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Lust auf eine andere Art des Wohnens

Von Antje Schrupp

Michaela Moser lebt seit einigen Monaten in einem Wohnprojekt in Wien. Im Februar hat sie dorthin ihre Mitautorinnen vom ABC des guten Lebens zu einem Arbeitstreffen eingeladen – und die gute Stimmung im Haus war unmittelbar zu spüren. Antje Schrupp hat sie zu dem Projekt befragt.

Wohnen für 70 Erwachsene und 20 Kinder. Nur ein Name für das Projekt muss noch gefunden werden. Fotos: Michaela Moser

Wohnen für 70 Erwachsene und 20 Kinder. Nur ein Name für das Projekt muss noch gefunden werden. Fotos: Michaela Moser

Wie viele Menschen wohnen in eurem Haus? Kannst du kurz beschreiben, wie Ihr euch organisiert habt?

In unserem Haus, das wir als Wohnprojekt gemeinsam geplant und im Dezember letzten Jahres bezogen haben, wohnen 66 Erwachsene, 4 Jugendliche bzw. junge Erwachsene (wovon eine derzeit in Korea lebt, ein anderer in Luxemburg) und 21 Kinder unterschiedlichen Alters. Die Idee kam von einer kleineren Gruppe von Menschen, die 2010 gemeinsam mit einem Bauträger bei einem Wettbewerb der Stadt Wien mitmachten, dort gewonnen haben, einen Bauplatz im Wiener Nordbahnhofviertel bekamen und dann weitere Leute gesucht – und gefunden – haben.  Rechtlich sind wir als Verein organisiert, methodisch und strukturell arbeiten wir nach den Prinzipien der Soziokratie.

Ein Unterschied zu anderen Wohnprojekten ist, dass der Anteil der Gemeinschaftsflächen sehr groß ist. Was für Gemeinschaftsräume habt Ihr, und warum legt Ihr darauf so großen Wert?

Wir haben insgesamt um die 700 Quadratmeter Gemeinschaftsflächen, das sind, wenn ich das richtig im Kopf habe, rund 20 Prozent. Gemeinschaftlich genützt wird zur Gänze die Dachfläche. Dort gibt es einen Dachgarten, mehrere Dachterrassen und im Dachgeschoss drei Gästezimmer, eine Küche (die für Gäste und Bewohner*innen zur Verfügung steht), eine kleine, sehr feine Bibliothek mit Parkblick und eine Saune mit Saunakabine, Whirlbadewanne mit Blick zu den Sternen und Ruheraum, der zum Beispiel für Yoga oder Mediationen verwendet wird. Großteils gemeinschaftlich genutzt wird auch das Erdgeschoss, wo es eine große Gemeinschaftsküche gibt, einen Spielraum und einen sehr, sehr großen Fahrradraum, in dem unsere über hundert Fahrräder, Laufräder, Kinderwägen und Roller „geparkt“ werden können. Und dann gibt’s noch das Untergeschoss mit Veranstaltungsräumen, einem schalldichten Proberaum, vier Werkstätten, einem Lagerraum für die hausinterne Foodcoop und einem Waschsalon.

Die persönlichen Wohnbereiche sind hingegen eher klein. Deine Wohnung zum Beispiel hat nur eine Wohnküche und ein kleines Schlafzimmer. Reicht dir das?

Ja, mir reicht das leicht – und einige Mitbewohner*innen haben sogar noch kleinere Wohnungen. Die Idee ist ja, dass man individuell nicht so viel Platz braucht, weil zum Beispiel Gäste auch im Gästezimmer unterkommen können und die Kinder im Spielraum und im ganzen Haus toben und nicht so große Zimmer brauchen. Für größere Einladungen können wir in eine der Gemeinschaftsküche ausweichen oder einen der Veranstaltungsräume reservieren. Spezieller Luxus: Alle Wohnungen haben großzügige Balkone und damit – im Sommer jedenfalls – noch einen zusätzlich Raum.

Wie laufen bei euch Entscheidungsprozesse ab?

Viele Gemeinschaftsräume für Parties oder sonstige Veranstaltungen.

Viele Gemeinschaftsräume für Parties oder sonstige Veranstaltungen.

