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Care hat nichts mit Gender zu tun

Von Antje Schrupp

Foto: Carsten/Flickr.com (cc - by-nc-sa)

Foto: Carsten/Flickr.com (cc – by-nc-sa)

Das Thema „Care“ wandert langsam in die gesellschaftliche Mitte und wird dort aufgegriffen. Probleme wie Pflegemangel, Kitaausbau oder unbezahlte Familien- und Hausarbeit finden sich zunehmend auch in den großen Medien und stoßen auf breite gesellschaftliche Akzeptanz. Wenn Erzieherinnen für mehr Lohn streiken, haben sie viele Sympathien in der Bevölkerung, und die schwierigen Arbeitsbedingungen von Pflegekräften werden inzwischen allgemein als Problem erkannt.

Das ist einerseits schön, hat aber auch problematische Aspekte. Zum Beispiel wird oft aus dem großen Komplex „Care“ nur ein Detail herausgenommen, das Thema aber nicht in einen größeren Zusammenhang gestellt. Wie wir (nicht nur) im „ABC des guten Lebens“ betont haben, ist Care aber nicht ein weiteres Unterkapitel von Wirtschaft, sondern eher ist Wirtschaft ein Unterkapitel von Care. Care ins Zentrum zu stellen bedeutet mehr, als hier oder da an einem Schräubchen zu drehen.

Der systemverändernde Charakter geht verloren

Mein Unbehagen mit der Art und Weise, wie der Begriff „Care“ in der öffentlichen Debatte aufgegriffen wird, hat aber noch einen weiteren Grund: Ich sehe die Gefahr, dass der systemverändernde Charakter dessen, was ich und viele andere meinen, wenn wir von „Care-Ökonomie“ sprechen, gerade wegen der zunehmenden Akzeptanz einzelner Aspekte davon verloren gehen könnte. Dass all das Gerede über die Wichtigkeit von Care, aus dem konkret jedoch nur wenig folgt (denn im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist „Care“ eben nicht sinnvoll organisierbar), letzten Endes den Eindruck erweckt, das Thema wäre doch inzwischen erkannt, würde bearbeitet und das Finden einer Lösung sei somit nur noch eine Frage der Zeit. Es wiegt uns sozusagen in falscher Sicherheit.

Auch feministische Argumentationen können zu dieser Banalisierung und Verharmlosung der Care-Ökonomie beitragen – und zwar gerade durch die ständige Verknüpfung von „Care“ und „Gender“. Dass Care in aller Regel, gerade in feministischen Kontexten, explizit als ein „Genderthema“ angesprochen wird, ist meiner Ansicht nach einer der wesentlichen Mechanismen dabei. Wenn über Care gesprochen wird, werden ja fast immer im selben Atemzug seine geschlechtsspezifischen Aspekte betont: dass Frauen viel mehr unbezahlte und schlecht bezahlte Carearbeit leisten als Männer, dass sie dadurch auf dem Erwerbsarbeitsmarkt benachteiligt sind, dass sie verarmen und so weiter.

Care ist kein „Frauenthema“

Auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Beschäftigung mit Care sei vor allem ein „Frauenthema“, ein Problem der Frauen, das angegangen werden muss, um Frauen zu helfen und sie nicht länger zu diskriminieren. Auf diese Weise tritt die Care-Thematik immer als ein partikulares Anliegen bestimmter Menschen ins Bewusstsein und bekommt den Charakter eines Teilproblems, das sich mit ein bisschen gutem Willen im Rahmen der gegebenen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lösen lässt. Man muss eben nur die Erzieherinnen besser bezahlen oder die Hausarbeit gerechter zwischen den Geschlechtern verteilen.

Die Care-Frage ist aber kein Unterkapitel der Gleichstellungs-Frage. Sie hat mit Emanzipation eigentlich gar nichts zu tun, jedenfalls nichts Wesentliches. Natürlich stimmt es, dass die Abwertung und Unsichtbarmachung von Care viel mit Geschlechterkonstruktionen zu tun hat. Und natürlich lässt sich das Thema nicht „geschlechtsneutral“ diskutieren, so als ob wir die entsprechenden Stereotype inzwischen postgendermäßig hinter uns gelassen hätten. Aber auch wenn alle Care-Tätigkeiten genau fifty-fifty unter Frauen und Männern aufgeteilt wären, wäre das zentrale Problem von Care nicht gelöst: dass sich diese Tätigkeiten nicht sinnvoll unter kapitalistischen Parametern organisieren lassen.

