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Rubrik denken

Speculum, der andere Mann. Acht Punkte zu den Schreckgespenstern von Köln

Von Ida Dominijanni

Alessandra Bocchetti, Feministin
Ida Dominijanni, Journalistin
Bianca Pomeranzi, Expertin für Gender-Politik und internationale Zusammenarbeit
Bia Sarasini, Journalistin und Essayistin

Dieser Text ist das Ergebnis eines Treffens italienischer Feministinnen zu den Ereignissen von Köln, das im internationalen Kultur-, Begegnungs- und Beratungszentrum für Frauen „Casa Internazionale delle Donne” in Rom stattgefunden hat. Er erschien am 3. Februar auf www.internazionale.it. Wir danken den Autorinnen für die Erlaubnis, ihn hier auf Deutsch zu veröffentlichen, und Anja Flammersberger für die Übersetzung. Weitere Informationen, Kontaktdaten und Berichte (auf Italienisch) siehe www.facebook.com/suglispettridicolonia.

Eine schwarze Hand greift Angela Merkel zwischen die in eng anliegende weiße Strümpfe gehüllten Beine, gleitet hinauf, bis sie ihre Genitalien berührt; der obere Teil ihres Körpers ist noch mit einem ihrer berühmten farbenfrohen Blazer bedeckt, aber jetzt – das versucht uns dieses Bild zu sagen – nachdem sie durch die intrusive Belästigung des schwarzen Mannes bloßgestellt wurde, hat die Kaiserin keine Kleider mehr an. So präsentiert sich die Karikatur, die die Süddeutsche Zeitung als Kommentar zu den Ereignissen von Köln veröffentlicht hatte. Angesichts des Sexismus der „schwarzen Männer“, die an Silvester „weiße Frauen“ belästigten, antworten die „weißen Männer“ mit demselben Sexismus, der sich gegen ihre eigene Kanzlerin wendet.

Sicherlich ist diese Reaktion obszön, aber in ihrem Extremismus ebenso aussagekräftig. Vielleicht hatte Michel Houellebecq recht mit seiner vergleichbar misogynen Unterwerfung? Kratzt man an der Oberfläche des Hasses der europäischen Männer gegen die islamischen Eindringlinge, stößt man auf Neid. Neid auf die Unterwerfung der Frauen, die die Invasoren, die „Besatzer“ – im Gegensatz zu den „Besetzten“ – immer noch genießen können. Dieser Neid ist das genaue Spiegelbild zum Neid der Invasoren in Bezug auf die sexuelle Freiheit der Frauen, über die die Besetzten verfügen können – ein Neid, der sich ganz leicht im „Begehren westlicher Lebensart“ fassen lässt, das die Angreifer in Köln in dieser Nacht dazu trieb, auf ihre eigene gewaltsame Weise das berauschende, alkoholgetränkte Vergnügen zu kopieren, das an Silvester in dieser und zahllosen anderen europäischen Städten so viele um den Verstand bringt.

Seit 9/11, als wir wie in einem Hollywood-Spektakel Zeuge wurden, wie die beiden Flugzeuge in die Twin Towers eindrangen und Manhattan verwundeten (achten Sie auch hier wieder auf die Metapher der Vergewaltigung), hätten wir ein für alle Mal verstehen müssen, dass diese Akte der Gewalt und des Terrors, auch wenn sie im Westen so interpretiert wurden, als wären sie von einem anderen Planeten gekommen, mit Spuren, Techniken, Gewohnheiten und Bräuchen durchsetzt sind, die aus unserer eigenen Welt stammen. Es handelt sich hier nicht einfach um die Rückkehr der Wilden, die einige in Köln in Aktion zu sehen glaubten: Die „Überlegenheit“ des Westens hält sich zäh, und selbst wenn sie die reale Welt nicht mehr regiert, so ist sie doch in der globalen Vorstellung immer noch tonangebend. Die „Anderen“ sehen sich selbst in ihrem Spiegel, auch dann, wenn sie ihr mit Gewalt begegnen.

Die Tatsachen

Wie wir wissen, sind Geister im Spiel mit dem Spiegel wahrhaft zu Hause. Vielleicht geschah es aus diesem Grund, dass sie auf dem Domvorplatz in Köln schneller Gestalt und Substanz angenommen haben, als es den realen Tatsachen gelang. Einen Monat später liegt immer noch ein ziemlicher Nebel über den Tatsachen an sich. Wir kennen die wesentlichen Fakten dessen, was in dieser Nacht geschah, aber wir kennen einige wichtige Details nicht und werden sie wahrscheinlich niemals kennenlernen.