Wir organisieren uns und entscheiden nach den Prinzipien der Soziokratie, das heißt, Entscheidungen werden im so genannten „Konsent“ getroffen, und nach intensiven Informations- und Meinungsrunden. „Runden“ bedeutet, dass wir wirklich viel „im Kreis“ reden, damit alle zu Wort kommen (nicht nur die Vielredner*innen) und so eine gemeinsame Entscheidung wachsen kann. Wenn die Meinungen gehört sind und sich ein Bild ergibt, wird so abgestimmt, dass gefragt wird, ob gegen die Entscheidung, die die besten Argumente hatte, jemand einen „einfachen“ oder einen „schwerwiegenden“ Einwand hat. „Einfacher Einwand“ bedeutet, dass ich – trotz Skepsis oder Bedenken oder einfach einer anderen Meinung – mit der vorgeschlagenen Entscheidung leben kann, sie akzeptieren kann und nicht behindern möchte. „Schwerwiegender Einwand“ bedeutet, dass ich „Stopp“ sage, weil ich finde, dass der Vorschlag, der am Tisch liegt, nicht den gemeinsamen Zielen und/oder unseren Prinzipien entspricht. Das muss ich dann aber auch begründen und nach Möglichkeit auch einen Alternativ-Vorschlag machen.

Und das funktioniert gut?

Diese Vorgangsweise funktioniert seit dreieinhalb Jahren sehr gut bei uns. Wichtig dabei ist auch, dass in der Soziokratie vieles an „Kreise“ (das sind in der Regel Arbeitsgruppen zu einem bestimmten Thema bzw. Aufgaben ) delegiert wird und im Laufe der Zeit alle erkannt haben, dass nicht alle bei allem mitreden müssen, sondern dass es Sinn macht, auf die Entscheidungen jener Gruppe zu vertrauen, die mit einer bestimmten Aufgabe betraut ist. Und für wen das eine oder andere Anliegen ganz wichtig ist, der oder die kann in der jeweiligen Gruppe mitentscheiden.

Die einzige Frage, wo uns das Entscheiden bisher noch nicht (so gut) gelungen ist, ist die Frage nach einem Namen für unser Haus. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass es da stark um eine Geschmacksfrage geht und Geschmacksfragen halt nicht mit Argumenten entschieden werden können, und es da auch um starke Identitätsfragen geht, wo das Delegieren ganz besonders schwer fällt. Aber ich bin optimistisch, dass wir auch das in den nächsten Monaten noch hinbekommen.

Welche Erfahrungen und Erlebnisse hattest du jetzt in den ersten Monaten deines Lebens im Wohnprojekt?

Der Einzug war ein einziger Freudentaumel. Zunächst einmal war es bis zuletzt sehr spannend. Weil wir unser Haus kurz vor dem Einzug vom Bauträger kaufen wollen und knapp davor zwei Banken, mit denen wir in Kreditverhandlungen waren, kurzfristig absagten und wir dann auf die Zusage einer einzigen Bank angewiesen waren. Gleichzeitig lief die Zeit. In letzter Minute ging dann alles gut, wir bekamen den Kredit – übrigens von der deutschen GLS-Bank –, das Haus wurde gekauft, und wenige Tage später konnten wir einziehen.

"Aktivitätsplakate" wie diese hängen öfter mal im Hausflur.

“Aktivitätsplakate” wie dieses hängen öfter mal im Hausflur.

Beim Einzug wurde sehr deutlich, was einer der ganze großen Pluspunkte in diesem Haus ist: die kooperative wertschätzende Grundstimmung aller Mitbewohner*innen. Da haben einfach alle bei allen mit angepackt. Und auch jetzt, drei Monate nach dem Einzug, ist es noch immer so, dass es eigentlich für alles, was man gerade braucht, sucht oder nicht zu Hause hat, eine Nachbarin oder einen Nachbarn gibt, der oder die (aus-)helfen kann.

Ganz generell herrscht eine Kultur der Fürsorglichkeit, da sind wir eine ganz tolle „Care-Community“, finde ich. Als ich neulich krank war, kam fast jede Stunde wer vorbei, um zu fragen, ob ich Essen, Medikamente oder sonst was brauche. Das klingt schon fast lästig, aber es werden auch Ruhebedürfnisse akzeptiert. Ein kleiner „Bitte-nicht-stören“ Hinweis auf der eigenen Wohnungstür genügt. Wer Lust auf Gesellschaft hat, zum Beispiel einfach auf einen Tee oder ein Glas Wein oder Bier nach der Arbeit, findet trotzdem (fast) immer eine offen Nachbar*innen-Tür, und sehr oft ergeben sich ganz zufällig die nettesten Plaudereien am Gang oder von Balkon zu Balkon.

