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Frauen fordern: Frieden für Afrin

Von Jutta Pivecka

 

Angesichts des Angriffskrieges, den türkische Truppen seit dem 20. Januar im Verbund mit arabischen Islamistenmilizen gegen die Provinz Afrin führen, fordert eine Initiative von Friedensforscherinnen  und Frauenorganisationen, in der u.a. ezidische, arabische und kurdische Frauenorganisationen, die katholischen Frauen Deutschlands und Marche Mondiale des femmes vertreten sind*:

  • sich für ein sofortiges Ende der Bombardierung von Afrin einzusetzen
  • den völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei in Nordsyrien zu verurteilen und weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Genozid insbesondere durch die Luftbombardierungen von Wohngebieten zu verhindern
  • Waffenlieferungen an die Türkei sofort zu beenden
  • die Partnerschaft mit menschenrechtsverletzenden, autokratischen Machthabern wie Erdogan zu beenden
  • durch Kooperationen in kulturellen, ökonomischen, humanitären, Bildungs- und weiteren Bereichen zur Stabilisierung in der Region beizutragen
  • sich dafür einzusetzen, dass Vertreterinnen der Frauen/-organisationen und VertreterInnen aus allen gesellschaftlichen, ethnischen und religiösen Gruppen an Friedensverhandlungen für Syrien beteiligt werden – die Konfliktlösung und die Gestaltung der Zukunft muss demokratisch von unten bestimmt werden
  • einen nachhaltigen Frieden in der Region zu fördern durch die Stärkung von Fraueninitiativen im Friedensprozess und die Unterstützung der bestehenden Prozesse für Geschlechtergerechtigkeit und die Aufhebung von Geschlechterstereotypen

Die Redaktion des Internetforums bzw-weiterdenken unterstützt diese Forderungen.

Gleichzeitig sind wir uns bewusst, wie kompliziert und unübersichtlich die Lage in der umkämpften Region, zwischen den Konfliktparteien und in den beteiligten Gesellschaften ist.

Mehr als 80 Prozent aller Türkinnen und Türken unterstützen das kriegerische Vorgehen Erdogans. Der Hass gegen Kurden im Allgemeinen und die kurdische Terrororganisation PKK ist tief verankert auch in der türkischen Opposition. Die größte Oppositionspartei, die CHP, beruft sich bis heute in geradezu kultischer Verehrung auf den Gründer der modernen Türkei, Atatürk, der eine nationalistische Homogenisierung anstrebte, die die Vertreibung oder Marginalisierung der griechischen, armenischen und kurdischen Minderheiten vorsah. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Geschichte hat es in den Reihen der CHP nicht gegeben. Recep Tayyip Erdogans Programm dagegen kann als Fortsetzung der von seinem Ziehvater Necmettin Erbakan angestrebten Synthese zwischen religiösem Fundamentalismus und osmanisch geprägtem Nationalismus gelten. Gegen diesen mal modernistisch-westlich, mal islamisch-fundamentalistisch geprägten autoritären türkischen Staat agiert die sozialistisch orientierte kurdische PKK seit Jahrzehnten auch mit Attentaten auf Zivilistinnen und Zivilisten, denen unzählige Türkinnen und Türken zum Opfer fielen. Das Konterfei des seit 1999 inhaftierten „Apo“, wie Anführer Öcalan von seinen Anhängerinnen und Anhängern genannt wird, ziert auch immer wieder die Fahnen kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten bei Demonstrationen in Deutschland.

Wo bleibt in dieser Gemengelage zwischen männlichen Führerfiguren, die um sich einen Personenkult inszeniert haben, die Freiheit der Frauen? Unter Atatürk wurden ihnen westliche „Modernität“, kurze Röcke und schicke Frisuren versprochen (bei gleichzeitigem Verbot, das religiös verstandene Kopftuch in öffentlichen Einrichtungen, also auch an Schulen und Universitäten zu tragen), Erdogan ermöglichte den Frauen, die Kopftuch tragen wollen, wieder den Zugang zu höherer Bildung und verbesserte die Lebenssituation auch vieler Frauen, gerade im unterentwickelten Osten der Türkei (bei gleichzeitiger Festlegung von Frauen auf die Mutterrolle und der Forderung nach mindestens 3 Kindern pro Frau), in Öcalans PKK gelten Frauen als Avantgarde des Befreiungskampfes, da sie in ihrer dreifachen Unterdrückung (als Kurdinnen durch den türkischen Nationalstaat, als Arbeiterinnen durch Feudalismus und Kapitalismus und als Frauen durch die patriarchalen Strukturen) geradezu prädestiniert seien, einen gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, wobei dieser eben vorderhand auch darin besteht, die Frauen „gleichberechtigt“ zu Guerilla-Kämpferinnen auszubilden.

Dass die syrische YPG, die das Gebiet um Afrin kontrolliert, enge Verbindungen – ideologische und personelle – zur türkischen PKK unterhält, kann nicht bestritten werden. Auch die Frauenorganisation „Kongreya Star“, deren Informationsmaterial dem von uns unterstützten Aufruf beigefügt ist, beruft sich auf Öcalan. Vom Vorgehen der PKK in der Türkei, ihren zahllosen blutigen Attentaten, sind aber nicht nur nationalistisch oder islamistisch gesonnene Türkinnen und Türken angewidert. Eine klare Distanzierung von diesen Verbrechen findet indes nicht statt.