Eine Horde junger Männer, vielleicht 500 oder 1000, „mit arabischem und nordafrikanischem Aussehen“, versammelte sich betrunken im Bahnhof, begab sich in Gruppen zum Domvorplatz, beraubte, begrapschte und belästigte schwer rund hundert, zumeist weiße deutsche Frauen, die entweder allein, mit einem Freund oder einer Freundin oder in Gruppen unterwegs waren, während die Polizei völlig passiv blieb, dastand und zuschaute und nicht realisierte, was da vor sich ging, jedenfalls aber nicht in der Lage war, die Geschehnisse zu stoppen.

Rekonstruktionen dieser Vorgänge, die auf den Zeugenaussagen der Frauen und den eigenen Berichten der Polizei basieren, beschreiben die Diebstähle und Belästigungen, die diese Frauen erlitten, in ziemlichem Detail; einige der Opfer berichten, dass sie um ihr Leben fürchteten. Und doch sind da immer noch viele Lücken. Wer waren diese Männer, woher kamen sie, wie kamen sie an, und warum konnten sie sich ungestört im Bahnhof versammeln? Wenn sie alle „von arabischem und nordafrikanischem Aussehen“ waren, wie kommt es dann, dass die 31 wegen Übergriffen und Raub verhafteten Männer auch einen Amerikaner und drei Deutsche umfassten? Waren diese ebenfalls nordafrikanische Auswanderer aus den USA und Deutschland, oder bedeutet ihre Anwesenheit, dass wir bei ihrer Identifikation, die allein anhand ihrer Hautfarbe stattfand, mit Vorsicht vorgehen müssen? 19 der 31 verhafteten Männer waren Asylsuchende und von diesen ist gerade mal einer verdächtig, eine andere Person belästigt zu haben; darüber hinaus wurde in dieser Nacht nach Aussage einer Zeugin, auf die sich die New York Times beruft, eine amerikanische Touristin von syrischen Asylsuchenden gerettet, die sich zu ihrer Verteidigung schützend vor sie stellten. Ein paar Tage später demonstrierten mehrere hundert syrische Flüchtlinge selbst gegen Gewalt, Rassismus und Sexismus. Rechtfertigen diese Zahlen, dass nun mit Fingern auf Merkels Flüchtlingspolitik gezeigt wird?

Doch es geht noch weiter. Obwohl die Polizei wegen der Gefahr von Angriffen in Alarmbereitschaft war, erwies sie sich als völlig machtlos, die Masse an Angreifern in Schach halten und zerstreuen zu können, und wahrte ein viertägiges Stillschweigen über das, was geschehen war, genau wie das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen. Ist dieses Unvermögen und dieses Stillschweigen auf eine zugunsten der Migranten eingestellte und „politisch-korrekte“ Prüderie zurückzuführen, wie einige sowohl in Deutschland, als auch in Italien behaupteten – oder vielmehr auf die Unterschätzung der sexuellen Gewalt in einem Land, in dem eine von drei Frauen bereits solche Gewalt erlitten hat (und zwar von Männern, die zu 70 Prozent Deutsche und keine Araber sind) und in dem man im Hinblick auf solche Grapschereien an Silvester, genau wie beim Oktoberfest, ein Auge zudrückt?

Und nicht zuletzt hat sich vergleichbare Gewalt in derselben Nacht auch in anderen deutschen Städten zugetragen, genauso wie in Schweden, Finnland und Österreich, was uns legitimer Weise zu der Vermutung führen kann, dass es sich dabei um eine konzertierte Provokation gehandelt haben könnte. Ab einem bestimmten Punkt wurde dieser Verdacht zu einer Gewissheit, die sich über die Titelseiten der deutschen und italienischen Zeitungen ausbreitete, bevor sie am nächsten Tag wieder vergessen war. Ist es möglich, dass die mächtigen Instrumente der deutschen und europäischen Geheimdienste weder in der Lage waren, diesen Verdacht zu bestätigen, noch ihn zu widerlegen, ganz gleich wie entscheidend dieser ist, um bewerten zu können, was sich da in Wirklichkeit ereignet hat? Noch einmal: Wurden die Angriffe in dem Versuch heruntergespielt, Merkels Integrationspolitik zu begünstigen, wie dies die rechte Meinung behauptet? Oder weil sie, wie wir legitimer Weise vermuten könnten, schlicht als bagatelles pour dames betrachtet wurden?

