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Rubrik erzählen

Eine richtige deutsche Familie

Von Gudrun Nositschka

„Mein Gott, auch noch Russen!“ Emmi war entsetzt. Hilfe suchend schaute sie in die versammelte Familienrunde. An mir, ihrer ältesten Nichte, saugte sich ihr Blick fest, nun mehr abwehrend, entrüstet, ja anklagend. Hatte ich doch soeben schlüssig dargelegt, dass ihr Großvater väterlicherseits nicht nur jenseits der deutsch-masurischen Grenze in Russisch-Polen geboren worden war, sondern dass auch sein Name Chomontowski höchstwahrscheinlich seinen Ursprung in dem Ort Chomontowo hatte, ca. 20 km von seinem Geburtsort entfernt gelegen. Tapfer lächelte ich sie an.

„Du irrst dich, liebe Tante Emmi. Die Menschen dort waren überwiegend Polen, Masuren und Litauer, die nach den Teilungen Polens unter der zaristischen Knute leben mussten. Da es ihnen aber in Russisch-Polen noch schlechter ging als den Polen in den preußisch annektierten Gebieten, wanderten viele nach Preußen aus. So wurden sie zuerst gute preußische, später deutsche Untertanen im Deutschen Kaiserreich.“

„Ob Polen, Russen oder Litauer, ist doch alles gleich!“, jammerte sie. „Ich verstehe das nicht! Werner hat doch gemeint, dass der Name französischen Ursprungs sei. Nach der furchtbaren Verfolgung der Protestanten in Frankreich durften sich nämlich auch einige Hugenotten in Ostpreußen niederlassen. Werner, nun sag’ endlich was! Hast du uns nicht erklärt, dass unser Name Chomon von dem Begriff Kumet, einem Pferdegeschirr, hergeleitet werden kann und somit höchstwahrscheinlich französischen Ursprungs ist?“

Werner, ihr Mann, Studiendirektor i. R., Theologe und Hobbylinguist, nickte zustimmend, räumte aber ein, dass die Namensgleichheit des Familiennamens mit dem Ort im ehemaligen Russisch-Polen auffallend und bemerkenswert wäre. Ihn schien meine Entdeckung nicht zu schrecken. „Was hätte unsere Familie denn davon, wenn wirklich ein Vorfahre Hugenotte gewesen wäre, anstatt Pole, Litauer oder Russe?“ spöttelte ich. „Ihr Älteren habt doch noch in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Schule lernen müssen, dass die Franzosen eure Erbfeinde sind.“

„Das verstehst du nicht, Gudrun“, meinte Tante Jette belustigt. „Es heißt, oder besser es hieß, je weiter man nach Osten gehe, um so barbarischer und unkultivierter seien die Menschen dort. Frankreich dagegen bedeutete ein Hort der Zivilisation und Kultur.“ „So’ n Quatsch“, knurrte ich. „Und was ist mit Tolstoi, Dostojewski, Tschaikowsky und Chopin?“

„Mich brauchst du nicht zu überzeugen,“ lachte Jette vergnügt. „Ich bekenne mich gern auch zu meinem feurigen slawischen Blut. Kommt, lasst uns Mazurka tanzen!“ Trotz ihrer siebzig Jahre stand sie behände auf und schnalzte mit der Zunge. Doch niemand wollte tanzen.

„Schade, dass ihr gar keine deutsche Familie seid“, sagte unvermutet Luigi, Emmis Schwiegersohn aus Norditalien. Auf seine Herkunft aus Nord-Italien legte er allergrößten Wert. „Das hätte ich eher wissen müssen!“ Unsere Blicke richteten sich überrascht auf ihn. Einige von uns hatten ihn noch nie in der Familienrunde diskutieren hören. „Was redest du da zusammen?“ fuhr seine Frau, meine Kusine Karla, hoch. „Natürlich sind wir eine richtige deutsche Familie! Was sollten wir denn sonst sein?“ „Weiß nicht“, sagte Luigi aufsässig. „Auf keinen Fall deutsch! Und ich wollte unbedingt in eine deutsche Familie einheiraten.“

„Bitte, drücke dich etwas deutlicher aus! Was stellst du dir bloß unter einer richtigen deutschen Familie vor?“ Luigi schwieg verstimmt.

„Denk doch an seine norditalienische Herkunft“, antwortete ich an seiner Stelle. „Mir hat er einmal erzählt, dass er überzeugt ist, gotische oder langobardische Vorfahren zu haben, daher seine blauen Augen. Wegen dieser Herkunft wollte er unbedingt eine Frau mit germanischen Vorfahren heiraten und hat deshalb eine Deutsche gesucht.“

„Auch gut“, sagte Karla versöhnlich. „Schließlich hat er mich gefunden. Mittelblond und blauäugig, wie viele deutsche Frauen. Außerdem bin ich tüchtig, zuverlässig, liebe Pünktlichkeit und Ordnung, obendrein meine Familie, Blumen und Tiere sowie den Chorgesang. Reicht das etwa nicht, um in mir nicht den Prototyp einer deutschen Frau zu sehen? Und vergesst nicht – ich bin eine geborene Schneider, ein edler und sehr deutscher Name. Komm, Vati, sag du bitte meinem Mann, wie deutsch wenigstens deine Abstammung ist, damit er sich wieder beruhigt!“ Auch Emmi blickte wieder hoffnungsvoll auf ihren Mann. Er würde als Theologe die richtigen Worte finden! Alle aufgekommenen Zweifel ausräumen! 