Gleichzeitig ist es wahr, dass es in den vergangenen Jahren gelungen ist, in den durch die SDF (Syrian Democratic Forces, zu denen auch die YPG gehört), kontrollierten Gebieten relative Sicherheit und Gleichberechtigung für alle Ethnien (kurdisch, arabisch, turkmensich, ezdisch) und religiösen Gruppen (christlich, muslimisch, ezidisch, a-religiös) zu schaffen. Rojeva, die kurdisch dominierten Gebiete im Norden Syriens, wurden so zur Zufluchtsstätte auch vieler syrischer Binnenflüchtlinge. Frauen sind in diesen Gebieten überdurchschnittlich auf allen Ebenen der Selbstorganisation beteiligt und haben viele wichtige Projekte begonnen, um das Leben aller in der Region zu verbessern.

Für Türkinnen in der Türkei ist es gegenwärtig beinahe unmöglich, sich einem Friedensaufruf – im Verbund mit kurdischen, ezidischen, arabischen Frauen aus der Region – anzuschließen; staatliche Repressionen und das gesellschaftliche Klima lassen eine offene Diskussion nicht zu. Umso mehr wird ihre Stimme an dieser Stelle vermisst. Ich weiß, dass es jenseits des Mainstreams auch Frauen in der Türkei gibt (einige von ihnen hatten noch 2015 voller Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Wandel die HDP gewählt), die sich nach Frieden und Versöhnung sehnen. Auch schade ist, dass sich unter den vielen Deutschtürkinnen nur ganz wenige offen zu Wort melden, um dem weit verbreiteten Hass-Hashtag #YansınSuriyeYıkılsınAfrin (»Syrien soll brennen, Afrin soll zerstört werden«) entgegenzutreten.

Unsere Forderungen in Deutschland sollten sich daher vor allem an unsere eigene Regierung wenden: Die sofortige Einstellung aller Waffenexporte nicht nur an die Türkei, sondern überhaupt in alle Krisenregionen und die Einschränkung von wirtschaftlichen Kooperationen mit „autokratischen“ Regimen sowie eine stärkere Förderung zivilgesellschaftlicher, vor allem auch von Frauen geprägten Initiativen stehen dabei an erster Stelle.

 

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*Die Initiative “Frauen für Afrin” verfügt nun über eine Internetpräsenz: http://frauenfuerafrin.blogsport.de

Autorin: Jutta Pivecka
Redakteurin: Jutta Pivečka
Eingestellt am: 26.02.2018
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Monika sagt:

    Lest bitte den Artikel über mutige Kurdinnen in der EMMA!
    Und wo ist oder wer macht eine Petition gegen die Waffenlieferungen an das Erdoga-Regime?
    Ich freue mich auf eine Antwort.
    Herzlichst, Monika

  • Brigitte Leyh sagt:

    Ich schließe mich den Forderungen voll an, bitte aber noch um Ergänzung: Kein Export von ganzen deutschen Waffenfabriken(!) à la Rheinmetall !

  • -Ute Plass sagt:

    Danke für den Hinweis zu dieser so hoch notwendigen Friedens-Initiative. Hoffe, dass sich wieder mehr und vernehmbarer Menschen
    für Frieden und Abrüstung engagieren:https://www.frieden-geht.de/

  • Ina Praetorius sagt:

    Vielen Dank für die Initiative, und vor allem auch für die differenzierenden Zusatzüberlegungen! Ich finde es sehr wichtig, sich bewusst zu halten, dass es überall, in allen beteiligten Regionen und Parteien, Frauen* gibt, die sich nach Frieden und Freiheit sehnen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten entsprechend tätig sind. Viele von ihnen können ihrem Wunsch nicht oder nur sehr beschränkt Ausdruck geben, oft aus Angst um die eigene Existenz. Oder ihre Stimmen kommen nicht bei uns an, weil sie (wie unsere eigenen feministischen Stimmen) in der männlich* geprägten (Medien-)Rhetorik als zu “kompliziert” erscheinen und deshalb nicht vermittelt werden. Solche Frauen verdienen unsere Solidarität, egal zu welcher Nation sie gehören. Ja: wir sollten vor allem unsere eigenen PolitikerInnen ansprechen und zivilgesellschaftliche, von Frauen* geprägte Initiativen unterstützen, auf allen Seiten.

  • Jutta Pivecka sagt:

    @Monika Die Redaktion von bzw unterstützt den Aufruf, gehört aber nicht zu den Initiatorinnen. Sobald diese eine Webseite haben, werden wir darauf verlinken. Die Forderungen der Initiative umfassen ein Stopp von Waffenlieferungen an die Türkei. Eine Petition könntest Du ja auch selbst starten.

  • -Ute Plass sagt:

    Hinweis auf den heutigen NachDenkSeiten:

    Afrin: Basisdemokratie mit starken Frauenrechten unter NATO-Beschuss

    Quelle: Kontrast.at

  • -Ute Plass sagt:

    MACHT FRIEDEN – Zivile Lösungen für Syrien

    Protestaktion –

    http://www.macht-frieden.de/aktiv-werden/protestaktion-maerz-2018

  • -Ute Plass sagt:

    Hier die Webseite der Initiative von Frauen und Frauenorganisationen für einen Frieden in Afrin und Nordsyrien

    http://frauenfuerafrin.blogsport.de/kampagne-frauen-und-frauenorganisationen-fuer-einen-frieden-in-afrinnordsyrien/

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