Gespenster

Die Antwort auf diese Fragen werden wir wohl niemals erhalten, und zwar aus dem einfachen Grund, weil diese Nacht in Köln die Wirkung hatte, die sie unweigerlich haben musste, ungeachtet einer detaillierten Rekonstruktion der Tatsachen. Und die Wirkung war eine schnelle, kraftvolle Mobilisierung der europäischen Imaginationskraft – wie auch auf islamischer Seite – in Bezug auf Sex und Rasse. Wenn diese beiden Faktoren miteinander in Verbindung gebracht werden, wie dies auf der globalen Bühne heute immer zu sein scheint, können sie explosive Cocktails produzieren.

Was die islamische Seite betrifft, so können wir von Glück sagen, wenn sie den Überzeugungen eines Kölner Imams nur wenig Bedeutung beimisst, der behauptete, dass die Frauen in Köln in dieser Nacht die Belästigungen geradezu herausgefordert hätten, da sie mehr Parfüm als Kleidung getragen hätten. Nichtsdestotrotz sagen seine „extremen“ Behauptungen eine Menge über das Islamische Regime des Sagbaren aus, das es einem vorgeblichen spirituellen Führer erlaubt, die Segregation der Frauen zu institutionalisieren (und übrigens, sollten wir wirklich so geschockt sein? Wie viele Male haben wir nicht schon gehört: „sie hat es ja direkt herausgefordert“, womit – auch in Italien – sexuelle Gewalt rechtfertigt wird?).

Was die Seite des Westens angeht, so ist das alte koloniale Gespenst von der schwarzen Hand, die die weißen Frauen vergewaltigt – so wie dies die Karikatur in der Süddeutschen Zeitung so deutlich zeigt – in aktualisierter Form zurückgekommen, passend zu den Bedenken eines Europa, das von der Angst vor porösen Grenzen, der unkontrollierbaren Migration, fallenden Geburtenraten, der terroristischen Bedrohung, dem wirtschaftlichen Niedergang, der neoliberalen Ohnmacht und politischer Unordnung besessen ist. In diesem Kontext bedeutet das Übertragen dieses kolonialen Gespenstes auf die heutige Zeit, es für den „Kampf der Kulturen“ ins Feld zu führen, der nun angeblich im Gange ist. Der Schwarze Mann wird nun zum Muslim, der die Frauen unterdrückt – seine eigenen Frauen und die der anderen auch – und der mit seinem Angriff auf weiße Frauen die gesamte westliche Gesellschaft attackiert. Und hierbei handelt es sich um eine westliche Gesellschaft, die vorgibt, dass sie angeblich die Frauen liebt, sie emanzipiert und befreit, sie mit Rechten schützt, die von „ihren“ Männern verteidigt werden, die bereit sind, jederzeit in den Ring zu steigen, um „ihre“ Frauen zu verteidigen.

Was hieraus folgt, ist die Mobilisierung der Frauen zur Verteidigung der westlichen Zivilisation – und hiermit verbunden, der Fingerzeig auf diejenigen Frauen, die sich der Sache verweigern. Diejenigen Frauen nämlich, die sich nicht zur Verteidigung melden; diejenigen Frauen, die doch einige Zweifel hinsichtlich der westlichen Zivilisation und deren Liebe in Bezug auf Frauen hegen; diejenigen Frauen, die auch im Westen und nicht nur im Nahen Osten Gewalt gegen Frauen sehen; diejenigen Frauen, die Bedenken haben, wenn sie „ihre“ Männer verteidigen sollen; diejenigen, die muslimischen Frauen gegenüber aus ihren errungenen Rechten keine Mauer bauen, noch zur Verteidigung einen Berg aus Kleidungsstücken aufhäufen, die sie beim letzten Ausverkauf erstanden haben, sondern stattdessen versuchen, eine Brücke für eine gemeinsame Verpflichtung zur Freiheit der Frauen zu bauen.

Dies sind im Wesentlichen wir Feministinnen, die wir uns (selbstverständlich) gegen die feindliche Front der „politisch korrekten“ Scheinheiligkeit gegenüber dem islamischen Fanatismus formieren sollen. Auch wenn – ironisch genug – unsere Ankläger kurz darauf schon mit der Entscheidung der italienischen Regierung zu kämpfen hatten, Statuen in den kapitolinischen Museen in Rom aus Ehrfurcht vor dem iranischen Präsidenten Rouhani verhüllen zu lassen, der am vergangenen Wochenende die italienische Hauptstadt besuchte.

