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Rubrik unterwegs

Das Europa der Nachbarstädte: eine Tagung in Rom

Von Antje Schrupp

Welche Institutionen braucht die europäische Politik? Diejenigen, die es gibt, sind gescheitert, begraben unter Ungerechtigkeiten und Lügen. Die Institutionen, die Europa bräuchte, müssen erst erfunden werden, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie unverzichtbar sind.

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Gleich geht’s los: im Casa Internazionale delle Donne in Rom. Foto: Antje Schrupp

Diese Diagnose, die so tagesaktuell klingt, stammt von Simone Weil; sie stellte sie Anfang der 1940er Jahre im Londoner Exil. So schlimm wie damals, zur Hochzeit des Faschismus, ist es derzeit noch nicht. Aber die Frage, wie die Zukunft Europas aussehen wird, scheint wieder offen.

Welche politischen Institutionen braucht Europa jetzt? Und was können wir – Feministinnen, Aktivistinnen, Differenzdenkerinnen – dazu beitragen?

Diese Frage stellte, unter Bezugnahme auf Simone Weil, eine Versammlung mit dem Titel „L’Europa delle Città Vicine“ (Das Europa der Nachbarstädte) Ende Februar im Casa Internazionale delle Donne in Rom. Etwa hundert Frauen und einige Männer aus vielen Städten Italiens waren gekommen. Anna di Salvo, eine der Organisatorinnen, hatte mich eingeladen, und ich nahm gerne die Gelegenheit wahr, aus erster Hand von diesen Diskussionen zu erfahren.

Das Netzwerk Le Città Vicine wurde im Jahr 2000 gegründet und arbeitet seither mit Treffen, Publikationen und Veranstaltungen daran, lokale Projekte zur Verbesserung der Lebensqualität und des sozialen Zusammenlebens in den Städten miteinander in Kontakt und in Austausch zu bringen. Dabei wird das kommunale Geschehen heute zunehmend von globalen Ereignissen geprägt, wobei der aktuelle Zuzug von Flüchtlingen nur ein sehr augenfälliger Aspekt ist.

„Das Europa, das wir bisher kannten, ist vorbei“, diagnostizierte Maria Concetta Sala in ihren einführenden Worten und fügte an: „Vielleicht zum Glück?“ Jedenfalls bestand unter den Teilnehmerinnen Einigkeit, dass sie nicht in den Chor einstimmen wollen, der den „alten Geist Europas“ beschwört oder dessen Verfall beklagt. Ein Chor, der zurzeit von rechts wie von links gesungen wird – die Rechten malen das Bild einer idealen abendländischen Welt, die sie sie gegen die „Invasion von anderen“ abschotten wollen; aber auch viele Linke berufen sich auf „das zivilisierte Europa mit seinen universalen Werten“, um ihre politischen Positionen zu untermauern und zu legitimieren.

Beides scheint, realistisch betrachtet, momentan zum Scheitern verurteilt. Die Rechten werden die aus existenzieller Not geborenen globalen Migrationsbewegungen nicht verhindern können, sondern ihre Maßnahmen erhöhen nur das Leid der Betroffenen und die Anzahl der Toten an den Grenzen Europas. Und die Linken werden ihre „universalen Werte“  nicht durchsetzen können, wenn sie dabei vor allem auf Machtpolitik setzen, aber keine echte Überzeugungskraft entfalten.

Daher der Vorschlag, sich stattdessen umzuschauen, ob sich in all dem Schlamassel und den Problemen, mit denen wir es alltäglich zu tun haben, vielleicht Ansätze für neue Impulse und Ideen zeigen, die das Potenzial haben könnten, einen Vorschein auf jene „neuen Institutionen“ zu werfen, von denen Simone Weil spricht. Eine Teilnehmerin schlug dafür die Formulierung „patire attivo“ vor, also „aktives Leiden“. Ist es möglich, das Leiden, das mit dem Verfall des alten Europas einhergeht, aktiv zu gestalten, um daraus eine Erkenntnis zu gewinnen?

(Vielleicht ein paar Worte zur Art und Weise, wie der Kongress organisiert war: Es gab kein festes Programm und – mit Ausnahme eines Gastes am Nachmittag – keine Referentinnen, sondern nur das Thema, das die Initiatorinnen auf ein bis zwei Seiten thesenhaft ausformuliert hatten. Sie eröffneten den Kongress dann mit kurzen Statements von ihrer Seite (vielleicht zehn Minuten), und dann waren alle Anwesenden aufgerufen, mitzudiskutieren. Sie konnten sich auf eine Redeliste setzen lassen und wurden dann der Reihe nach aufgerufen. Die meisten, die in Rom sprachen, hatten ihre Rede bereits schriftlich vorbereitet. Nachfragen und Diskussionen im Plenum gab es keine, allerdings bezogen sich spätere Redebeiträge teilweise auf das schon Gesagte. Es gab auch außer zu Mittag keine Pausen, aber die meisten waren auch nicht die ganze Zeit im Raum, sondern machten individuell oder in kleinen Gruppen eigene Pausen nach Bedarf.)

Die Diskussionen drehten sich dabei um drei Begriffe, die auch schon für Simone Weil zentral sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit. Die Aufgabe besteht darin, sich dafür einzusetzen, dass diese drei Qualitäten Platz im politischen Leben haben, und aktiv zu werden gegen Prozesse, Verfahren und Entscheidungen, die ihnen entgegenstehen und sie verhindern.

Derzeit gibt es ja, wenn man es genau betrachtet, „zwei Europas“, die miteinander im Streit liegen: Das eine Europa, das angesichts der Herausforderungen – von der Finanz- bis zur Flüchtlingskrise – scheitert, aber auch das andere, das große Mengen sozialer Energie freisetzt, von Graswurzel-Initiativen über Wohnprojekte bis Flüchtlingshilfe, von neuen sozialen Bewegungen und Parteien bis zu neuen Formen politischer Organisation.

Diese „zwei Gesichter Europas“ waren bis vor kurzem sozusagen noch „unterm Deckel“, jetzt sind sie ausgebrochen und treten sich in Parteien, in Familien, auf der Straße gegenüber. Hier könnte eine „weibliche Vermittlungsarbeit“ ansetzen und all die Erkenntnisse einbringen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten gerade im Differenzfeminismus durch eine Beschäftigung mit kultureller Vielfalt und eben auch Differenz (einschließlich Konflikten) gewonnen haben. Angefangen von relativ banalen Dingen, etwa dem Wissen darum, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen wie die Versorgung hunderttausender Neuankömmlinge mit Obdach, Kleidung und Nahrung nicht „geschlechtsneutral“ abwickeln lässt. Bis hin zu einer Praxis wie der, dass politisches Begehren nicht an Institutionen und Repräsentant_innen delegiert wird, sondern eine „Politik in erster Person“ favorisiert wird.

„Non piu pratiche di resistenza, ma di esistenza“ war eine weitere Formulierung, die mir gut gefiel und die ja auch wir (in diesem Forum) schon lange beherzigen. Nicht der Widerstand („resistenza“) gegen etwas (die Regierung, das Kapital, whatever) kann neue europäische Institutionen gebären, sondern nur eine bewusste „Praxis der Existenz“, also Praktiken und Ideen und Sprechweisen, die gutes Leben für alle fördern, die sich orientieren am Maßstab von Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit.

(Für diejenigen, die Italienisch können: Alberto Leiss hat für Il Manifesto etwas über die Versammlung geschrieben).

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 03.03.2016

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