Besonders toll finde ich auch das Zusammenleben mit Kindern. Ich hab ja keine „eigenen“ Kinder, mir aber immer vorgestellt, dass ich gerne mit Kindern leben würde. Und jetzt genieße ich das sehr, wenn die neunjährige Nachbarin mit ihrer Freundin kommt, weil sie hofft, dass ich ihr bei einer neuen Frisur helfen kann, oder wenn wir gemeinsam ins Kino gehen, um einen „Mädchenfilm“ anzuschauen, wozu ich ja als Erwachsenen „ohne Kinderbegleitung“ sonst kaum kommen würde.

Jetzt wo wir uns alle schon ein bisschen eingelebt und die meisten unserer Umzugskartons ausgepackt haben, entstehen auch immer mehr Initiativen, die über uns Haus hinausgehen. Bald werden Hochbeete geliefert, die wir gemeinsam mit Bewohner*innen aus dem Nebenhaus nutzen werden, für den Mai ist ein Flohmarkt für die ganze Nachbarschaft geplant, und gemeinsam mit anderen Bewohner*innen in unserem Grätzl (das ist die wienerische Bezeichnung für „Kiez“ bzw. „Viertel“ oder „Quartier“) planen wir monatliche „Nordbahnhofvorlesungen“ zum Beispiel zur Geschichte des Nordbahnhofs, aber auch zu dessen Weiterentwicklung. Denn hier auf diesem aufgelassenen großen Kohlenbahnhofsgelände werden in den nächsten Jahren noch einige mehr Wohnhäuser entstehen.

Wenn Leute woanders überlegen, ein Wohnprojekt zu gründen, was würdest du ihnen raten? Worauf sollten sie achten?

Ich denke es braucht eine Gründungsgruppe, in der die Chemie gut passt, und wo es Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in groben Zielsetzungen gibt. Es war bei uns wichtig – und das ist wohl generell so – zunächst mal gemeinsam zu träumen, eine Vision zu entwickeln, wie es werden soll und da ruhig „groß“ zu denken. Und es ist hilfreich, sich von Anfang an zu überlegen, wie das Projekt organisiert werden soll und wie Entscheidungen getroffen werden. Wir haben da mit der Soziokratie sehr gute Erfahrungen gemacht, und ich kann diese Organisationsmethode (nicht nur, aber besonders) für Wohnprojekte nur empfehlen. Dazu gehört auch, dass es für alle Mitgestaltungsmöglichkeiten gibt, dass sich alle einbringen können und alle „alles werden“ können, was in der Soziokratie auch vorgesehen ist. Das Mitarbeiten ist generell wichtig, und bei uns ist es auch so, dass wir uns verpflichtet haben, zehn Stunden im Monat fürs Projekt zu arbeiten, also uns in Arbeitsgruppen einzubringen, oder im Garten mitzuhelfen oder zu putzen, denn im Moment putzen wir unser Haus auch selber.

Auch die Größe ist wohl relevant: etwas „mehr“ macht vieles leichter, weil sich bei siebzig Leuten nicht alle lieben müssen und es auch nicht so ein Loch reißt und das ganze Projekt in Frage stellt, wenn jemand wieder aussteigt bzw. auszieht, und weil dadurch mehr Vielfalt ins Haus kommt, was für Lebendigkeit sorgt. Die „Auswahl“ der Mitbewohner*innen ist da natürlich auch eine wichtige Sache. Anders als andere Wohnprojekte (zum Beispiel Frauenwohnprojekte, „queere Wohnprojekte“, Ökodörfer) haben wir keine ganz spezifische Zielgruppe. Es gibt zwar schon generell Prinzipien von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit, die wir als Projekt im Blick haben und auf die wir achten, aber ansonsten war und ist uns bei den Leuten, die hier einziehen wollen, am wichtigsten, dass sie wirklich Lust auf diese Art des Wohnens und gemeinsamen Lebens haben und auch darauf, sich da einzubringen. Es reicht nicht, wenn sie das Haus und seine Möglichkeiten oder die Gegend, in der es steht, attraktiv finden.

Autorin: Antje Schrupp
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 20.04.2014
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Wie finanziert ihr das Projekt? Kredit ist die eine Seite; habt ihr jeweils Eigenkapital einbringen müssen? und können sich auch etwas ärmere Menschen diese Wohnungen leisten? Sind die Mietpreise für alle gleich? -auch das sind mir wichtige Fragen.

  • monikakrampl sagt:

    Ein Bericht, das absolut in den Bereich “Good News” fällt – ich freue mich sehr, wenn sich Neues verbindet und gelingt!
    Abgesehen davon, bin ich ein absoluter Fan der Soziokratie.

