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Rubrik erinnern

Die Matriarchatsfrau Siegrun Laurent

Von Juliane Brumberg

Von der Frauenbewegung im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts kennen wir einige wenige Gesichter, die sich die Medien herausgepickt haben und immer wieder hervorholen. Doch ohne die vielen weniger prominenten Frauen, die es auch noch gegeben hat, wäre der große Erfolg der Frauenbewegung nicht möglich gewesen. In einer kleinen Serie möchten wir auf bzw-weiterdenken über einige von diesen Frauen erzählen. Wie sind sie zu ihrem frauenpolitischen Engagement gekommen, was machen sie heute?

Wir freuen uns übrigens über Artikel oder Vorschläge zu weiteren Frauen, deren Leben wir hier vorstellen können.

Als ich Siegrun Laurent in ihrer Wohnung in Karlsruhe besuche, erzählt sie mir als erstes strahlend: „Ich wohne in Hausnummer 30, meine eine Tochter in Nr. 50, die andere in Nr. 72, meine Schwester in Nr. 62 und mein Enkelsohn wohnt auch ein paar Straßen weiter. Ich habe mir hier mein eigenes kleines, matriarchales Umfeld geschaffen – und das ist so wichtig“. Wir sind alle nah beieinander, und haben doch unsere Freiheit. In klassischen Matriarchaten, so die Forscherinnen, gibt es nicht die herkömmliche Vater-Mutter-Kind-Familie mit dem Vater als Familienoberhaupt, sondern sie basieren auf von den Müttern geprägten Sippen, in denen die Frauen dafür sorgen, dass alle das bekommen, was sie brauchen. Die jungen Mütter bleiben in ihrem Clan, männliche Bezugspersonen für die Kinder sind nicht die leiblichen Väter, sondern die Brüder der Mutter.

Das ist nun nicht das Modell, das Siegrun Laurent unbedingt in Europa einführen möchte, „nein, die Frauen sollen so leben, wie es gut für sie selber ist“, aber sie wünscht sich „mehr Achtung der Mutter-Tochter-Beziehung und mehr Offenheit, über andere Lebensformen vorurteilsfrei nachzudenken“. Dafür bieten die Visionen von einem friedlichen Matriarchat hervorragende Anknüpfungspunkte.

Wir kommen auf ihr eigenes Leben zu sprechen: „Es ist unmöglich, dass Du mein ganzes Leben aufschreibst, ich hatte ein sehr bewegtes Leben.“ Ein Leben, das von großer Offenheit zeugt und ganz sicher nicht dem herkömmlichen Modell entspricht. Ihr Lebenspartner, mit dem sie seit nahezu 40 Jahren verbunden ist, ist 18 Jahre jünger als sie. Davor – das war Ende der 1950er Jahre, war sie mit einem Iraner verheiratet, hat ein Jahr im Iran gelebt, das Land kennengelernt und von ihm zwei Töchter bekommen. „Später“, erzählt sie, „folgten eine Ehe mit einem französischen Mann, eine weitere Tochter und zehn Jahre in Frankreich.“ . Beim Zuhören beginne ich zu rechnen und frage Siegrun, wie alt sie eigentlich ist: „Jahrgang 1938, ich bin schon achtzig.“ Das hätte ich nicht gedacht, so vital, beweglich und voller Ideen und Pläne, wie ich sie erlebe.

Ganz wichtig ist die Mutter

Für ihren Werdegang hat die Mutter eine große Rolle gespielt. Ihr Vater war Pilot und ist im Krieg abgestürzt, „die Mutter saß mit drei Kindern alleine da. Was die Frauen im Krieg geleistet haben, ist unglaublich. Meine Mutter heiratete dann einen sehr schwierigen zweiten Mann, bekam noch ein Kind und hatte nie die Gelegenheit, ihr Potential auszuleben.“ Schon als 11jährige hatte Siegrun Laurent entschieden, dass sie sich später nicht opfern wolle und erinnert sich, dass sie ihrer Mutter einmal ins Gesicht geschrien hat: „Ich will nie so werden wie Du!“ Sie fährt fort: „Meine Mutter war eine gestandene SPD-Frau und wir hatten später viele politische Dispute. Bei mir hatte sie große Angst, dass ich in die RAF-Szene abrutsche.“

Sie kommt auf die Liebe zu sprechen: „Ich liebe meine Kinder, ich liebe meinen Lebensgefährten, ich liebe die Frauen, ich liebe die Welt.“ Sie ist eine große Liebende, das spüre ich. Aus dieser Liebe – und ihren vielfältigen Erfahrungen – schöpft sie die Kraft für ihr Engagement.