Wirtschaft ohne Care behindert das gute Leben

Deshalb finde ich diese Verknüpfung von Care und Gender je länger desto mehr gefährlich und strategisch falsch. Denn das Problem, worum es bei Care geht, ist NICHT irgendeine Benachteiligung von Frauen aufgrund einer historisch gewachsenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Sondern die Thematisierung von „Care“ weist darauf hin, dass wir zurzeit unsere Gesellschaft rund um ein falsches Verständnis von Ökonomie aufgebaut haben, das wiederum auf einem völlig unrealistischen Menschenbild (dem homo oeconomicus) basiert. Wirtschaftspolitik, die sich an Profit und nicht an Care orientiert, steht auf tönernen Füßen. Sie behindert das gute Leben fast aller Menschen nachhaltig. Und DAS ist der Grund, warum wir Care-Ökonomie brauchen.

Wenn wir also anmahnen, dass Care ins Zentrum von Wirtschaft gerückt werden muss und so weiter, dann hat das NICHT den hauptsächlichen Grund, dass wir die Situation von Frauen verbessern oder das Gender Pay Gap schließen oder die Leistungen von Frauen sichtbarer machen wollen. All das wären sicherlich schöne Nebeneffekte, aber der Grund ist ein anderer: Wir brauchen eine Care-Perspektive, damit die Welt nicht vor die Hunde geht. Care-Aktivismus ist Handeln aus Verantwortung für die Welt, nicht aus Lobbyismus für Fraueninteressen. Care-Aktivismus weist darauf hin, dass die symbolischen Ordnungen, die Politik und Kultur derzeit prägen, unrealistisch, ungerecht, menschenfeindlich sind.

Die Spirale des dauernden Lamentierens

Die Versuchung, das Thema Care in Form von Klagen über die ungerechten Benachteiligungen von Frauen in die Debatte zu bringen, ist freilich groß. Denn es ist derzeit medial nachgefragt und wird allgemein akzeptiert, dass Frauen über ihre Benachteiligung und Diskriminierung klagen. Ich habe manchmal sogar den Eindruck, als würden sich einige daran weiden, wie schlecht es den Frauen geht, und sich gleich auch noch in der Rolle derer gefallen, die uns arme Wesen dann aus unserer misslichen Lage retten. Sicher, auf solches Mitleid folgt dann unweigerlich der nächste Gegenartikel, in dem steht, dass es den Frauen doch gar nicht so schlecht geht und sie eigentlich selbst an allem Schuld sind. Aber das widerlegt meine Analyse nicht: Der antifeministische Reflex erfüllt nämlich gerade die Funktion, die Spirale des dauernden Lamentierens über die bedauernswerte Lage von Frauen am Laufen zu halten.

Diese ins Unendliche laufende Spirale – „Frauen geht es schlecht“, „nein gar nicht“, „doch“, „nein“, „doch“, „nein“ – ist ein praktischer Vorwand, um unsere eigentlichen Anliegen aus dem Fokus zu rücken. Die inszenierten Pseudoaufregungen rund um „das Frauenthema“ (für das es aber, leider, leider, keine praktikablen Lösungen gibt, von den kleinen Stellschräubchen mal abgesehen, für die wir dann aber schnell Kekse verteilen sollen) verschaffen dem diskursiven Mainstream die Legitimation, radikalere feministische Vorschläge dazu, wie Welt und Wirtschaft anders gestaltet werden könnten, ignorieren zu dürfen. Man hatte ja schon genug Feminismus im Blatt.

Ich habe keine Lust mehr, über dieses Stöckchen zu springen. Deshalb habe ich beschlossen, beim Thema Care zukünftig nicht mehr von Gender, von Frauen und Männern, von Geschlechterverhältnissen zu sprechen.

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 22.07.2016
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Ute Plass sagt:

    Danke Antje, Danke Ina für euer hartnäckiges und unermüdliches Eintreten für das gute Leben aller. :-)

    Schließe mich eurem aufrüttelndem Postulat an:
    “Wir brauchen eine Care-Perspektive, damit die Welt nicht vor die Hunde geht.”