    Es gibt derzeit noch wenige zeitgemäße Methoden und Strukturen, die Soziokratie ist eine davon!

    Meine guten Wünsche für dieses Projekt!
    Monika

  • Michaela Moser sagt:

    @Fidi: Finanziert haben wir das Haus einerseits durch eine Förderung bzw. Darlehen der Stadt Wien; durch einen Kredit der GLS und durch Eigenmittel. Die meisten von uns Mitbewohner*innen haben 570 Euro/m2 (der eigenen Wohnungsgröße) an Eigenmittel eingebracht + 3.000,- für die Gemeinschaftsräume. Dieses Geld bekommen wir zurück, wenn wir mal ausziehen. Monatlich bezahlen wir ca 9,60 Euro/m2 – für die Rückzahlung des GLS-Kredits, für Rücklagen, Reperaturfonds, Vereinsaufwendungen, Betriebskosten etc. (Zur Orientierung: Die durchschnittlichen Mietpreise in Wien in ähnlicher Lage liegen derzeit bei ca. 14-15 Euro.)

    Zwei Wohnungen haben wir als “Soli-Wohnungen” vergeben, dh. die Bewohner*innen mussten keine Eigenmittel einbringen und die monatlichen Kosten sind niedriger (das wird durch einen internen Solidaritätsfonds ausgeglichen); eine weitere Wohnung bietet als “Junge WG” Wohnplätze für junge Leute, die dort befristet wohnen können – auch ohne Eigenmittel einzubringen.

    Was das Wohnen im Wohnprojekt auch noch “kostet”, ist Einsatz. Wir haben eine Vereinbarung, dass jede erwachsenen Bewohner*in 11h pro Monat – 10 Monate im Jahr – in diversen Arbeitsgruppen, Initiativen usw. des Wohnprojekts mitarbeitet, inklusive spezieller Regelungen für Zeiten nach der Geburt eines Kindes oder besonderer Belastungen (durch Krankheiten, spezielle Berufssituation etc.).

  • Michaela Moser sagt:

    Laufend Aktuelles vom Wohnprojekt Wien und was sich dort so alles tut, gibt’s übrigens auf unserer Facebook-Seite: https://www.facebook.com/pages/Wohnprojekt-Wien/121306171266413?fref=ts

    An einer neuen Website arbeiten wir grad (die alte ist aus der Bauphase und mittlerweile schon ziemlich ‘out-of-date’)

  • LiSA sagt:

    Daumen hoch für das Wohnprojekt Wien! Wer Lust hat, selbst Teil eines ähnlichen Vorhabens zu werden: Der Wiener Verein “LiSA – Leben in der Seestadt Aspern” sucht noch weitere Mitglieder! Geplanter Einzug: Herbst 2015. Näheres unter: http://www.lisa.co.at oder via https://www.facebook.com/lisa.aspern.

  • Dian Engelhardt sagt:

    Liebe Michaela,
    habt ihr auch eine barrierefreie Wohnung? Ich kämpfe mit dem PostPolioSyndrom (siehe die Infos in Wikipedia und http://www.beziehungsweise-weiterdenken/Die Krankheit,die Teil meines Lebens wurde.) Ich sitze hin und wieder im Rollstuhl mache aber sehr viel(www.rundumswort-info.de)und meine Mutter ist gebürtige Wienerin…
    Über eine Antwort würde ich mich freuen!
    Diana Engelhardt

  • Antje Schrupp sagt:

    @Diana – ich habe auf der Facebook-Seite des Wohnprojekts nachgefragt und sie sagen, ja, das gesamte Haus ist barrierefrei (allerdings glaube ich, dass keine Wohnungen mehr frei sind dort).

  • Michaela Moser sagt:

    Ja. Unser Haus ist barrierefrei. Und ja: wir sind voll. Haben aber eine Interessent*innen- bzw. Warteliste. Wer da drauf möchte, bitte an interesseATwp-wien.at schreiben, wir melden uns dann, sobald sich in Sachen Wohnungsvergabe wieder was tut oder wenn wir mal einen Infoabend für Interessent*innen machen.

  • gabi Bock sagt:

    liebe Antje,
    herzlichen Dank für diesen Bericht.
    noch in unseren wilden Jahren in der Frauenbewegung haben wir in München die erste Frauen Wohn- und Baugenaossenschaft gegründet, sie haben jetzt das dritte Projekt in München durchgeführt…www.frauenwohnen.de
    Herzliche Grüße aus Bonn . Gabi

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