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Warum eine Denkwerkstatt?

Von Andrea Günter

Denkhunger

2015_04_Bild Denkwerkstatt1Nachdem mich über mehrere Semester hinweg Studierende angesprochen haben, ob ich jenseits der offiziellen Seminartätigkeiten und -struk­turen ein Angebot hätte, sie würden gerne mit mir weiterarbeiten, kam ich auf die Idee, eine frei organisierte Denkwerkstatt zu initiieren. Dass ich gerade auf die Idee einer Denkwerkstatt kam, hatte zum einen mit dem konkreten Feed­back von Studierenden in meinen Ethik-Seminaren zu tun, zum anderen mit meiner langen Beschäftigung mit Hannah Arendt, worauf ich als Zweites noch genauer eingehen werde.

Wie kam es zu einer solchen Nachfrage? Immer wieder gab es Seminarsituati­o­nen, in denen ein Großteil der Studierenden weit über die anberaumte Seminarzeit dablieb und mit mir weitersprach. Dazu erklärten mir einige, dass sie in­zwischen schon in höheren Semestern seien und immer dachten, dass sie im Studium re­flek­tieren würden, das würde ja auch immer so benannt. Seitdem sie bei mir im Seminar sind und ich ihnen nahezubringen versuche, dass und wie Ethik ei­ne Reflexionswissenschaft ist, würden sie erst verstehen, was reflektieren sei und wie man es lernen kann. Eine im Seminar eher stille Studentin wiederum kam nach einer Sitzung zu mir und sagte, so habe sie sich das Studieren im­mer vorgestellt und sie bedauere, dass sie erst im 8. Semester, also kurz vor dem Ende ihres Studiums, eine Möglichkeit dafür gefunden hat, ihr Bedürfnis nach Reflexion zu stillen. Sie fühle sich nach den wöchentlichen Seminarsitzun­gen regelmäßig dazu angeregt, sich mit ihren Überzeugungen auseinander­zusetzen, und denke auch noch in den Tagen danach an den Themen weiter. Unser Umgang mit den Sitzungsthemen setze bei ihr einen starken geistigen Selbstveränderungs- und Reifungsprozess in Gang, so dass sie wenig aktiv in den Sitzungen beitragen könne und sich auf das Verfassen ihrer Lerntagebücher konzentrieren wolle.

Ein weiterer Student besuchte nach den zwei Scheinen, die er bei mir machen konnte, über weitere Semester hinweg Seminare. Er sagt mir, diese seien für ihn die beste Berufsvorbereitung aufs Lehramt. Zu den Seminaren „Weltgesell­schaft und Moral“, „Autorität“, „Ethik des Erziehens“, „Das Unterscheiden: eine Grundfähigkeit menschlicher Orientierung“, „Mathematik und Ethik in der pädagogischen Praxis“ sagten er und andere, sie lernten in diesen weit mehr über ihre Aufgabe und Verantwortung als Lehrer als in den für sie anberaumten Pädagogikveranstaltungen.

Gleichzeitig zu solchen Feedbacks nehmen die Klagen von Seiten der Studierenden, die noch nach den Studienordnungen aus der Zeit vor der Bologna-Hochschulreform studieren, darüber zu, wie sich die Bachelorisierung auf das Verhalten der Kommiliton_inn_en auswirkt. Je mehr die Zahl der Studierenden, die nach den ehemaligen Studienordnungen studieren, abnimmt, umso mehr ist die Studienkultur geprägt durch Konsumismus und Creditpoint-Pragmatismus. Zugleich werden es immer weniger, die Erfahrungen mit Denken haben bzw. das Bedürfnis nach Denken äußern.

Denktätigkeiten reflektieren

Meine Beobachtung der Entwicklung des Hungers nach Denken verbindet sich mit einer Aussage von Hannah Arendt, die sich schon seit längerer Zeit in meinem Kopf festgesetzt hat. Hannah Arendt schreibt, sie bedauere, dass nur wenige Denker und Denkerinnen ihre Erfahrungen mit dem Denken nieder­geschrieben haben. Hannah Arendt selbst schrieb Denktagebücher. Als die­se 2002 veröffentlicht wurden, habe ich sie mir sofort gekauft. In diesen Ta­gebüchern finden sich viele Einträge und interessante Gedanken, Gedanken, die erhellen helfen, wie sich Arendts Gedankengänge entwickelt haben. Lei­der habe ich kaum Ausführungen dazu gefunden, die Erfahrungen mit dem Den­ken, also Erfahrungen mit dem Denken als einer spezifischen Tätigkeit do­kumentieren.

