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Rubrik denken, studieren

Gerechtigkeit ist eine Denkweise (Teil 1): die Denkleistung der Gerechtigkeit

Von Andrea Günter

Gerechtigkeit, Kognition und Gefühlmobile2-1

Gerechtigkeit ist eine Denkweise. Diese Erkenntnis kann begreiflich werden, wenn beobachtet wird, wie Kinder anfangen zu urteilen „das ist ungerecht!“. Das Urteil „das ist ungerecht“ ist einerseits Ausdruck eines moralischen Selbstverständnisses. Dieses basiert andererseits wiederum auf einer besonderen Analyse- und Denkfähigkeit. Die kindliche Fähigkeit, Ungerechtes zu konstatieren und folglich „Gerechteres“ zu denken, wird im Folgenden beschrieben und als Ausgangspunkt dafür genutzt, die Denkweise Gerechtigkeit genauer zu bestimmen. In späteren Beiträgen unserer Textreihe werden Beispiele mit den Kriterien durchgearbeitet, die der Sichtweise auf Gerechtigkeit als einer Denkweise erwachsen.

Üblicherweise lässt sich das Urteil „das ist ungerecht!“ oder „das ist unfair!“ ab etwa acht Jahren in Alltagsäußerungen von Kindern beobachten. Wenn genauer betrachtet wird, worüber Kinder dabei sprechen, wird deutlich, dass sie zu vergleichen beginnen. Typisch etwa ist die Verbindung von „das ist ungerecht“ mit einer Aussage wie „meine Schwester hat mehr Gummibärchen bekommen als ich.“ Die Situation einer solchen Äußerung zeigt an, dass eine erwachsene Person etwas im Zusammenhang mit einem anderen Kind tut; dieses Tun wiederum vergleicht das sich äußernde Kind mit dem, was es selbst bekommt. Mit solchen Vergleichen stellt es die folgenden Überlegungen an: Bekomme ich das gleiche – die gleiche Menge Gummibärchen wie ein anderes Kind? Wenn nicht, warum nicht? Weil ich gestern schon welche bekommen habe? Wenn mein Geschwister nun mit zwölf Jahren ein Handy bekommt, ist es dann nicht gerecht, dass ich, neun Jahre, auch eines bekomme? Kann ich akzeptieren, dass es Vorher und Nachher oder eine Alterskomponente gibt, wenn es um Geschenke geht? Usw.

Allerdings geht die Kritik „das ist ungerecht“ über den unmittelbaren Mengenvergleich hinaus. Bei der Beschwerde, das Geschwister bekomme mehr Gummibärchen, geht es nicht darum, Zähl- und Rechenfähigkeiten zu demonstrieren. Die Kritik „ungerecht“ umfasst mehr als die Fähigkeit, die jeweilige Anzahl der Gummibärchen zählen zu können und diese miteinander so zu verrechnen, dass die zahlenmäßige Differenz und die Zuordnung auf die Person festgehalten wird (Peter hat drei Gummibärchen mehr als Fridolin). Zum Urteil „ungerecht“/“gerecht“ zählt es gerade, die Auswirkungen einer Handlung auf das spezielle menschliche Beziehungsgefüge einzuschätzen und derart die Bedeutung einer Handlung für die verschiedenen Beziehungen der Beteiligten zu verstehen: Wenn der Bruder mehr bekommt, heißt das dann, dass die Mutter ihn mehr mag als mich? „Fred wird immer bevorzugt“, „ich komme immer als Letzter dran, der Lehrer mag mich nicht“, lauten Beschwerden über Ungerechtigkeit.

Mit diesen ersten Äußerungen zu Ungerechtigkeit ist die Fähigkeit verbunden, wahrzunehmen und zu beurteilen, wie das Tun einer erwachsenen Person die Relation zu mir und zu einem anderen Kind prägt.

Kinder ziehen solche Vergleiche, ohne dabei zu wissen, was Moral ist, ohne dass ihnen jemand einen Vortrag über Gerechtigkeit gehalten hat. Irgendwann, vielleicht sogar verschiedene Male hatten sie das Urteil „das ist ungerecht“ gehört und beginnen es anzuwenden. Um die dafür nötigen Überlegungen zu starten, müssen sie eine bestimmte Komplexität im Denken ausgebildet haben und anwenden können: einschätzen, evtl. zählen können, ob etwas gleich ist, ob verschiedene das Gleiche bekommen, ob sie es gleich oder unterschiedlich bekommen, oder auch, ob sie das Gleiche beitragen (z.B. den Tisch decken: „Ich muss immer abdecken, der nie, das ist ungerecht“); sie müssen ferner identifizieren, wer der Träger des Verteilens ist; dazu von Erwachsenen die Kompetenz erwarten, dass sie Richtiges tun und dabei mehrere Personen angemessen in Blick haben; Auswirkungen auf größere zwischenmenschliche Beziehungen erleben und bedenken; die Bedeutungen von Handlungen für menschliche Beziehungen verstehen; dafür differenzieren können, welche Beziehung eine Gabe an ein Kind zu diesem Kind, weiteren Kindern, Erwachsenen und vor allem auch zu einem selbst stiftet.