Hexen

„Wo sind die Feministinnen?“ Als die Nachricht von Köln gerade noch dabei war, tröpfchenweise hereinzukommen, begann auch schon die Hexenjagd. Sobald der Hauptschuldige gefunden war – der schwarze Mann – gingen die Medien (männliche wie weibliche) unter Trommelwirbel auf die Suche nach dem Schuldigen Nummer Zwei – der weißen Feministin. Ihr Vergehen? Stillzuhalten, sich zu verstecken, nicht zu verurteilen, mit den Migranten und der Linken, die die Migranten verteidigt (tut sie das?), gemeinsame Sache zu machen, „ihren“ Männern wegen jeder kleinen Nichtigkeit auf die Nerven zu gehen, als ob sie barbarisch sei, und dennoch ihre Augen gegenüber den schändlichen Taten der „wahren“ Barbaren zu verschließen.

Währenddessen waren die Feministinnen in Köln bereits auf der Straße und protestierten sowohl gegen Sexismus als auch gegen Rassismus. Und überall in Europa und darüber hinaus waren sie am Werk, um dem Gerede in Talkshows und Mainstream-Presse Paroli zu bieten: Es galt, eine neue Situation zu verstehen und sie in nicht-hysterischen Begriffen zu interpretieren, beides Dinge, die die Hysterie der Massenmedien nicht in Erwägung ziehen kann. Und sie sprachen überall, wo sie zu Wort kamen, was bedeutet, außerhalb der offiziellen Informationskanäle, von denen sie ignoriert wurden, um sie des Stillschweigens anklagen zu können – des nicht Sichtbar-Seins, des Nicht-Existierens, des Verloren-Habens. Sie erhoben das Wort: und überall dort, wo sie – in Ost und West, Nord und Süd – das sagten, was sie seit 9/11 schon immer gesagt hatten: dass sie es sich nicht erlauben würden, sich in irgendeinen Kampf der Kulturen verwickeln zu lassen, und zwar aus dem guten Grund, weil die fraglichen Kulturen alle beide durch das Patriarchat charakterisiert sind, beide vom Gegensatz zwischen den Geschlechtern gespalten sind und beide durch den Geschlechterkonflikt, den die Frauen aufgeworfen haben, positiv geprägt wurden. Das Brett vor dem Kopf einer anderen Person bewahrt uns nicht davor, das Staubkorn in unserem eigenen Auge zu betrachten. Und der Stolz auf unsere Errungenschaften als westliche Frauen befreit uns nicht davon, anzuerkennen, welche Kämpfe Frauen aus der nicht-westlichen Welt für ihre Freiheit auf sich nehmen.

Monopole

Es gibt kein islamisches Monopol auf Gewalt und die Unterwerfung der Frau. Und genauso wenig gibt es ein westliches oder demokratisches Monopol auf die Freiheiten der Frauen.

Für uns alle evozierten die Angriffe in dieser Nacht in Köln sehr vertraute Situationen. Die erregten und komplizenhaften Blicke der Männer, die in den Bars unserer südlichen Regionen stets allein anzutreffen sind. Die Gruppen junger Männer, die an unseren Schulen Schülerinnen belästigen, sie manchmal auch vergewaltigen. Das Gespür für Unsicherheit und Verletzlichkeit, das uns wie eine zweite Haut insbesondere dann begleitet, wenn wir des Nachts in den Straßen unterwegs sind. Die Berichte über Vergewaltigungen, Gewalt und Frauenmorde, die die Schlagzeilen unserer Tageszeitungen füllen. Die männlichen Missverständnisse in Bezug auf die sexuelle Verfügbarkeit der Frau, das die Ratgeberseiten unserer Wochenmagazine füllt. Wir könnten die Aufzählung fortsetzen, aber das ist nicht nötig: leider ist die männliche Gewalt gegen Frauen eines der wenigen Beispiele für universelles Verhalten, das in der Welt immer noch bekannt ist. Und es verschwindet auch nicht, sondern tendiert sogar in den Ländern dazu zuzunehmen, in denen die Emanzipation der Frau am besten etabliert ist. Die männliche Hybris beugt sich nicht vor verfassungsrechtlich garantierten Rechten, der Gleichstellung der Geschlechter, der Staatsbürgerschaft, noch angesichts der Erwerbstätigkeit und Übernahme politischer Führungsverantwortung auf Seiten der Frauen. Im Gegenteil, diese Dinge scheinen sie noch zu nähren, vielleicht weil sie Angst einflößen.

