beziehungsweise – weiterdenken

Forum für Philosophie und Politik

Rubrik erinnern

Hypatias Erbe

Von Gemma Beretta, Sandra Divina Laupper

Hypatia von Alexandria, Philosophin und Mathematikerin im 4. Jhd.

Anmerkungen der Übersetzerin Sandra Divina LaupperDie Nummer 4 von Via Dogana (März 1992) trägt den Titel „Fare centro”/Das Ziel treffen” und enthält viele sehr schöne Artikel ganz unterschiedlichen Inhalts, in denen es aber immer wieder um das Verhältnis der Frauen zur Politik geht. Ich habe unter all diesen schönen Texten jenen von Gemma Beretta gewählt, weil er zur Zeit der Erscheinung dieser Nummer von V.D. der Text war, dessen Inhalt meiner damaligen Erfahrung als Universitätsstudentin in Verona am nächsten stand. Auch ich war (fast) 25 Jahre alt, auch ich war mit der Frauenbewegung in Berührung gekommen (in meinem Fall erstmals im Frühling 1989), als sich das Bewusstsein der weiblichen Genealogie, sowie eine Praxis, die der weiblichen Vermittlung eine zentrale Rolle beimaß, schon etabliert hatten.

Das Bewusstsein der weiblichen Genealogie, das Gemma dank ihres Engagements in der Frauenpolitik erworben hatte, sowie die in der Frauenpolitik übliche und von Gemma selbst auch übernommene und ausgeübte Praxis der Vermittlung – im Gegensatz zu einer sonst in der Öffentlichkeit üblichen Praxis der Konfrontation auf der Machtebene – haben Gemma Beretta in ihrer Forschungsarbeit zu Hypatia von Alexandrien eine wichtige Orientierungshilfe geboten, sodass es ihr gelingen konnte, in Hypatia jene freie Frau, die sie war und deren Urteil in der Öffentlichkeit höchste Glaubwürdigkeit genoss, zu erkennen. Davon handelt dieser Text.

Er handelt aber auch davon, wie sich jenes in der Frauenbewegung erworbene Bewusstsein auf die Art und Weise, in der sie die “Pantera” genannte Studentenbewegung von 1990 wahrgenommen hat, und auf die Form, in welcher sie sich daran beteiligt hat, ausgewirkt hat. 

Für mich stellen Texte wie dieser immer wieder die Gelegenheit dar, über mein Verhältnis zur Politik nachzudenken, insbesondere wenn es sich glücklicherweise ergibt, dass ich die Möglichkeit habe, den Text mit anderen Frauen zu diskutieren.

 

Hypatias Erbe

Ich bin 25 Jahre alt. Ich habe mich der Politik durch die Frauenbewegung genähert, als die Frauenbewegung bereits das Bewusstsein von der Bedeutung der weiblichen Genealogie, sowie der Bedeutung einer Praxis, die von der Notwendigkeit der weiblichen Vermittlung ausgeht, gewonnen hatte. Das war für mich von großem Vorteil

Vor Kurzem habe ich mein Universitätsstudium abgeschlossen. Diese Erfahrung ist v.a. dank der Frauenpolitik von großem Wert und Bedeutung gewesen. Von der Gleichgültigkeit gegenüber der Kultur und dem Leben an der Universität bin ich zum Interesse übergegangen. Und das ist so, weil es nunmehr zu einer fruchtbaren Wechselwirkung gekommen ist zwischen dem, was ich studiere, und den Fragen, die in mir durch die Erfahrungen des Lebens und durch mein Bedürfnis nach Gerechtigkeit aufkommen.

Für diese meine persönliche Entwicklung war es von grundlegender Bedeutung, dass ich die Möglichkeit hatte, eine gute Beziehung mit der Dozentin zu haben, mit der ich meine Abschlussarbeit schrieb.

Die Beziehung zwischen Dozent und Student strukturiert den Studiengang an der Universität. Ein Studiengang endet in der Tat ja mit einer Zusammenarbeit, deren Produkt die Dissertation ist. Wer schreibt und wer lehrt – beide werden als Koautoren dieses Produktes angesehen. Häufig sind sie es aber nicht.