Mein Wunsch, Erfahrungen mit dem Denken als Tätigkeit zu reflektieren und das Nachdenken über das Feedback der Studierenden, an Universitäten werde kaum mehr reflektiert, regten mich dazu an, beides miteinander zu verbinden. Im Herbst 2011 bot ich interessierten Studierenden an, in lockerer Folge in mehreren Blocks unseren Erfahrungen mit dem Denken nachzugehen. Diese Initiative nannte ich Denkwerkstatt. Als leitende Fragen haben wir er- und bearbeitet: Welche persönlichen Erfahrungen mit dem Denken bringen wir mit? Wie hängen Denken und Beziehungen zusammen? Welche Intellektualität braucht es heute? Was ist gutes Denken?

Auch für das Wintersemester  2014 startete ich aufgrund der Initiative von Studierenden eine (nun die zweite) Denkwerkstatt. Diesmal wurde der Wunsch an mich herangetragen, Geschlechterfragen zu reflektieren und hierfür das Paradigma Gerechtigkeit zu nutzen. Wie zu zeigen sein wird, handelt es sich auch bei Gerechtigkeit um eine spezielle Epistemologie: um eine Denkbewegung der Proportionalität, die sich nicht von Vergangenem ableitet, sondern sich von der Zukunft her entwirft. Außerdem kam das Anliegen zur Sprache, einen Diskurs zwischen Universität und interessierter Öffentlichkeit zu gestalten. Das Setting, das wir hierfür entworfen haben, und die Erfahrungen, die wir damit gemacht haben, bilden ein eigenes Thema und werden an späterer Stelle ausgeführt.

Diese zweite Initiative führt mich auch dazu, den Zusammenhang zwischen der ersten und der zweiten Denkwerkstatt auszuformulieren. Erfahrungen mit Denken artikulieren, austauschen, reflektieren, weiterentwickeln, um sich an Zukunft auszurichten – sind Hochschulen nicht genau ein Ort dafür, dieses Experiment zu wagen?  Die Entwicklung der Hochschulen hin zu Leistungsträgern für Berufsqualifikationen besteht hingegen vorwiegend darin, bleibt man bei der Unterscheidung zwischen der Reflektion von Gedachtem und der des Denkens als Tätigkeit, schon vorhandene Denkleistungen als Zitat und Wissen zu reproduzieren. Was nun kann es heißen, den Unterschied dazu stark zu machen, Gedachtem nachzuspüren, also nicht nur seine Inhaltsseite, sondern auch die spezielle Denkweise, Denkungsart und Denkleistung in den Blick zu nehmen?

Sofern Hochschulen das Denken als eine spezifische Tätigkeit, für die sie auf besondere Weise zuständig sind, immer mehr aus dem Blick verlieren, reproduzieren sie ferner verstärkt den in der Regel falsch aufgestellten Dualismus von „Theorie und Praxis“. Denn durch die Hochschulentwicklung hin zur Berufsvorbereitung wird deutlich, dass „Praxis“ hier die Funktionalisierung, Vereinnahmung und vor allem Reduzierung von Orten und Praktiken des Denkens auf vorhandene gesellschaftliche Funktionsbereiche meint.

Gegen eine solche Reduzierung kann man das Bildungsideal stark machen, wie es derzeit als Einwand gegen die Bachelorisierung regelmäßig versucht wird. Hierzu hat mir schon immer die Konturierung von Jean Piaget gefallen: „Das Ziel von Bildung ist nicht, Wissen zu vermehren, sondern für das Kind Möglichkeiten zu schaffen, zu erfinden und zu entdecken, Menschen hervorzubringen, die fähig sind, neue Dinge zu tun.“

Bildungsideal(e) und Theorie-Praxis-Dualisierungen

Möglichkeiten erschaffen, entdecken und erfinden, um neue Dinge zu tun, hierzu zählt gerade auch, unsere Aktivitäten des Sprechens, Schreibens und Denkens („word behaviors“/John Dewey) zu beobachten und weiterzuentwickeln. Dem Sprechen und seiner Entwicklung wurde in den letzten Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit gezollt, der Abhängigkeit der Entwicklungen von Kommunikation Tribut gezollt. Jedoch, wie steht es mit dem Denken?