  • Cornelia Roth sagt:

    Mir gefällt der Artikel wegen seiner Klarstellungen. Trotzdem finde ich es wichtig, beim Thema Care Frauen auch zu thematisieren, zum Beispiel die osteuropäischen Frauen in der Pflege hierzulande – einfach, weil es real ist. Die Anliegen beim Care-Thema nicht durcheinanderzuwerfen finde ich aber wichtig: es geht um andere Prioritäten bei der Ökonomie – und es geht um Wahrnehmung, Würdigung, Bekämpfung ungerechter oder unausgewogener Geschlechterverhältnisse. In der 1. Frauenbewegung wurden oft solche Gleichzeitigkeiten von Anliegen benannt, z.B. beim Thema Frauen und Frieden.
    Was mir nicht gefällt, ist, dass es so klingt, als ob erst der Kapitalismus als solcher abgeschafft werden muß, damit Care sinnvoll organisierbar ist. Im Gesamten stimmt das, aber es hindert nicht daran, damit anzufangen, Care zu praktizieren und Spielräume zu nutzen. Und das läuft ja schon. Im klassischen Care-Bereich ist ein Beispiel die Hospiz-Bewegung. Im klassischen Ökonomie-Bereich sind Beispiele gemeinwohlorientierte Wirtschaft, Gemeinschaftsgärten, Volksküchen, Genossenschaftsbauten…

  • Ute Plass sagt:

    Sehe es auch so wie @Cornelia Roth. Care ist zwar kein ‘Frauenthema’, betrifft aber sehr real das Leben vieler Frauen, und das gehört weiterhin sichtbar und hörbar gemacht.
    Ich verstehe Antjes Anliegen allerdings auch so, dass es gilt Care und Frauen nicht in einem Atemzug der Klage zu nennen, da dies mit dazu führen kann Frauen als beklagenswerte Geschöpfe zu betrachten wenn sie CareTätigkeiten praktizieren. Das hat irgendwie den Beigeschmack von (Selbst)Stigmatisierung und könnte mit dazu beitragen, (weiterhin) Sorge/Fürsorgearbeit als minderwertige Tätigkeiten anzusehen. Die Frage, die sich mir dabei stellt ist, wie es gelingen kann, die Wichtigkeit und Notwendigkeit von Care nicht (vorwiegend) im Klageton in die Welt zu vermitteln, sondern als selbstverständlichen Anruf und Auftrag , aus dem auch Befriedigung, Freude,
    Sinnhaftigkeit…. heraus tönt. Dass die notwendige Fürsorgearbeit letztlich unbezahlbar, also nicht in einem bestimmten Geldwert zu messen ist, heißt ja nicht, dass Frau und Mann in den vorherrschenden Gegebenheiten diese umsonst leisten kann. Womit wir wieder bei der Verteilungsfrage von Wohlstand und Ökonomie angelangt wären die das gute Leben aller im Blick haben muss.

  • Michaela Lusru sagt:

    Und ja, Care ist kein Frauen bezogenes Unterkapitel:
    ” ist Care aber nicht ein weiteres Unterkapitel von Wirtschaft, sondern eher ist Wirtschaft ein Unterkapitel von Care. Care ins Zentrum zu stellen bedeutet mehr, als hier oder da an einem Schräubchen zu drehen.”

    Nur so, wie du das begründetst (mit einer Behauptung), ist das ungenügend.
    “Care” ist bereits evolutionär biologisch in Mensch angelegt, das andere treffendere Wort dafür ist der Mutualismus, die Kooperation zum gegenseitigen Nutzen auf allen Bereichen, oder anders: das ORGANISCHE Ganzheitsstreben einer jeden biologischen wie sozialen Entität.
    Dabei geht es nicht um Nutzen als Profit, sondern um den benötigten Nutzen zur Selbsterhaltung und Entfaltung des eigenen Organismus wie zugleich der gesamten ART.

    In der menschlichen Evolution (und nicht nur dort) setzte sich bekanntlich das durch, was “the fittest” war (Darwin).
    Nur was war “the fittest”?
    Das, was der Ganzheit jeweils am angepassten “dienen” konnte, der eigenen und der Ganzheit der Art den höchsten Ganzheitseffekt (Emergenz) verschaffen konnte, der nur durch komplexe organisch verflochtene auf dieses GANZE gerichtetes (systemische) Wirken den heftigsten und nachhaltigsten Nutzen erwerben und sicher liess: KOOPERATION, ganzheitlich (systemisch) strukturierte.
    (s.a. L-V.Bertalanffy/ die “Allgemeine Systemtheorie”).