Ich habe genug Jahre an der Universität verbracht um zu wissen, dass diese Art der Beziehung nicht immer fruchtbar ist. Von Seiten des- oder derjenigen, die lehrt, sind Entgegenkommen und Sorgfalt notwendig. Ich habe sicher das Glück gehabt, eine solche Dozentin zu finden, aber nicht immer tritt eine so glückliche Situation ein. Immerhin habe ich beobachten können, dass es vor allem die Dozentinnen sind, die mit Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen an die pädagogische Beziehung herangehen. Freilich reicht dieses Entgegenkommen auch nicht aus, um aus der Beziehung eine gute Beziehung zu machen. In der Tat ist auch die Bereitschaft zu „gehorchen” (das ist ein Begriff von Simone Weil) von Seiten des- oder derjenigen, die etwas lernen will, notwendig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es für mich leichter war zu denken, wenn ich dem Urteil meiner Dozentin und ihrer Kompetenz volles und vollständiges Vertrauen entgegenbrachte.

So ist die Geschichte von Hypatia, Politikerin und Wissenschaftlerin aus dem vierten Jahrhundert nach Christus, langsam wieder ans Licht gekommen.

Es war eine lange und schwierige Forschungsarbeit. Die Texte der Historiker der Spätantike, die von ihr erzählen, waren nicht sehr bekannt und noch nicht übersetzt worden. Außerdem waren weder die durch die akademische Tradition gefestigten historiographischen Kategorien noch die bislang von der feministischen Geschichtsschreibung vorgebrachten historiographischen Kategorien dazu geeignet, die Ereignisse jener Epoche zu verstehen, von der Hypatia eine der angesehensten Persönlichkeiten war.

Im vergangenen Jahr nahm ich an den Donnerstags-Versammlungen der Libreria delle donne di Milano teil und beteiligte mich auch bei der Vorbereitung und Fertigstellung von Via Dogana 2, und da habe ich begonnen zu verstehen, was weibliche Autorität ist und welche radikale Veränderung der Welt sie mit sich bringt.

So habe ich zu ahnen begonnen, was es war, das fehlte, um eine Epoche zu verstehen, in der Frauen wie Hypatia, Eudoxia und andere eine zentrale politische Rolle einnahmen – es fehlten die Vorstellung und der Begriff der in der Gesellschaft wirksamen weiblichen Autorität.

Das war für mich vorläufig noch nicht mehr als eine Intuition.

Das Vertrauensverhältnis und die enge Zusammenarbeit mit meiner Dozentin, das heißt die Gewohnheit, mit ihr zusammen zu denken, haben mir erlaubt, diese Intuition genauer auszuarbeiten. Dieses Vertrauensverhältnis hat mich nämlich gezwungen, Hypatias Geschichte so lange zu überdenken, bis mir klar wurde, dass ihre Geschichte zu schreiben bedeutete, damit anzufangen, die Geschichte ihrer Zeit neu zu schreiben. Zugleich bedeutete es also, eine neue historiographische Methode zu praktizieren. Das ist eine Herausforderung, eine Suche, die für mich noch offen steht.

Ich habe verstanden, dass sie es war, Hypatia, die mir erlaubt hat, mich heute von ihrer Kraft zu nähren. Denn ihre Zeit ist ohne sie nicht wirklich zu verstehen, und genau diese Tatsache, das heißt die große Bedeutung, die sie für ihre Zeit hatte, hat verhindert, dass die wiederholten (mehr oder weniger bewussten) Versuche, sie aus unserer Geschichte zu löschen, gelingen konnten. Lange bevor ich geboren bin. Bevor ich in einer Epoche geboren bin, in der es weibliche Freiheit und Autorität gibt. Weibliche Freiheit und Autorität, die mir erlaubt haben, die Freiheit und Autorität von Hypatia zu sehen.