Zu verstehen, inwiefern persönliche und kulturelle Dispositionen von Denktätigkeiten eine Rolle bei der Entwicklung von Möglichkeiten spielen, hilft dabei, neue Denkweisen zu entwickeln. So spricht man in systemischen Diskursen davon, Wirklichkeitsstile (des Sprechens und Denkens) zu unterscheiden, zu vergleichen und gegebenenfalls neue zu entwickeln.[1]

Als eine weitere Alternative zur Funktionalisierung der Hochschule als spezifischer Raum für die Entwicklung von Denktätigkeiten kann neben der Reaktualisierung des Bildungsideals die traditionelle philosophische Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie hochgehalten werden. Um sich die Bedeutung dieser Unterscheidung bewusst zu werden, kann die Einteilung philosophischer Themen vergegenwärtigt werden. Zur praktischen Philosophie zählen die politische Philosophie, die Ethik und die Pädagogik, zur theoretischen Philosophie die Logik, die Metaphysik, die Philosophie des Geistes und der Vernunft.

Die praktische Philosophie geht also keinen Anwendungsfragen nach, sondern entwickelt eine Theorie des menschlichen Tätigseins und der menschlichen Praktiken: in Verschiedenheit miteinander tätig sein (Politik), begründet entscheiden und urteilen (Ethik), erziehen/sich in Form von Generationen miteinander entwickeln (Pädagogik). Die theoretische Philosophie wiederum diskutiert Theorien über das menschliche Theoriebilden von der Metaphysik, der Kunst des Zusammenbindens und gedanklichen Ordnens also,[2] bis hin zu Konzepten der Formate der Vernunft und ihren Kriterien.

Anwendungsfragen bzw. Antworten auf Anwendungsprobleme werden dabei im Zusammenhang mit dem Verständnis von diesen beiden Richtungen menschlichen Theoriebildens verhandelt. Angewandte Ethik stellt daher eine Anwendung der Praktischen Philosophie und Ethik, al­so eine Anwendung der Theorien über ethisches Tun und ethische Praktiken dar. Eine derartige „Anwendung“ kann dabei als gelungen bezeichnet werden, sofern sie nicht in Form eines Ableitungsverhältnisses, sondern aus einer eigens gestifteten dialogischen Methodologie und Abduktion zwischen ethischen Maßstäben/Kriterien und der Anwendungsaufgabe, gewonnen wird.[3]

In dem, was gemäß der Unterscheidung von Theorie und Praxis geordnet wird, findet sich also nicht der Unterschied zwischen „gedacht“ und „nicht gedacht“. Hingegen werden hier zwei Ausrichtungen des Denkens unterschie­den: des Zusammenbindens, Urteilens und Entscheidens. So kann beachtet wer­den, dass das Wort „Theorie“ von Griechisch theorein abgeleitet ist, was „zusammen­schauen“ heißt. Die Theorien (und Vorurteile) des Zusammenschauens werden als Teilaspekt der Praxis des Zusammenschauens kenntlich. Dabei verdeutlicht die All­tagsunterscheidung „Theorie – Praxis“, dass eine Theorie des menschlichen Tätigseins und der menschlichen Praktiken weit über eine  Theorie des Zu­sammenschauens eines Einzelphänomens hinausgeht, zumindest sofern man das Zusammenschauen selbst als ein isoliertes Phänomen betrachtet.

„Theorie“ besteht also in einer Praxis des Zusammenschauens. Auch „Praxis“ ist geleitet von einer Praxis des Zusammenschauens; vermutlich ist eine Theorie eine Art gefrorener Praxis des Zusammenschauens. Die Diskrepanz zwischen „Theorie“ und „Praxis“ ist demnach eine zwischen der einen Praxis des Zusammenschauens und einer anderen Praxis des Zusammenschauens, damit also eine zwischen einer Theorie/Theoriebildungspraxis und einer anderen Theorie/Theoriebildungspraxis. Um ein aktuelles Beispiel zu dieser Diskussion anzuführen, sei auf das Buch „Handwerk“ von Richard Sennett aufmerksam gemacht. Sennett arbeitet heraus, wie in der Verbindung von „Handarbeit“ und dem miteinander in einer Werkstatt Werken eine spezifische Weise des Wissens und Denkens entsteht. Was vernünftig ist, definiert sich damit anders als in solchen Definitionen, die die Vernunft als körperlose Größe betrachten wollen. Der Zusammenhang zwischen dem, was durch „theoretische Philosophie“ und „praktische Philosophie“ unterschieden werden soll, kann und muss mehrpolar profiliert werden: Welches Verständnis von Theorie/Vernunft führt zu welchem Verständnis von Praxis? Und welches Verständnis von Praxis führt zu welchem Verständnis von Theorie/Vernunft?

