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Rubrik handeln

Nicht mehr Dieselbe. Sich verändern in einer politischen Bewegung

Von Dorothee Markert

Diotima: Das Fest ist hier

Diotima: Das Fest ist hier

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Valeria Mercandino nahm an der von SchülerInnen und StudentInnen ausgehenden Bewegung teil, die 2008 in Rom in einer riesigen Demonstration gegen das System Berlusconi gipfelte. Valeria hat sich erst in dieser Bewegung, der „Onda“, politisiert. Wie für viele andere war es auch für sie die erste politische Erfahrung und der Anfang einer Entwicklung.

In dieser Zeit begannen Diskussionen über das „bene comune“, das Gemeinwohl. Die Autorin und ihre Mitstudierenden begriffen damals, wie heimtückisch die institutionelle Politik ist. Denn es war ein einziges Finanzgesetz, durch das sich sowohl die Universitätsausbildung als auch die öffentliche Wasserversorgung verschlechtern sollte. Obwohl als Ziele dieser Gesetzesreform Vereinfachung, Wettbewerb, Finanzstabilität und Steuerausgleich genannt wurden, ging es doch letztlich darum, dass der Staat wirtschaftliche Interessen vorantrieb. Die Wirtschaftsentwicklung zeigte sich für die studentischen Gruppen als einziges Interesse der institutionellen Politik. Die Ablehnung dieses staatlichen Systems war der ursprüngliche Antrieb ihrer Initiative.

Doch die Aktionen waren nicht einfach nur Widerstand. Es ging nicht in erster Linie darum, den bedrohten Status zu verteidigen, sondern es gab einen starken Antrieb, die Gelegenheit zu nutzen, um etwas Neues vorzuschlagen und zu etablieren. Im Gespräch über das „Gemeinwohl“ gewann dieses Vorhaben Gestalt. Die jungen Leute wollten nicht nur auf die Privatisierungen und die immer stärkere Monetarisierung des Bildungswesens reagieren, sondern über andere Möglichkeiten nachdenken, wie die öffentlichen Dinge organisiert werden könnten.

In den Diskussionen wurde der Begriff „Gemeinwohl“ zunächst einmal differenziert. Es kam zu der Unterscheidung zwischen staatlich Öffentlichem, nichtstaatlich Öffentlichem und Privatem, wobei jeweils wiederum zwischen Materiellem und Nicht-Materiellem unterschieden werden musste. Schließlich wurde klar, dass es sinnvoller war, von Gemeingütern zu sprechen. Von Federica Giardini und Anna Simone übernahmen die Studierenden die Sichtweise, dass Gemeingüter immer einem komplexen politischen Prozess von Missbrauch, Verlust, Wiederaneignung und Rückgabe unterliegen. Es geht also nicht um eine Verteidigung dieser Güter, sondern um eine Wieder-Aneignung in einer neuen Qualität. Von diesem Gedanken aus machte die Autorin zusammen mit anderen viele Erfahrungen, als sie damit experimentierten, Praktiken der Wieder-Aneignung und der Selbstregierung zu entwickeln. Diese Wieder-Aneignung sollte der Weg sein, die bisherige Ordnung umzukehren. Ausgehend von der Wahrnehmung, wie leer unser Leben unter dem wirtschaftlichen Paradigma wird, unter dem der Satz gilt, „Was du nicht mit Geld bezahlen kannst, musst du mit dem Leben bezahlen“, wollte die Autorin dazu beitragen, diesen Satz umzuschreiben, eine Erzählung zu gestalten, in der das, was nicht mit Geld bezahlt werden kann, uns durch das Leben zurückgegeben wird, in einem Prozess der Wiederaneignung der dafür notwendigen Ressourcen. Die Praktiken dazu waren beispielsweise Universitätsseminare über politisch wichtige Themen, die Studierende und ProfessorInnen auf städtischen Plätzen abhielten, Fakultätsbesetzungen, Theateraufführungen und die Übernahme von verlassenen Orten in der Stadt, die illegitimerweise der Nutzung durch die Öffentlichkeit entzogen worden waren.