Auch ihr berufliches Leben verlief nicht etwa gradlinig, sondern sehr abwechslungsreich. Zunächst hatte sie Kunst studiert und auch als Künstlerin gearbeitet: „Das Künstlerische war meine Möglichkeit, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und als Frau zu befreien. Außerdem kam mir als Künstlerin Anfang der 1960er Jahre viel mehr Toleranz entgegen. Dabei habe ich, noch jenseits aller Patriarchatskritik, gemerkt, was es heißt, Künstlerin in der Männerwelt zu sein.“

Obwohl in ihrer Wohnung viel Skulpturen und Kunstwerke stehen, kann sie mir von ihren Kunstwerken nichts zeigen. „Nachdem ich an meiner ersten großen Demonstration gegen das Atomkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl teilgenommen hatte, fing mein öffentliches Denken an. Das Künstlerische wurde mir weniger wichtig. Ihr feministisches Erwachen erfolgte durch das Buch „Der kleine Unterschied“ von Alice Schwarzer. Durch die Interviews in dem Buch haben alle Frauen, so auch ich, gemerkt, dass es ihnen nicht alleine so geht, wie es ihnen geht. Vorher haben sie gedacht, sie selbst seien das Problem.“

Immer auf Demos unterwegs

Das war dann schon Mitte der 1970er Jahre und Siegrun Laurent lebte mittlerweile mit ihren Töchtern in Speyer. „Doch ich merkte, ich war zu isoliert, ich musste mit anderen Frauen sprechen. Mit meiner kleinen Tochter an der Hand bin ich ins Frauenzentrum nach Mannheim gefahren. Dabei hatte ich schreckliche Hemmungen vor all den intellektuellen Frauen dort, doch die sagten zu mir ‚Mit dem, was du erlebt hast, weißt du viel mehr, als wir.“ Es folgte eine ganz aktive Zeit im Mannheimer Frauenzentrum mit Theater spielen und vielen Demonstrationen: „Im Frauenverbund zu demonstrieren, war noch etwas Anderes, als die gemischten Demos.“

Als ihr die Fahrerei nach Mannheim zu viel wurde, sorgte sie für die Gründung eines Frauenzentrums in Speyer, das „sehr, sehr lange bestand. Ich war nicht die Einzige. Wir waren sehr aktiv – und das ging, weil wir Vertrauen zueinander hatten. Fast jedes zweite Wochenende war irgendeine Aktion und ich habe immer die Kinder mitgenommen. Wir dachten nicht darüber nach, genug zu essen zu haben, sondern die Welt zu verändern.“ Beim Erzählen gibt sie zu: „Es war nicht einfach für meine Kinder, so eine Mutter zu haben.“

Mittlerweile hatte Siegrun Laurent eine Ausbildung zur Psychotherapeutin absolviert, das Frauenhaus in Speyer mitgegründet, einen Frauennotruf initiiert und dort die Beratungsarbeit übernommen. Dazu sagt sie: „Die Liebe zu mir selbst ist auch die Liebe zu anderen Frauen. Mein Anliegen war immer, zuerst individuell auf die Frauen zuzugehen.“

Heimweh nach der Frauenbewegung

In den 1980er Jahren kam wieder etwas Neues: „Nach den großen Friedensdemonstrationen in Bonn war ich sehr ausgepowert und verzweifelt. Es waren so viele Menschen auf der Straße gewesen und ich habe gemerkt, es ändert sich nichts.“ So beschlossen sie und ihr Lebenspartner, mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter in Südamerika ein Aussteigerleben zu führen. „In Patagonien fanden wir ein Stück Land, das wir kultivieren konnten. Das ist uns auch ganz gut gelungen. Ich bin zwar eigentlich keine Bergbäuerin, habe aber Hochbeetkulturen angelegt. Für meinen Partner war das Leben dort genau das Richtige, aber ich habe so ein Heimweh nach den Frauen gehabt. So sind wir nach drei Jahren wieder zurück.“ Heute sagt sie, dass sie diese drei Jahre nicht missen möchte. Doch wenn man sieht, mit wie viel Power sie sich noch einmal in die sich weiter entwickelnde Frauenbewegung stürzte, wird deutlich, dass sie ihre Visionen von einem guten Leben in Deutschland umsetzen musste.

