: Bei der Teilnahme an einer Demonstration kann man einfach nur in der Masse mitschwimmen und sich darin auch einsam und ohnmächtig fühlen. Oder aber – und so ging es der Autorin nun – die Kraft der Beziehungsnetze und ihrer Veränderungsmöglichkeiten kann spürbar sein.

Besonders hervorgehoben werden von den Medien natürlich die Karnevals-Aspekte der Veranstaltung, während sie die zahlreichen vorbereitenden Aktionen vollständig ignorieren. Der Blick auf fast nackte Schwule in Lendenschurzen und Transvestiten mit Federboas kann Anlass zu symbolischen Missverständnissen sein, als sei dieser Umzug wie beim Karneval eine kurzzeitige Umkehrung des „Normalen“, was dieses, wie wir wissen, letztlich bestätigt und festigt. Stattdessen soll jedoch gezeigt werden, dass das „Normale“ und seine Gesetze nicht taugen für das Leben und das Glück all dieser Menschen, wenn sie sie zwingen, ihren Alltag zu einem großen Teil in Heimlichkeit zu leben. „Das Fest ist keine Ablenkung vom Alltäglichen, keine freie Zeit, die dem Normativen entgegengesetzt ist. Jedoch bleibt es eine Zeit des Außerordentlichen, in der man sich vielleicht intensiver mit den Konflikten mit sich selbst, mit den anderen und mit den Verhaltens- und Beziehungsnormen auseinandersetzt, mit Ängsten und Gewalterfahrungen“ (S. 50).

Während ich mich nun doch noch intensiver auf diesen Text von Maria Livia Alga eingelassen habe, erinnerte ich mich plötzlich wieder an mein Berührtsein bei meiner ersten und bisher letzten Teilnahme an einem CSD vor 14 Jahren in Köln. Diese Erfahrung war in meiner Erinnerung vollständig überdeckt worden durch meine Ablehnung des Öffentlich-Herausstellens der Aspekte schwulen Lebens, die mir fremd sind und die mich eher abstoßen: die Sex-Betonung und der Stolz auf die eigene Promiskuität. Weil ich damit nichts zu tun haben wollte, hielt ich mich im Weiteren von Gay-Pride-Paraden fern. Zu Tränen gerührt hat mich damals die Offenheit der Kölner Bevölkerung, die im Gegensatz zu mir nicht peinlich berührt schien, sondern durch ihr fröhliches Mitfeiern zum Ausdruck brachte, dass all diese Menschen wirklich zu ihr gehören. Berührt hat mich damals auch der Mut einer Gruppe „Schwule bei der Polizei“, sich den Blicken der Bevölkerung auszusetzen. Solange ich im öffentlichen Dienst war, hätte ich diesen Mut niemals aufgebracht. Am Ende ihres Textes schreibt Maria Livia Alga, dass ihr Siegesgefühl, als sie auf dem Wagen tanzte, sie seither begleitet, „für immer“ (S. 50).


[1] Mit „Gay Pride“ (wörtlich „schwul-lesbischer Stolz“) werden die Feste und Umzüge zum Christopher Street Day (CSD) bezeichnet, die daran erinnern, dass sich Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten am 28.6.1969 erstmals gegen die Schikanen der Polizei gewehrt haben, die in einem Lokal in jener Straße in New York eine Razzia durchführten. Es kam damals zu tagelangen Straßenschlachten.

[2] Ich übernehme den Begriff „gay“, da es im Gegensatz zu „schwul“ ein Wort aus der schwul-lesbischen Bewegung ist, das von Anfang an Männer und Frauen umfasste (die ursprüngliche Wortbedeutung ist „fröhlich“!). Im Deutschen gibt es außer dem wissenschaftlichen Begriff „homosexuell“ kein entsprechendes Wort.

Diotima, La festa è qui, Napoli 2012, 175 S., € 16,99

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Autorin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 24.01.2014
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Sabrina Bowitz sagt:

    “Stattdessen soll jedoch gezeigt werden, dass das „Normale“ und seine Gesetze nicht taugen für das Leben und das Glück all dieser Menschen, wenn sie sie zwingen, ihren Alltag zu einem großen Teil in Heimlichkeit zu leben”
    Das ist so wichtig, ein toller Satz! Immer mal wieder zu fragen: Was ist möglich und wie wollen wir denn eigentlich zusammen leben? Das Leben außerhalb von Normen, die wir nicht aufgestellt haben und oft nicht mal bemerken.

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