Werner, der sich seit seiner Pensionierung lieber der Linguistik als dem Predigen widmete, errötete bis zum hohen Haaransatz wobei Mund und Nasenflügel leicht zuckten. „Wenn ihr mich so fragt – die Seite meines Vaters trägt tatsächlich deutsche Namen. Diese Verwandtschaft war überwiegend blond und blauäugig, aber auffallend zierlich! Nach dem herkömmlichen Bild lässt das nicht unbedingt auf eine rein germanische Vererbung schließen.

Die Seite meiner Mutter dagegen, braunäugig, dunkelhaarig und untersetzt, stammt aus dem Spreewald, ist also wendischer oder sorbischer Herkunft, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin niedergelassen hatte. Soweit zu deiner Frage, Karla. Im Übrigen verstehe ich Luigis Bemerkungen über unsere Familie nicht. In Berlin sind alle stolz darauf, bewegliche, unternehmungslustige Vorfahren aus Böhmen, Schlesien, Masuren, sowie Polen und Frankreich zu besitzen. Nicht auszuschließen, dass deshalb dieser Menschenschlag besonders zäh und kess ist.

Hier bei uns im Ruhrgebiet ist ebenfalls eine großartige Mischung entstanden, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt! Oder schaut ins Rheinland! Die dortige Ahnenreihe ist sogar mit „Des Teufels General“ von Carl Zuckmayer berühmt geworden und in die deutsche Literatur eingegangen! Schade nur, dass Zuckmayer lediglich die durchreisenden und hinzugezogenen Männer wie die römischen Legionäre und jüdischen Kaufleute aufgelistet hat, nicht aber die Herkunft der Frauen, zu denen bestimmt auch Keltinnen zählten.

Worauf ich hinaus will: Wir Deutschen sind gut durchmischt, und ich sehe nicht, dass das ein Nachteil sein soll oder wir deswegen weniger deutsch sind!“ Beeindruckt von seiner kleinen Rede blickten wir ihn bewundernd an; Eva und Peter applaudierten begeistert.

Nur Luigi blieb unzufrieden. „Ich glaube, dann gibt es überhaupt keine richtigen Deutschen. Bin wohl einer Illusion aufgesessen. Möchte nur wissen, was euch in Deutschland zusammenhält! Auf keinen Fall eure Blutsverwandtschaft!“ Im Raum wurde es auffallend still. Luigi hatte Recht.

Was mochte uns nur miteinander verbinden, wenn die Blutsverwandtschaft fehlte, zumindest unklar war? „Die Süffigkeit und Reinheit des deutschen Bieres“, schlug Karl, mein jüngster Onkel, vor und klopfte sich genüsslich auf seinen gerundeten Bauch. „Unsere gemütvollen deutschen Volkslieder“, meinte Mariele, seine Schwester, und begann mit ihrem einschmeichelnden Sopran „Am Brunnen vor dem Tore“ zu singen, während Jette in kräftiger Altlage „Oh Tannenbaum“ anstimmte. „Die Sehnsucht nach dem deutschen Märchenwald“, erklärte Willi, der einzige Jagdfreund in der Familie, mit dröhnendem Bass. „Ohne Wald keine deutschen Märchen, ohne Märchen keine deutsche Erziehung – oder?“ „Ich hab’s!“ rief Karla in das beginnende Durcheinander hinein, da Mariele und Jette, mittlerweile unterstützt von meiner Mutter und Kusine Uta, weitere deutsche Volkslieder sangen.

„Es ist die deutsche Sprache, unsere Muttersprache! Wir alle hier im Raum, außer Luigi, haben sie von unseren Müttern gelernt, die wiederum von ihren Müttern. Mindestens seit drei Generationen spricht die weibliche Linie deutsch.“

Beifälliges Nicken und Gemurmel, Erleichterung auf den Gesichtern. Natürlich – wir waren durch die deutsche Sprache verbunden! Abrupt hatte Jette aufgehört zu singen und guckte irritiert ihre Nichte an. „Wenn das wirklich den Ausschlag geben soll, stehe ich bald hier in Deutschland mit einem ausländischen Enkelkind da, weil Rainer demnächst Jung-Hee heiraten wird, und die stammt aus Süd-Korea. Sie lebt zwar schon seit 20 Jahren in unserer Stadt, will aber mit dem gewünschten Nachwuchs unbedingt auch in ihrer Muttersprache koreanisch reden. Ist das Kind dann etwa nicht deutsch?“

Ungeachtet ihrer Leibesfülle eilte Emmi zu ihrer Schwester und nahm sie tröstend in die Arme. „Das macht doch gar nichts, Schwesterchen. Haben wir Erbgut von Russen, Polen und sonstigen europäischen Völkern in uns, kann uns der Rest der Welt auch nicht mehr schrecken! Von heute an zählt in unserer Familie neben der Mutter- auch die Groß-Muttersprache.“ „Na und? Was habe ich davon?“, murrte Jette. Emmis kühner Blick umschloss uns alle. „ Und somit bleiben wir auch in Zukunft eine richtige deutsche Familie!“

Autorin: Gudrun Nositschka
Eingestellt am: 30.08.2019
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Monika sagt:

    Liebe Gudrun, das ist eine köstliche Geschichte! Ich könnte bei Euch mit reden, denn auch meine Familie, was auch immer das ist, stammt aus vielen Ländern, und das macht unsere genetische Vielfalt aus.

    Trotzdem bin ich sehr deutsch, was auch immer das sein soll.

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