    Das ist das Geheimnis, das Mensch zum Menschen werden liess: Unterschiede im Inneren wie nach aussen systemisch erfassen und zum ganzheitlichen (!) Vorteil verarbeiten.
    Prof. Joh. Bauer bezeichnet den biologischen Hintergrund dafür als “Kooperative Gene” (im Gegensatz zu R. Dawkin mit seinem evolutionsbiologischem Fake der “egoistischen Gene”).

    Was sagt uns das in diesem Zusammenhang?
    Mensch hat sich ausschliesslich aufgrund seiner Notwendigkeit und Fähigkeit zur sozialen mutualistischen Kooperation bereits als biologisches Funktionsmuster entwickelt und durchgesetzt – DAS ist sein UR-Wesen, und damit auch wichtigster Teil seines Sozial-Codes.
    Wir können es auch als CARE bezeichnen, denn sämtliche Aktivität und Koordination menschlichen Daseins hat nur ein (ganzheitliches) Ziel: Die Erhaltung und Entwicklung der (gesamten, ganzheitlichen) ART, Care eben.
    So ergibt sich, dass jegliche Wirtschaft und Tätigkeit menschlicher Gesellschaft auf DIESES Ziel sich konzentrieren muss – oder die Gesellschaft erlischt als Ganzheit, als Art.
    Care, Sozialität, ist also nicht per order de mufti Zentrum unseres Lebens, oder aus irgendeiner ideologischen Betrachtungsweise heraus, sondern sowohl biologisch wie sozial bestimmendes Wesensmerkmal von Mensch, daher allem Anderen voran zu stellen und über zu ordnen.

    Allein so funktionierende Organismen sind in der Lage, ganzheitlich jedem Teil Teilhabe und Teilnahme zu ermöglichen, Mutualität als solidarisches Wesensmerkmal.
    Die Wohlstandsfrage ist also nur sekundär eine Verteilungsfrage, sie ist primär eine Systemfrage der Teilhabe aller für jedes betroffene Ganze und deren Ganzes, da andere Exaltierungen die Vernichtung der sozialen und damit biologischen Ganzheit der Art in ihrer Umwelt als WesensIDENTITÄT zerstören.
    Care ist zentrales Ziel allen Handelns, und nicht Ergebnis zufällig daran werkelnder Teile des Ganzen, und “hat nichts mit dem esoterisch oder konstruktivistisch betriebenen Gender zu tun.

  • Gudrun Nositschka sagt:

    Ein für mein Verständnis sehr erhellender Beitrag von Michaela Lusru. So ist auch erklärlich, wieso sich auch patriarchale Gesellschaften erhalten können, die in so vielen Aspekten das menschliche Leben bedrohen. Würden wir unsere Fähigkeit zu Caring aufgeben, gäben wir uns selber auf.

  • Elisabeth Stiefel sagt:

    Feministische Philosophinnen pflegen sich mit einer Kapitalismuskritik zufrieden zu geben, die im Hinblick auf Gender nicht weniger blind ist als die kapitalistische Wirtschaftsweise selber. Immerhin hat es schon in der 1. Frauenbewegung Ansätze gegeben, die Care bzw. die Aufgaben der Frauen einer Kategorie Arbeit zugeschlagen haben, anstatt sie auf Identität oder gar auf Moral zu beziehen.
    Es ist an der Zeit, mit einer Politischen Ökonomie der Frau die Care-Diskussion aus ihrer Gleichschaltung mit Fraueninteressen zu befreien und sie als originäres Thema in eine andere Sicht der Ökonomie zu integrieren. Als roter Faden im Irrgarten der Zuordnungen empfiehlt sich aktuell das Buch Machonomics der Schwedin Kathrine Marçal, das die Beziehung des homo oeconomicus zum ‚anderen Geschlecht‘ unter die Lupe nimmt. Eine von mir verfasste Besprechung wird im nächsten Heft des Frauenbuchmagazins Virginia erscheinen.

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