So ist es durch die Wiederherstellung der Lebensgeschichte von Hypatia zugleich auch zur Rückerstattung von mir an mich selbst und an meine Geschichte gekommen. Es war zugleich eine politische und historische und eine philosophische Arbeit, durch die meine Leidenschaft für die Geschichte, für die Forschung, mein Wunsch, weiterhin im universitären Bereich tätig zu sein, entfacht wurden.

Dadurch, dass ich der Beziehung, die sich unter Umständen zwischen Lernender und Lehrender einstellen kann, eine zentrale Bedeutung beimesse, hat mich die Politik, die bei  verschiedenen Anlässen von der Studentenbewegung “Pantera” (eine im Jänner 1990 in ganz Italien ausgebrochene Protestbewegung an den öffentlichen Universitäten, die sich gegen die „riforma Ruberti” richteteAnm.d. Ü.) angenommen wurde, alles andere als überzeugt. Weshalb ich mich dieser Protestbewegung nicht angeschlossen habe, obwohl ich einige Haltungen und Ziele, die sie sich gesetzt hatte, teilte. Zu den Ansprüchen, die die Pantera stellte und die ich teilte, gehört auch der Wunsch, dass jener Ort, in den wir so viel von unseren Energien, so viel Zeit und Sorgfalt investierten, ein fruchtbarer Ort für das Knüpfen von Beziehungen, für die Pflege des Austauschs, für die Suche nach Freude und Befriedigung in der wissenschaftlichen Arbeit sei und eine Quelle darstelle, aus der neues Wissen entspringe.

Der Unterschied besteht darin, dass ich von diesen Ansprüchen nicht so spreche, als handle es sich um Zielsetzungen, deren Umsetzung noch vollkommen ausständig wäre, sondern behaupte, dass die Universität schon begonnen hat, diese neue und dynamische Wirklichkeit zu verkörpern. Ich weiß, dass es auch für andere, die mit mir die Erfahrung der Seminare von Laura Boella an der Universität „Statale” von Mailand geteilt haben, sowie für einige, die die Universität in Verona besuchen und den Kursen von Diotima folgen, sowie für andere, die mit Letizia Bianchi und Lilli Rampello in Bologna studieren, so ist.

Den Unterschied macht das Bewusstsein einer politischen Praxis aus, einer politischen Praxis, die lehrt, die Beziehungen, die jede pflegt, als einen Moment der Selbst-Reflexion und Selbst-Kontrolle anzusehen – sowie als Angelpunkt der Gestaltung und Veränderung der Welt, in der wir leben – ganz im Gegensatz zur Haltung derjenigen, die die zu verändernde Wirklichkeit als der eigenen Person rein äußerlich ansehen, was eine Haltung ist, die dazu führt, selbstzerstörerisch zu sein, weil sie der eigenen Person Gewicht nimmt, um es ganz auf abstrakte Instanzen zu übertragen, wie zum Beispiel auf den „Lehrkörper”, die „Direktion”, die „Universität”.

Ein Beispiel. In meiner Universität gibt es, genauso wie in vielen anderen italienischen Universitäten, ein mehr als gravierendes Raumproblem für die Studenten. Insbesondere hatten wir das Problem, dass die Bibliothek des Instituts für Philosophie zu knappe Öffnungszeiten hatte.  Aus diesem Grund hat eine Studentin beschlossen, Unterschriften zu sammeln. In der Versammlung, die einberufen wurde, um dieses Problem zu besprechen, brachte ich vor, dass der realistischste und wirksamste Weg der sein könnte, dass eine oder auch jeder/jede von uns das Problem mit denjenigen Dozenten und Dozentinnen besprechen wuerde, mit denen sie/er in Beziehung stand. Aber dieser Vorschlag verursachte einen Skandal unter den Anführern der Revolte.

Tatsächlich wendete sich mein Vorschlag gegen jene Vorstellung, die einen unvermeidlichen Gegensatz zwischen „Lehrkörper” und „Studentenschaft” vorsieht. Unter den anwesenden Doktoranden war ich die einzige, die sich dessen bewusst war, dass sie in einer persönlichen Beziehung mit einer Dozentin stand.