Politisch hatte sie inzwischen die Bedeutung von Spiritualität entdeckt: „Der Begriff ‚Göttin‘ ist unglaublich wichtig. Zunächst haben wir die Göttin als politischen Begriff dem ‚Gott‘ gegenübergestellt. Doch dann kam die Erkenntnis, dass die Göttin in mir ist und in jeder anderen Frau. Es kamen viele Bücher auf den Markt, die den Frauen und mir eine andere Spiritualität ermöglichten. Das hatte immer auch mit Natur, Respekt und Ehrfurcht zu tun. Die Bewegung wurde stärker, die Jahreskreisfeste intensiver – in Bezug zu mir selbst und zur Natur. Ich darf mich nicht außen vor stellen.“

Matriarchate als Vision für ein gutes Leben

Parallel dazu entwickelte sich die Matriarchatsforschung mit einem ganz neuen Blick auf die patriarchale Geschichte und den Visionen für andere Lebensformen. Siegrun Laurent sagt heute: „Es gibt keine reinen matriarchalen Gesellschaften mehr. Sie sind alle patriarchal verseucht.“ Und sie hat gelernt: „Wir können das Patriarchat nicht auf der Straße überwinden, wir können es nur in uns selbst. Die ganze Welt ist von Männern geformt, aber was sind meine Werte? Dazu gehört auch Radikalität – bei uns selbst, damit wir im Kollektiv etwas verändern können.“ Ihre große Lebensleistung sehe ich darin, dass sie der Matriarchatsforschung, die in den neunziger Jahren noch allgemein belächelt wurde, zu mehr Öffentlichkeit und mehr Vernetzung verholfen hat. In diesem Zusammenhang denkt Siegrun Laurent über die ‚Feministinnen aus der zweiten Reihe‘ nach. „In der ‚ersten Reihe‘ stehen die Autorinnen, die die wegweisenden Bücher geschrieben haben. Aber ich empfinde uns Frauen, die deren Erkenntnisse in die Gesellschaft tragen, genauso wichtig. Sonst verpufft alles. Es muss doch gelebt und unter die Frauen gebracht werden!“

Ausrufung des Jahrtausends der Frau

Ein ganz besonderes Highlight war für sie die Ausrufung des ‚Jahrtausends der Frau‘ am Hambacher Schloss. „Die Idee dazu kam mir wie ein Blitz, als ich während einer Autofahrt das Hambacher Schloss im Morgenlicht vor mir sah.“ Dazu muss man wissen, dass das Hambacher Fest, eine sechstägige Protestveranstaltung vom 27. Mai bis zum 1. Juni 1832, eines der wichtigsten historischen Ereignisse der deutschen Demokratiebewegung war und eine hohe Symbolkraft hat. Das Schloss liegt in Siegrun Laurents Heimatregion nicht weit von Speyer und Karlsruhe auf der linken Seite der Rheinebene am Rande des Pfälzer Walds.

Hierhin hatte sie für den 28. Mai 2000 tausend Frauen aus aller Welt eingeladen, um mit ihnen die Visionen für das neue Jahrtausend zu feiern. Und sie kamen tatsächlich. 25 Feministinnen gestalteten das dreitägige Fest mit Statements, Vorträgen, Gedichten, Liedern, Tänzen und einem Ritual. In einer – leider vergriffenen – Dokumentation hat  Siegrun Laurent dazu geschrieben: „Es ist kaum möglich, ein Ritual in Worten wiederzugeben, in dem wir uns mit der Kraft der Elemente und mit allen Frauen dieser Welt verbinden, oder die gemeinsame Kraft zu beschreiben, die bei einem Körpergebet oder einem Tanz entsteht. Es ist schwer, das Bild von einem pulsierenden, farbenprächtigen, von Lachen und Weinen erfüllten, von Frauenkraft strotzenden, von Musik, Tanz, Gesängen und Stille erfüllten Schlosshügel wiederzugeben.“