Wenn wir also die derzeitigen Entwicklungen der Hochschulen hin zu Stätten der Berufsausbildung als Zeichen für die heutige Entwicklung der Tätigkeit des Denkens bedauern, muss dieses Bedauern in einer Kritik an der gegenwärtigen Einschätzung dessen münden, was Denken und letztlich Theorie für das menschliche Tun bedeutet. Dass Hochschulen Anschlüsse an ihre Zeit finden müssen, ihrer Zeit regelrecht verpflichtet sind, heißt noch lange nicht, sie für aktuelle Zwecke zu funktionalisieren, und das außerdem auf eine Weise, durch die Menschen vom Denken, Theorie praktizieren, von Bildung weggeführt statt herangeführt werden. Im Gegenteil, die Aufgabe der Hochschulen wäre es, für ihre Zeit zu entwickeln, worin eine gute Praxis des Zusammenschauens bestehen kann, was also eine gute, für eine nächste Zeitspanne sinnstiftende Theorie der Theorie als eine Theorie der Praxis des Denkens sein könnte.

Aus den Denkwerkstätten sind Sichtweisen und Erkenntnisse hervorgegangen, die Claudia Conrady und ich in einzelnen Texten darstellen werden. Aufgrund des spezifischen Interesses der zweiten Denkwerkstatt wird dabei das Denkbild „Gerechtigkeit“ im Vordergrund stehen. In einem nächsten Beitrag wird dazu die Eigenart von Gerechtigkeit, eine Tätigkeit des Denkens zu sein, dargestellt und profiliert. Diese Sichtweise auf Gerechtigkeit soll in weiteren Beiträgen anhand von unterschiedlichen Beispielen entfaltet und für verschiedene ethische Anfragen an Geschlechterverhältnisse genutzt werden.

 

[1] Vgl. Bernd Schmid, Andrea Günter: Systemische Traumarbeit. Der schöpferische Dialog anhand von Träumen, Göttingen 2012.
[2] Andrea Günter: Weltliebe. Gebürtigkeit, Geschlechterdifferenz und Metaphysik, Königstein/Ts. 2003, 25-46.
[3] Andrea Günter: Konzepte der Ethik – Konzepte der Geschlechterverhältnisse, v.a. 141-155, 164-170, 182-184.

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 02.04.2015
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Eveline Ratzel sagt:

    Anschaufeln bereits gedachten Wissens, das macht fast 100% der Bachelor – Studis, die ich unterrichte. Sie tragen mit ihren Schaufeln schier unüberschaubare Halden ab,und niemand fragt mich nach Denkorten. Einige Wenige kann ich allenfalls verlocken, per Transfer Verbindungen zwischen scheinbar Unzusammenhängendem zu finden. Suchbewegungen wie beim puzzeln arbeiten dann zwar mit bereits Gedachtem, die tätige Suchbewegung weist im guten Falle dann auf Zukünftiges hin – alles unter der Bedingung stressiger Lernanhäufung immerhin. Ich sehe dies schon als freudiges Tun. Und in seltenen Fällen taucht ein Ereignis auf, ganz überraschend und nicht wirklich auf das vorher stattgefundene puzzeln rückführbar. Moments of being, wie sie Tove Janson mit den Hatifnatten in ihren Mumin – Büchern plötzlich auftauchen lässt. Die Mumins jedenfalls halten sich nicht Fragen nach der Herkunft der Hatifnatten auf, schließlich sind sie Jetzige und Zukünftige. Vielleicht hat Bergson ebenfalls an diese ganz und gar nicht possierlichen Wesen gedacht? Diesen einen Gedanken möchte ich heute gerne zu Andreas Denkwerkstatt hinzu gesellinnen (?)

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