Das politische Leben der Autorin, das erst vier Jahre gedauert hat, hat natürlich tiefere Wurzeln. Eine der Grundlagen ist sicher die Begegnung mit der Politik der Frauen, für Valeria Mercandino in der Person Federica Giardinis. Durch die Kontinuität zwischen Frauenpolitik und gemischter Politik, die Valeria praktiziert, wird offensichtlich, dass beide Politikbereiche mehr im Gespräch miteinander sind, als man glaubt. Die Praktiken aus der Politik der Frauen sind in die männliche Politik eingegangen, zumindest wurde über sie nachgedacht. So steht in der heutigen gemischten Politik die Erfahrung im Mittelpunkt, sowohl als Ausgangspunkt eigenen Sprechens als auch als Brille, durch die die Welt, die Politik und verschiedene Entwicklungen interpretiert werden. Die Erfahrung spielt auch in den Politikformen eine große Rolle. Vor allem in kleinen Gruppen gibt es ein starkes Bemühen, Erfahrung in Worte zu fassen – das Stückchen Leben, das die Politik in Gang bringt. Bedürfnisse und Begehren sowie die aufgedeckten Ungerechtigkeiten sind in dieser Politik nicht bereits in einen schon vorher festgefügten Denkrahmen eingeordnet, sondern führen zu einem starken Spannungsverhältnis, das nach einer Praxis ruft, die wirkliche Veränderung hervorbringt.

Viele Frauen und Männer merken, wie viel Gewinn es ihnen bringt, wenn sie an solchen Bewusstwerdungsprozessen teilhaben. Es ist daher wichtig, ihnen auch den Zugang zum politischen Handeln zu erleichtern. Dazu gehört eine öffentliche Sprache, die zu allen Frauen und Männern spricht, aber nicht an ihrer Stelle und in ihrem Namen.

Auch im politischen Handeln selbst spielt die Erfahrung eine Rolle. Das Ziel der in dieser Bewegung praktizierten Politik liegt ja nicht außerhalb der dafür eingesetzten Formen, sondern hat seinen Ort in den Entscheidungen und in den gelebten Beziehungen selbst. Politik in diesem Sinne kann also nicht zu einem Beruf werden, nicht zu etwas, das außerhalb von uns liegt und über das wir verfügen können: Politische Entscheidungen gründen in persönlichen Entscheidungen und gewinnen so ihre Kraft aus der Verbindung von Politik und Leben.

Von zentraler Bedeutung ist für die Autorin daher die Auseinandersetzung mit der Kehrseite des Diskurses über die Allgemeingüter: Wenn wir uns gegen die Zentralität der Wirtschaft wenden und dies nicht nur in theoretischen Diskursen tun, sondern auch auf uns selbst anwenden, impliziert das die totale Revision eigener Prioritätensetzung. Wenn wir die Stärke vermindern wollen, mit der die Wirtschaft uns unter Druck setzt, müssen wir dafür sorgen, dass gemeinsam für das Leben jedes einzelnen Menschen Sorge getragen wird und dass wir persönlich Verantwortung für das gemeinsame Leben übernehmen. Das bedeutet, mit Sozialräumen zu experimentieren, die das Teilen in den Mittelpunkt stellen. Dann kann durch die miteinander verwobenen Beziehungen ein Netz geschaffen werden, das den Mangel auffangen und Möglichkeiten und Initiativen entstehen lassen kann, für die sonst Geld erforderlich gewesen wäre.

Neu geklärt werden muss dafür die Frage, was persönlich und was politisch ist. Da die Politik der Bewegung sich so sehr auf die Beziehungen und das Leben der Einzelnen konzentriert, können wir statt von Allgemeingütern auch einfach vom Gemeinsamen, von der Gemeinsamkeit sprechen, die aufgebaut werden soll. Denn sie ist die Voraussetzung, damit Allgemeingüter geschaffen werden können. Statt von Allgemeingütern (commons) sollte eher von einem Zu-etwas-Gemeinsamem-Machen (commoning) gesprochen werden, wie Giardini und Simone es vorschlagen.