Siegrun Laurent bei der Eröffnung des Muttergipfels 2008 in Karlsruhe. Fotos: Juliane Brumberg

In der Folge organisierte sie noch zwei weitere große Frauentagungen zum Thema Matriarchat: 2008 den Muttergipfel in Karlsruhe und 2010 den Internationalen Goddess-Kongress, wieder auf dem Hambacher Schloss. Das war jeweils mit großer Verantwortung und hohen Kosten für Tagungsräume und Flüge für die Matriarchatsexpertinnen aus dem Ausland verbunden: „Alles lief auf meinen Namen, einschließlich des finanziellen Risikos. Aber egal, ich musste es machen, und es ist immer gut ausgegangen“, erinnert sie sich, noch immer mit Begeisterung in der Stimme.

Gründung der Alma Mater

Eine noch weitreichendere Folge des ersten Hambacher Frauenfestes war die Initiative zur Gründung der Alma Mater, einer Feministischen Akademie für Kultur, Ethik, Religion und Spiritualität: „Die Ausrufung des Jahrtausends der Frau war ein wunderbarer Augenblick, aber die Frauen wollten mehr wissen. So haben wir einen dreijährigen Studiengang konzipiert mit sehr vielen Lehrstunden und Treffen an verlängerten Wochenenden für jeweils 2 x 13 Frauen.“ 2012 ging der letzte Studiengang zu Ende. Siegrun Laurent sagte heute: „Ich bin glücklich, dass die Studiengänge zu Stande gekommen sind. Doch schließlich, nach 3 x 3 Jahren, ist es mir zu viel geworden. Wir waren zwar ein Team, aber ich hatte die Verantwortung. Es ging so viel Kraft in die ganze Organisation und die Beziehungsarbeit.“

Das heißt aber nicht, dass Siegrun Laurent nun untätig ist. Nach wie vor ist sie rund um das Thema Göttin und Matriarchat engagiert, als Vorsitzende der Mutterlandstiftung, im Vorstand der Gerda-Weiler-Stiftung , im Gode-Netzwerk und im Matria-Circle, in dem Frauen aus Karlsruhe, die an diesen Themen interessiert sind, zusammenkommen. Außerdem schreibt sie an einem Buch, dem sie den Arbeitstitel ‚Matriarchale Spiritualität und die Liebe zu matriarchalen Werten‘ gegeben hat.

Bevor ich mich auf den Heimweg mache, fasst sie ihre Anliegen noch einmal thesenartig zusammen: „Ganz wichtig ist:

  • das Mutter-Tochterverhältnis,
  • dass junge Frauen sich engagieren
  • der Schritt in die Praxis der Matriarchatsbewegung
  • Offenheit für andere Vorstellungen, wie eine Gesellschaft aussehen kann
  • Sich in Wahrhaftigkeit zu begegnen.

Mehr Infos:
Siegrun Laurent, Ausrufung des Jahrtausends der Frau, Hambacher Frauenmanifest, ISBN 3-00-007010-9
Alma Mater

Im Rahmen dieser Serie wurden bisher die Donaupriesterin Gisela Forster, die Feministin Barbara Linnenbrügger, die Malerin Waltraud Beck, die Professorin Monika Barz, die Historikerin Irene Franken, die Tagungsleiterin Herta Leistner, Dagmar Schultz und die Alltagsforscherin Maria Rerrich vorgestellt.

Autorin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 22.03.2019
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Danke für diesen tollen Bericht über eine wunderbare Frau! Ich habe viel und gerne mit Siegrun zusammengearbeitet, als Ritualleiterin auf dem Hambacher Fest, als Referentin in der Alma Mater und bei vielen anderen Gelegenheiten. Immer habe ich ihre unglaubliche Offenheit, Kreativität und Energie bewundert. Möge die Göttin ihr noch viele schöne Momente im Kreis der Frauen schenken!

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