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Katharina und die Stimmen

Von Bettina Schmitz

Ganz schön viel Leben, das Katharina, da zu bewältigen hat. Sie wird bald dreizehn. Mit dreizehn ist eine schon fast erwachsen, oder? Katharinas Großmutter ist eine 68erin; ihre Mutter lebt vom Vater getrennt, weil sie ihm nicht wegen seiner Arbeit hinterherziehen wollte. Sie kriegen das alles ganz gut hin.

In der Schule bekommen alle in der Klasse den Auftrag – als Kunstprojekt –, eine eigene Märchenmappe zu gestalten. Für Katharina passt das insofern gut, als Märchen ohnehin eine wichtige Rolle in ihrem Alltag spielen. Die Mutter interessiert sich leidenschaftlich für Märchen und erzählt auch selbst gerne welche: alte, eigene, abgewandelte. Im Buch sind immer wieder Märchen eingeschoben, die eine zweite Welt oder eine zweite Stimme der Erzählung bilden.

Katharinas Geschichte ähnelt selbst einem Märchen. Die Heldin muss sieben Aufgaben bewältigen bzw. muss sie diese erst einmal finden. Den Aufgaben entsprechen sieben Märchen, die Katharina in ihrer Mappe gestalten wird. Am Ende des Buches sind alle Themen und Erkenntnisse zur Erinnerung und Anregung für die Leser*innen noch einmal aufgelistet.

Katharinas Tante Mechthild kommt in die Klinik, weil sie Stimmen hört. Katharina besucht sie und freundet sich dabei mit den anderen Patientinnen an. Diese erscheinen ihr in ihrer ‚Verrücktheit‘ manchmal selbst wie Gestalten aus einem Märchen, die interessante Wahrheiten verkünden.

Ein Gedenkstein vor der Klinik, der an Menschen erinnert, die zur Zeit des Nationalsozialismus zwangssterilisiert oder ermordet wurden, ist für Katharina Anlass, sich Gedanken zu machen und nachzufragen. So erfährt sie von einer Verwandten, die als Ordensschwester in den 30er und 40er Jahren in einer solchen Klinik gearbeitet hat. Es gibt Tagebuchaufzeichnungen von ihr. Großmutter und Mutter entscheiden, sie sei jetzt alt genug dafür, diese zu lesen.

Katharina hat ganz schön viel zu verarbeiten. Darum geht es schließlich, wenn wir wissen wollen, wie das Leben ist. Auch mit ihrer besten Freundin läuft nicht alles rund. Doch so schlimm das ist, muss kein Drama daraus gemacht werden. Die Erzählung zeigt jenseits einer einfachen Aufteilung in gut und böse, Wege damit umzugehen. Eine Verletzung muss nicht das Ende sein.

Alle Stimmen kommen zu ihrem Recht. Katharina hört im Verlauf dieses Buches eine ganze Menge davon. Jede sagt ihren Teil der Lebenswahrheit und -wirklichkeit. In diesem vielstimmigen Chor, der manchmal auch ein Stimmengewirr ist, und dessen Vielfalt auf jeden Fall einen eigenen Reichtum darstellt, macht sich Katharina auf den Weg, ihre eigene Stimme zu finden. Auf diesem Weg darf keine Stimme unterdrückt werden, weder innen noch außen. Es hat mich an das folgende Lied erinnert: „Sie tanzt wie eine Feder und brüllt wie eine Löwin. Sie weint wie der Himmel und ruht wie die Nacht. Sie hat gelebt, geliebt, gelacht und gelitten. Ist dabei ganz geworden.“ Viel Glück dabei, Katharina!

Es ist das erste Mal, dass Barbara Degen, bislang als Autorin von sachlichen Texten zu juristischen Themen und Fragen der NS-Geschichte bekannt, die Form einer Erzählung gewählt hat. Das Buch ist sehr schön gestaltet, sowohl das Bild auf dem Umschlag als auch die Vignetten, die manche Kapitel einleiten, machen Lust zum Anschauen und Verweilen. Der Text ist spannend, berührend, informationsreich und vielfältig oder besser: vielstimmig. Er ist als Lektüre nicht nur für Jugendliche geeignet. Und wer mehr über die angesprochenen Themen wissen will, findet sicherlich Wege weiterzuforschen, auch in den fundierten Büchern der Autorin Barbara Degen zu einigen der Themen.

Barbara Degen, Katharina und die Stimmen, VAS Verlag,  2017, 14,80 Euro, ISBN 978-3-88864-551-8

 

 

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