In verschiedenen philosophischen Gerechtigkeitstheorien findet sich nun der bei Kindern zu beobachtende Komplex unterschiedlich akzentuiert. So betont Platon gerade die emotionale Dimension „Bedeutung für mich/für andere/für das Zusammenleben aller“. Für diese Dimension hat er unterschieden: was bedeutet eine Handlung

• für mich (ich bekomme weniger).

• für eine konkrete Beziehung (was sagt sie über meine Beziehung zu der   handelnden
Person und von der handelnden Person zu mir aus; was sagt das über meine Beziehung zu einer weiteren Person und von dieser weiteren Person zu mir aus?).

• und für das Zusammenleben aller/die Menschheit (was sagt sie über meine Beziehung zu der handelnden Person und anderen Menschen in Zukunft, der handelnden Person und der anderen Menschen zu mir und zu allen anderen Menschen in Zukunft aus? Wie z.B. wirkt es sich auf das Zusammenleben der Menschen in der Welt aus, wenn Folter akzeptiert wird?).

Unserem heutigen Verständnis folgend wäre dieses 3er-Gefüge auszuweiten, nach den Auswirkungen auf die direkten beteiligten Beziehungen (2) müssen die auf ein bestimmtes Gruppengefüge (Familie, Schulklasse, andere soziale Gruppierungen), dann die auf eine bestimmte Gesellschaft eigens bedacht werden. Diese weiteren Schritte führen zu einem noch differenzierteren und abstrakteren Verständnis der Auswirkungen einer Handlung auf die Menschheit.

Deutlich ist, dass diese verschiedenen Beziehungskonstellationen nicht getrennt behandelt oder gegeneinander aufgerechnet werden können. Kann ein Kind vielleicht trotz seines ersten Gefühls von Unrecht und der Erläuterungen der Erwachsenen akzeptieren, dass sein Geschwister einmal etwas mehr bekommt als es selbst, so kann dies dennoch dazu führen, in Zu- kunft besonders wachsam zu verfolgen, was die Erwachsenen tun und seine Geschwister bekommen. Abhängig von weiteren Erfahrungen mit Gerechtigkeit kann es daraus ein Weltgefühl ableiten, nämlich die Perspektive entwickeln, dass die Welt ungerecht ist. Dieses Urteil wird sich wiederum darauf auswirken, inwiefern es „gerechtes Handeln“ als eine Perspektive anerkennt, die Menschen zu leiten und durchs Leben zu tragen vermag.

Gerechtes Vergleichen, Gleichheit und Differenz

Aristoteles wiederum hat die formale Seite des Vergleichens in den Vordergrund gestellt. In der Nikomachischen Ethik sieht er Unrechtes oder Rechtes in der Relation, die zwischen zwei Menschen und zwei Sachen gebildet wird. Als Ziel von Gerechtigkeitsüberlegungen nennt Aristoteles die (ge)rechte Proportionalität.

Die formale Sichtweise der Aristotelischen Herangehensweise beruht darauf, die Stimmen der einzelnen Personen übergehen zu können. Das Schlüsselloch, durch das das an Aristoteles angelehnte Vergleichen gelangen muss, ist der Komplex von Gleichheit und Differenz. So erklärt Aristoteles, dass etwas gerecht ist, das nach einem Verhältnis unterschieden wird und nach einem Verhältnis gleich ist. Zugleich hält er fest, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden muss.

Die Überlegungen darüber, ob etwas für Frauen gerecht ist, hängen dem Aristotelischen Gerechtigkeitsverständnis zufolge also nicht davon ab, was es für sie, für Männer, für die Beziehung zwischen Frauen und Männern usw. bedeutet und was einzelne Personen über diese Bedeutungszusammenhänge aussagen. Vielmehr hängen diese Überlegungen davon ab, ob Frauen und Männer als gleich oder als ungleich aufgefasst werden.

Wie kaum ein anderes menschliches Verhältnis scheint das der Geschlechter prädestiniert dafür, dass die Fatalität dieses Mechanismus kaum auffällt. Waren es bei Aristoteles Sklaven, Kinder und Frauen, die er als ungleich definiert hat und die deshalb auch ungleich behandelt werden konnten, so scheint die Annahme von Ungleichheit für Sklaven im Laufe der Jahrhunderte überholt, die für Kinder wurde ausdifferenziert, während in Bezug auf Frauen nach wie vor ein unreflektiertes und willkürliches Argumentieren mit „gleich“ und „verschieden“ vorherrscht.