Für Frauen, die in feministischer Politik aktiv sind oder waren, ist der Bezug zur gemischten Politik schwierig. Zum einen fällt es, wie Zamboni, Giardini und Schrupp betonen, oft schwer, die eingetretenen Veränderungen anzuerkennen. Lia Cigarini sagt im Hinblick auf die Frauen vom Ende der 1980er Jahre an, dass es für sie dringlich geworden sei, sich an „Orte der Notwendigkeit“ zu begeben. Sie gehen dorthin im Einklang mit ihrem eigenen Begehren, doch es sind gemischte und daher schwierige Orte, an denen vielleicht die Veränderungen der Frauen und die zwischen Frauen noch nicht einmal im Ansatz wahrgenommen werden. Frauen erleben in der gemischten Politik immer wieder auch Scheitern und Frustration. Lia Cigarini zufolge ist das kein Grund, sie aufzugeben, jedoch ist es notwendig, nach Wegen zu suchen, wie die Politik der Frauen in diesen neuen Situationen Fuß fassen und gleichzeitig durch sie bereichert und verändert werden kann. Valeria Mercandino stimmt Chiara Zambonis Beobachtung zu, dass die jungen Leute diese Herausforderung nicht vermeiden, sie vielmehr suchen, dass sie darin aber oft ziemlich verloren sind. Hier liege, so die Autorin, noch viel Arbeit vor uns. Auch in den Beziehungen unter Frauen sei noch Vieles im Argen, obwohl es dort doch schon mehr Bewusstsein gebe.

Valeria Mercandino hat von ihrer Teilnahme an der Politik der „Onda“ sehr profitiert. Zu einer anderen Selbstwahrnehmung habe es sie geführt, sich mit all den Problemen und Unterschieden auseinanderzusetzen und die eigene Stärke zu spüren, wenn sie in Situationen völliger Orientierungslosigkeit auf die Probe gestellt wird und etwas erfunden werden muss, das einem das Dableiben ermöglicht. Dies erlebte die Autorin besonders eindrücklich bei der Großdemonstration am 14. Dezember 2010 in Rom. Angesichts der Gewalt, die von Seiten der Demonstrierenden und der Ordnungskräfte bei dieser Demonstration zu erwarten war, diskutierte sie mit anderen Studentinnen während der Fakultätsbesetzung einige Tage vorher, ob sie überhaupt teilnehmen sollten. Nachdem der starke Wunsch zur Teilnahme, aber auch Zweifel, Angst und Unentschiedenheit viel Raum bekommen hatten, erfanden die Frauen eine Möglichkeit, wie sie gemeinsam auf den Platz hinunter gehen konnten: Sie bildeten einen Block, der nur aus Frauen bestand, was auch im Demonstrationszug sichtbar und spürbar werden sollte. Nicht ihre männlichen Mitstreiter oder männliche Führer sollten über die Körper der Frauen verfügen und für sie entscheiden. Die Erfahrung der körperlichen Teilnahme, des Sich-gegenseitig-Verteidigens, bewirkte etwas, das durch Miteinander-Reden nicht erreicht und auch nicht durch Worte vermittelt werden kann. Die am eigenen Körper erfahrene Politik ist anstrengend. Es ist dabei nicht möglich, die Verwirrung, Erschöpfung und häufig auch die Traurigkeit und Trostlosigkeit von sich wegzuhalten. Solche Momente verändern uns aber tiefgehend, auch wenn die Worte, die uns helfen können, das zu verstehen, erst viel später auftauchen. Durch ein Gefühl, das gleichzeitig klar und völlig unerklärbar war, merkte die Autorin, dass sie von einem Moment zum andern nicht mehr Dieselbe war.

Diotima, La festa è qui, Napoli 2012, 175 S., € 16,99

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Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 16.10.2014
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