So ist schließlich ein Brief zu Stande gekommen, der alle Dozenten des Instituts für Philosophie einlud, an einer von den Studenten ausgerufenen Versammlung teilzunehmen, um das Problem zu lösen. Die Versammlung fand statt. Aber es hätte keine positive Antwort auf den Brief gegeben, wenn die Dozentin, mit der ich schon seit zwei Jahren an meiner Dissertation arbeitete und die zugleich die Verantwortliche für die Bibliothek war, mich nicht auf die Versammlung  angesprochen hätte (ich war zu jenem Zeitpunkt eine der Vertreterinnen der Doktoranden) und auf diese Weise eine Zusammenkunft mit den anderen Studenten und Studentinnen und dem Direktor des Instituts ermöglicht hätte. Die Bibliothek ist jetzt zwei Stunden länger offen.

Das ist eine Gelegenheit gewesen, bei der ich mich von der Blindheit von diesen jungen Menschen betroffen gefühlt habe, handelte es sich doch um junge Menschen, die von sich selbst behaupteten und auch zeigten, dass sie politisch engagiert waren, sich in der Tat aber nicht darüber im Klaren waren, was Politik ist. Aber im Grunde taten sie nichts anderes als jenes alte männliche politische Schema zu wiederholen, das um jeden Preis auf den Zusammenstoß zielt.

Freilich hätten sie von der Frauenpolitik etwas lernen können, und vielleicht werden sie es eines Tages auch tun. So war es zu den Zeiten Hypatias, die für Frauen und Männer nicht nur eine Lehrmeisterin der Wissenschaften war, sondern auch eine Lehrmeisterin der Politik.

Deshalb wünsche ich mir sehr stark, dass die Frauen meiner Generation ihren Vorteil erkennen und ihn demzufolge auch nützen können wie ich: Die Frauenbewegung hat nicht nur die Begrifflichkeiten und Praktiken der Politik geändert, sondern hat sich auch darum gekümmert, dieses Wissen weiterzugeben – das erinnernde Bewusstsein der Bedeutung der eigenen Politik weiterzugeben.

Autorin: Gemma Beretta, Sandra Divina Laupper
Eingestellt am: 05.10.2017

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Monika sagt:

    Ein sehr interessanter Artikel, der mich jetzt wünschen lässt, die Doktorarbeit dieser Studentin, Gemma Beretta, über Hypathia zu lesen. Wie komme ich daran??? Gibt es diese Arbeit auf deutsch oder englisch?

  • Sandra Divina Laupper sagt:

    Berettas “Ipazia d’Alessandria” wurde erstmals im September 1993 bei Editori Riuniti veroeffentlicht und erlebte 2014 eine Neuauflage, immer bei Editori Riuniti. Leider gibt es von diesem Werk von Gemma Beretta keine Übersetzungen in andere Sprachen.

    Gemma hat sich aber auch in anderen Texten mit Hypatia von Alexandrien befasst, so z.B.im kurzen Text “Il dono della vergine giusta”/”Die Gabe der gerechten Jungfrau”, der im Blog “Phenomenology Lab” zu finden ist. Darin äußert sich Beretta sehr anerkennend zu der nahezu philologischen Genauigkeit, mit der der Film “Agorà” von Alexandro Amenabar (2009 in Cannes vorgestellt) die Persönlichkeit und die Epoche Hypatias darstellt. Laut Beretta unterstreicht Amenabars Film vollkommen zu Recht die Bedeutung der sozialen und religiösen Spannungen im spätantiken Alexandria, die schließlich zu Hypatias Ermordung geführt haben. Aber er zeigt auch auf, zu welch großer Gewaltbereitschaft und Brutalität der religiöse Fanatismus, wenn er sich mit extremen sozialen Widersprüchen trifft, führen kann: ein ziemlich aktuelles Thema.

Weiterdenken