Dies bedeutet, dass zwischen der westlichen Zivilisation und der Freiheit der Frau keine automatische Beziehung – keine Ursache-Wirkungs-Relation – besteht. Wie Freud und Hobbes uns in Erinnerung rufen, entstanden die westliche Kultur und die modernen Staaten aus einem Pakt zwischen gewalttätigen Männern, die sich selbst von der väterlichen Autorität befreiten und dann deren Erbe unter sich aufteilten, wobei sie die Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannten und sie in der Familie unterwarfen. Im Lauf der Moderne gab die westliche Kultur den Frauen die Freiheit nicht als Geschenk: es waren die Frauen, die sie sich mit ihren eigenen Kämpfen, u.a. auch und einschließlich gegen die westliche Kultur, erobern mussten.

Heutigen Demokratien fällt es schwer, diese Eroberungen anzuerkennen, und sie übersetzen diese stattdessen – wodurch sie sie oft genug verraten – in die Rede von Gleichheit und Rechten. Aber es herrscht eine anhaltende Spannung zwischen der Freiheit der Frauen und den westlichen Sozialordnungen: Denn die Freiheit der Frauen hängt in erster Linie von den Frauen selbst ab, von ihren Kämpfen und ihrer Autonomie. Weniger denn je ist es möglich, die Freiheit der Frauen mit der Freiheit des Marktes oder mit einem generischen „Westlichen Lebensstil“ gleichzusetzen, wie eine neoliberale Ideologie in den Spalten der großen italienischen Tageszeitungen uns unablässig einzuhämmern versucht. Sich feinmachen oder ins Kino oder in einen Club zu gehen, wenn man will, sind sicherlich angenehme Dinge, auf die wir keinesfalls verzichten wollten; aber sie können ebenso Bedingungen der Abhängigkeit vom Markt, von Geld, von auferlegten „Kanons“ und den Blicken anderer implizieren, die mit der existentiellen Freiheit und der Politik nur wenig zu tun haben, die wir durch den Feminismus gewonnen haben. Der Westen ist nicht der Garten Eden für die Freiheit der Frauen: und nur indem wir diese kritische Position im Hinblick auf „unsere eigene“ Kultur einnehmen, können wir in andere Welten vordringen oder die Wirkung begreifen, die andere Welten auf unsere eigene ausüben.

Unterschiede

Wenn wir solche Dinge sagen oder schreiben, werfen uns manche unserer Freunde vor, das Patriarchat als eine universelle, undifferenzierte Kategorie zu verwenden, was dazu führte, dass wir alle Situationen über einen Kamm scherten, ohne zu sehen, dass das Patriarchat mit verschiedenen Dominanzsystemen zusammenhängt; ohne zu sehen, dass es sich in verschiedenen Stufen der weiblichen Unterdrückung und des männlichen Missbrauchs auskristallisiert hat, was wiederum verschiedene Kampfstrategien erforderlich macht. Aber das ist nicht der Fall. Wir sind uns sehr wohl bewusst – traurig bewusst –, dass die heutige politisch-religiöse Radikalisierung das Leben der Frauen in islamischen Ländern verschlechtert, indem sie der männlichen Dominanz zu frischer ideologischer Legitimation verhilft.

Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass sich die Gewalt gegen Frauen für ISIS und Boko Haram zu einem erbarmungslosen Werbekarussell entwickelt hat; dass sich die männliche Frustration angesichts der erfolglosen Revolution auf die Frauen am Tahrir-Platz entladen hat; und dass Frauen in Ländern wie dem Afghanistan der Taliban erneut der Segregation unterliegen, die fast schon überwunden zu sein schien. Und wir wissen, dass wir dem und auch den anderen Auswirkungen der globalen Unordnung heutiger Tage nicht gerecht werden, weil Kriege die Praxis der Verbindungen zu anderen Frauen, die doch für eine Frauenpolitik so grundlegend ist, an der Wurzel kappen. So laut wir auch mit Verärgerung aufschreien und unsere Solidarität zum Ausdruck bringen, dafür haben wir keinen Ersatz.

Wir sind uns darüber hinaus bewusst, dass die Migration das Problem der Beziehungen zwischen den Geschlechtern nicht löst, sondern vielmehr vervielfältigt. Heute müssen wir auch noch beweisen, dass wir die Verteidigung der Freiheit der Frau über Gutmenschen-Positionen im Rahmen der Flüchtlingspolitik stellen. Wir geben genau diese Frage an diejenigen zurück, die sie stellen, um uns anzugreifen. Sicher waren nicht wir es, die jahrelang im Neutrum über Migranten und Flüchtlinge sprachen, als ob der Status eines Migranten oder Flüchtlings irgendwie die Geschlechterdifferenz geradezu wegradierte. Er löscht sie nicht, und wir brauchten nicht erst die Ereignisse von Köln, um zu realisieren, dass die Aufnahme von Migranten und die sogenannte Integration kein Zuckerschlecken sind. Wir brauchten nicht erst die Ereignisse von Köln, um zu realisieren, dass sich die Normen und Gewohnheiten fremder Gemeinschaften fast immer mit unserer eigenen beißen, und dass die Schwierigkeiten der Integration diese häufig noch weiter verknöchern, was die Segregation der Frauen innerhalb dieser Communities sogar noch härter macht; um  zu sehen, dass Frauen immer  – im Frieden, wie im Krieg – der Einsatz für einen sozialen Austausch sind, der durch kulturelle Reibereien rau und manchmal sogar unerträglich wird.