Das Schädliche der Argumentation „Ungleiche“ müssen ungleich behandelt werden, ist, dass Gerechtigkeitsüberlegungen damit von Identitäts-vorstellungen abgeleitet werden. Sind Identitätsstereotype entlang der Figur Gleichheit/Differenz gebildet, muss entlang dieser Einteilungen nur noch deduziert, also geschlussfolgert werden, worin Frauen als Ungleiche und worin sie als Gleiche zu behandeln sind. Damit steht fest, was für Frauen und was für Männer gerecht ist. Geschlechtergerechtigkeit wird zum bürokratischen Akt. Identitätsannahmen bieten den Kriterienkatalog, nach dem gerechnet wird. Die Denkweisen des Bürokratischen bilden die Praxis, nach der Gerechteres entwickelt wird.

Gerechtigkeit wäre somit vorgegeben. Die Stimme der Einzelnen braucht es nicht. Es gibt keinen Raum für den Einwand „das bedeutet für mich aber“. Ebenso wenig findet die Bedeutung von einer Handlung für konkrete andere und das menschliche Beziehungsgefüge Berücksichtigung. In einem späteren Beitrag wird Claudia Conrady den Unterschied zwischen einer solchen Identitätslogik und dem Sprechen in erster Person am Beispiel des Satzes „ich bin lesbisch“ herausarbeiten.2015-08-18 22.01.36_bFür Anfragen an die Geschlechtergerechtigkeit der Verhältnisse ist eine solche Reduzierung des Gerechtigkeitskomplexes mehrfach problematisch. Die Überlegungen zur Anfrage „Was bedeutet etwas für Frauen“ werden in ihrer Komplexität unterlaufen. Wenn es zum Beispiel um Gewalt gegenüber Frauen als Frage der Gerechtigkeit geht, so besteht die Komplexität dieser Anfrage darin, dass in einer solchen Frage ein ganzer Fragekatalog angelegt ist: „Was bedeutet Gewalt für Frauen?“, „Was bedeutet Gewalt gegenüber einer Frau für andere Frauen?“, „Was bedeutet Gewalt gegenüber Frauen für Männer?“, „Was bedeutet Gewalt eines Mannes gegenüber einer Frau für andere Männer?“, usw. Um nach solchen Bedeutungskomplexen zu fragen, müssen die Stimmen der Menschen gehört werden, Menschen müssen sich persönlich äußern. Ein deduktives Verfahren, das identitätslogische Argumente hochhält wie „Männer sind triebgesteuert und müssen ihre Aggressivität ausleben“, ist wenigsten bei solchen Themenstellungen in westlichen Kontexten zum Glück nicht mehr akzeptiert.

Allerdings ist schon das Aristotelische Schema nicht so eindeutig identitätslogisch ausgelegt, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn Aristoteles spricht nicht vom Vergleich einer Substanz (Mann) mit einer anderen Substanz (Frau). Vielmehr spricht er vom Vergleich eines Verhält-nisses mit einem anderen Verhältnis. Wird also unter der Orientierung an Gerechtigkeit verstanden, dass ein ungerechtes Verhältnis in ein gerechteres transformiert werden soll, dann wird auch Gleichheit/Differenz anders als identitätslogisch eingesetzt. Dann wird Gleichheit/Differenz zum Scharnier dafür, ausgehend von der Suche nach einem gerechteren Verhältnis, die Veränderungshandlungen in der Gegenwart zu bestimmen. Damit aber hat auch die Aussage, Gleiches muss gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden, jeglichen Sinn verloren.

Gleichheit/            Gerechtigkeit
Differenz

    ungerechtes Verhältnis
Mann –  Frau                            gerechtere -Verhältnisse

Differenz: Bewegung in der Zeit
Bedeutungen artikulieren

Vergangenheit            Veränderung der Verhältnisse             Zukunft

Indem als Ausgangspunkt für Gerechtigkeitsüberlegungen also ein ungerechtes Verhältnis genommen wird, wird Gerechtigkeit als eine eigene, gerade nicht geschlechteridentitätslogische Denkweise kenntlich. Diese Denkweise kann methodologisch genutzt werden. In ihrem Text über Heterosexualität und Homosexualität wird Claudia Conrady diese Denkweise aufgreifen und verdeutlichen, zu welchen Klärungen von Argumenten es führt, wenn die Denkweise „Gerechtigkeit“ von der identitätslogischen Denkweise unterschieden wird.

Durch die kritische Auseinandersetzung mit Aristoteles – dessen Konzept „Ungleiche müssen ungleich, Gleiche gleich behandelt werden“ nach wie vor z.B. die us-amerikanische Verfassung leitet – muss festgehalten werden, dass es gerechte und ungerechte Konzepte von Gerechtigkeit gibt. Eine unkritische, naive Rede von Gerechtigkeit liegt meist sogar unter der Komplexität, die Kinder zutage legen, wenn sie anfangen zu beurteilen, ob etwas ungerecht ist. Anders gesagt, es braucht eine kritische Theorie der Gerechtigkeit, um die Maßstäbe und Denkweisen zu verdeutlichen, denen Gerechtigkeitskonzepte folgen müssen.

Hier geht es zu Teil 2.

Autorin: Andrea Günter
Redakteurin: Christel Göttert
Eingestellt am: 09.06.2015
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