Und wir brauchten die Ereignisse von Köln auch nicht, um – mit Scham – zu realisieren, dass eine Politik zur Aufnahme von Migranten, die die Geschlechterdifferenz nicht berücksichtigt, eine schlechte Politik ist. Dort, wo reine Männer-Ghettos geschaffen werden, unabhängig davon, ob islamischer oder sonstiger Prägung, besteht immer die erhöhte Gefahr, dass sie sich zu Banden zusammenschließen. Wo der Handel mit Frauen organisiert und toleriert wird, sind Prostitution und deren Ausbeutung programmiert. Und doch müssen wir uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass das Problem der gewalttätigen Bedrohung der sozialen Koexistenz auf den männlichen Anteil der Migranten zurückgeht. Es sind Männer, mehr als Frauen, die aggressiv auf die Auswirkungen des Zusammenpralls mit dem Gastland reagieren. Und es sind mehr Frauen als Männer – denken Sie nur an die privaten Altenpflegerinnen, die in Italien leben und arbeiten, oder die Frauen, die in den Aufnahmezentren oder im Bereich der kulturellen Mediation arbeiten oder Sprachunterricht für Migranten erteilen – die sich um das Zusammenleben und die Beziehungen zwischen verschiedenen Welten kümmern, indem sie die weibliche Zivilisationsarbeit fortsetzen, die von männlicher Gewalt überdeckt und zerstört wird.

Dies ist wenigstens eine gute Nachricht: und es ist nicht die einzige, solange wir, wenn wir darauf schauen, was geschieht, Frauen im Rahmen der gerade ablaufenden Veränderungen als aktive Subjekte begreifen, und nicht als passive Objekte.

Ein düsterer Chor

Es brauchte nur die Angriffe einer Nacht in Köln und in den anderen betroffenen Städten, um uns alle hinwegzufegen – sowohl westliche als auch nordafrikanische Frauen –, um uns als designierte Opfer, als Gefährdete und Verliererinnen des angeblichen „Kampfes der Kulturen“ in eine Schublade zu stecken. Jedoch ist das Zu-Opfern-Erklären von Frauen eine der Strategien, die am häufigsten verwendet werden, um Frauen zu domestizieren: Es dient dazu, die weibliche Subjektivität zu verstecken und zu unterdrücken, wie auch die soziale, politische und künstlerische Praxis, in der sie sich ausdrückt.

In einem Kontext, der durch nie dagewesene Veränderungen, Verwerfungslinien und Kriege gekennzeichnet ist, kämpfen Frauen heute überall für ihre eigene Freiheit; überall eröffnen sie Fronten des Konflikts mit dem anderen Geschlecht; überall brechen sie aus den Schemata aus, die ihnen aufgezwungen werden; überall überschreiten sie die normativen Vorschriften, die ihre Existenz bedingen; überall bauen sie Verbindungen zu Frauen mit anderen Hintergründen und aus anderen Kulturen auf. Dieses Wort „überall” gilt in Bezug auf die westlichen Gesellschaften für das ganze vergangene Jahrhundert; und wir werden all diejenigen Medien, die uns für tot und besiegt erklären, wann immer sie können, sehr wohl daran erinnern. Aber es gilt heute in erster Linie für die muslimische Welt.

Wir erfahren es von den fachkundigen Analystinnen, auf die niemand hört, die uns die Unterschiede, die Artikulationen und die Kombinationen aus religiösem und staatlichem Recht in dieser Welt erklären, und die damit verbundenen Unterschiede bei den Lebensbedingungen der Frauen, ihrer Subjektivität und ihren Revolten. Wir erfahren es genauso von den Migrantinnen, denen wir bei unseren alltäglichen Aktivitäten begegnen; aus den Geschichten, die wir in den Frauenhäusern hören, an die sich die Unglücklichsten wenden, um die Kraft zu finden, sich gegen einen Vater, einen Ehemann, einen Bruder zur Wehr zu setzen; aus den Zeuginnenberichten der Kriegsüberlebenden und der Protagonistinnen der Revolten. Wir erfahren dies auch von Schriftstellerinnen, durch die Kunstwerke von Künstlerinnen, durch Filme der Regisseurinnen, durch das Denken der Philosophinnen, wie auch durch die Lektüre des Korans durch Theologinnen. Und wir wissen auch, dass der Weg der muslimischen Frau zur Freiheit nicht immer oder notwendiger Weise über deren Verwestlichung führt – das heißt durch eine laizistische Emanzipation, juristisch unterstützt durch die Verfasstheit der Rechte und die Rede von der Parität, eine Emanzipation, die sich gegen die östliche Vorschrift erhebt, den Körper der Frau zu verschleiern, genauso wie sie sich weigert, dem entgegengesetzten westlichen Gebot zu dessen Enthüllung zu gehorchen.

Aus diesem Grund sagen wir uns ganz klar von dem düsteren Chor los, der die Ereignisse von Köln in den italienischen und europäischen Medien begleitet hat. Wenn man den Stimmen der Frauen zuhört und diese nicht zum Schweigen gebracht werden, berichten sie von einer weit differenzierteren Realität als von dem angeblich generalisierten Rückschritt zum Stammespatriarchat der braunen, bärtigen Männer aus dem Nahen Osten, deren bedrohlicher Schatten sich nun über die europäischen Frauen legt. Diese Diagnose muss auf den Kopf gestellt werden. Es besteht eine generalisierte Krise des Patriarchats, das überall – in Ost und West, Nord und Süd – bei den Frauen Ansehen einbüßt. Im Einklang mit den Fantasien à la Houellebecq kann die Unterwerfung der Frau unter dem Banner des Islam, des Christentums oder einer jeglichen anderen Religion nicht länger garantiert werden. Und die Freiheit der Frau kommt auch nicht nur durch die herrlichen, progressiven Schritte laizistischer Demokratien voran.

Global gesehen verliert das Gesetz des Vaters – das in der Moderne den politischen und staatlichen Ordnungen symbolische Unterstützung garantiert hat – die Kontrolle. Diese Unordnung eröffnet so manche Gelegenheit für nostalgische, reaktionäre Akte männlicher Gewalt, aber genauso viele Gelegenheiten, um praktische Anwendungen für die Freiheit der Frau und das Beziehungsnetz unter Frauen aufzubauen. Das letztgenannte überwindet die Zugehörigkeit von Frauen zu dieser oder jener Kultur und zu deren jeweiligen Fetischen, und erfindet nie dagewesene Formen der Politik auf Basis des gegenseitigen Austauschs – den Konflikt und die Vermittlung über unterschiedliche Erfahrungen, Geschichten, Wurzeln und Horizonte hinweg.

Verschleierte Münder

Der Anderen zuhören – von ihren Erfahrungen, ihren Geschichten, ihren Bedürfnissen, Wünschen, Traumata, Ressourcen erfahren – ist eine notwendige Voraussetzung, um das Grundgerüst der Kultur zu reparieren, und zwar in entgegengesetzter Richtung zum so genannten „Kampf der Kulturen“. Insofern ist das Getöse der italienischen Medienmaschinerie, die vollständig darauf programmiert ist, zu schreien, anstatt zuzuhören, durchaus keine Hilfe für uns – sondern eher ein Hindernis.

Wir haben bereits von der Hexenjagd gegen Feministinnen erzählt, die sofort nach den Ereignissen von Köln losgetreten wurde – bei der die Hexe des schuldhaften Schweigens angeklagt wurde (ohne dass man sich je für ihre Ansichten interessiert hätte), der Mitwisserschaft in Bezug auf die politisch korrekte, migrantenfreundliche Scheinheiligkeit und der Anwendung von zweierlei Standards und Maß in Bezug auf ausländische Männer und die eigenen Männer zu Hause. Aber dieses Problem begann nicht erst mit Köln: Dieses selbe Schema wiederholt sich mit unfassbarer Monotonie, bei jeglichem Ereignis, das die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in Frage stellt. Der damit freigesetzte Impuls ist stets derselbe: der Versuch, den Feminismus und Feministinnen für nichtig zu erklären, indem gesagt wird, sie hätten verloren, oder indem ihre Positionen verzerrt dargestellt oder herabgewürdigt werden.

Die programmatische Belanglosigkeit, die einen guten Teil des italienischen Journalismus kennzeichnet – und nicht erst seit gestern – wird noch offensichtlicher und geschmackloser, wenn es um Feminismus geht. Als sei dies legitim, wenn man von Frauen spricht; als ob diese Nachrichten noch nie dagewesen wären; als ob die Stimmen der Frauen nichts zählten; als ob die politischen und kulturellen Standpunkte der Feministinnen keinen Anspruch auf Aufmerksamkeit, Analyse und Diskussion hätten, die nur dem männlichen Geplapper vorbehalten sind. Und vor allem, als ob sie nicht eigenständig existierten, sondern nur als untergebene Anhängsel der Linken und Rechten, oder jedenfalls von Gruppierungen und Konflikten, die bereits woanders festgelegt wurden.

Somit tritt eine misogyne Vorstellung – sowohl bei Männern, als auch bei Frauen – an die Stelle einer echten Realitätsanalyse. Und die Entlegitimierung des Feminismus selbst wird in jedem „Kulturkrieg” zum ganz und gar nicht sekundären Spieleinsatz: was selbstverständlich von dem Versprechen begleitet wird, dass sich „unsere“ Männer von nun an darum kümmern würden, uns gegen das zu verteidigen, dem wir selbst keinen Widerstand bieten könnten.

Diese Praxis, die in den Mainstream-Medien allgegenwärtig ist, ist nicht weniger von Gewalt geprägt als Männerhände, die in dieser Nacht in Köln unter Frauenkleider krochen. Und es sagt uns – sagt uns wieder einmal –, dass immer dann, wenn der weibliche Körper angegriffen wird, das wahre Ziel in der Stimme der Frauen liegt. Denn hierin liegt die wahre Bedrohung, das Ziel, gegen das der Schlag geführt werden muss – hier im Westen mit seinem Recht auf freie Meinungsäußerung, und nicht dort drüben, im Nahen Osten mit den verschleierten Mündern. Wir haben diesen Text geschrieben, um zu zeigen, dass diese Stimme immer noch lebendig ist und dass es nicht gelingen wird, sie zum Schweigen zu bringen.

(Hier die italienische Version, hier eine englische Übersetzung)

Erstunterzeichnerinnen: Maria Luisa Boccia, Maria Rosa Cutrufelli, Elettra Deiana, Sara Gandini, Diana Sartori, Tamar Pitch, Chiara Zamboni, Luana Zanella, Edda Billi, Maria Brighi, Paola Mastrangeli, Rosanna Marcodoppido, Marinella Perroni, Ilaria Fraioli, Carlotta Cerquetti, Giovanna Borrello, Sandra Macci, Daniela Dioguardi, Vittoria Tola, Susanna Menichini…

Autorin: Ida Dominijanni
Redakteurin: Ursula Pöppinghaus
Eingestellt am: 15.02.2016

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Martin Mair sagt:

    Interessant, dass auch in diesem Artikel der mögliche Klassenaspekt ausgeblendet wird: frustrierte jugendliche migrantische Unterschicht vs. vermeintliche Noch-Mittelschicht. Die sozialen Spannungen werden jedenfalls im Hyperkapitalismus sicher zunehmen.

    http://www.sueddeutsche.de/panorama/tatverdaechtige-in-koeln-warum-viele-marokkaner-unter-den-koelner-verdaechtigen-sind-1.2814644

    Interessant dass wir uns immer noch aufgrund recht vager Informationen derart viele Spekulationen machen.

  • Ute Plass sagt:

    @Martin Mair – “Interessant, dass auch in diesem Artikel der mögliche Klassenaspekt ausgeblendet wird: frustrierte jugendliche migrantische Unterschicht vs. vermeintliche Noch-Mittelschicht.”

    Dass Mann in seiner Not Diebstahl begeht ist nachvoll-ziehbar. Das erklärt jedoch nicht die sexuellen Übergriffe der Kölner Silvesternacht.
    Sexismus und sexualisierte Gewalt kommen in allen Klassen
    vor, weil in allen Klassen problematische Zuschreibungen
    von Männlichkeit existieren.

  • Monika sagt:

    Phantastischer Artikel, der zum Nachdenken anregt und auch zu weiteren Diskussionen aufruft.
    Vielen Dank den wunderbaren Feministinnen aus Italien, die noch eine klare Sprache benutzen.
    Monika

  • Brigitte sagt:

    Wow! Was für ein toller Artikel!

  • Margherita Sommerlad sagt:

    dieser Artikel ist wirklich lesenswert!!!!

  • Schier, Johanna Helen sagt:

    Monika,die Sprache der italienischen Feministinnen ist mitreißend, mir persönlich fehlen andererseits noch viele
    sachliche Informationen zur Erhellung der Geschehnisse.

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