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Kapitel 3: Das Generationenverhältnis: Verschiebungen und Tradierungsbrüche

Von Antje Schrupp, Dorothee Markert, Andrea Günter

Zum 20. Jubiläum der Flugschrift „Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik“ wurde das Büchlein im Christel Göttert Verlag neu aufgelegt und wird hier im Forum auch erstmals online veröffentlicht (hier der Link zum Anfang). Dies ist das 3. Kapitel über das Generationenverhältnis.

Dinge, die ein Leben überdauern und von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, wie Land, Häuser, Berufe, gestalten das Verhältnis der Generationen mit. Persönliche Zeugenschaft macht Erfahrungswissen und Sinn zugänglich, die nicht über die theoretische Vernunft zu erschließen sind. Sie werden von den Älteren an die Jüngeren tradiert. Dies ist aufgrund des Erfahrungsvorsprungs der Älteren nicht umkehrbar. Gleichzeitig ist das Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren eine Wechselbeziehung, die von beiderseitiger Dankbarkeit lebt.

Gegenwärtig erlebt das Generationenverhältnis bedeutsame Verschiebungen. Zum einen beobachten wir eine Idealisierung des Jungseins. Autorität wird den Jungen zugesprochen. So wird sehr jungen Managern die Aufgabe zugeteilt, ökonomische Entscheidungen zu treffen. Dahinter steht das kapitalistische Kalkül, dass sie dies ohne Rücksicht auf Bindungen tun können.

Ein anderes Beispiel ist die öffentliche Behandlung von Frauenbewegung und Feminismus in den Medien, wobei den jungen Frauen die Autorität zugesprochen wird, über Sinn und Notwendigkeit von Frauenbewegung zu urteilen. In beiden Fällen wird Autorität denen zugewiesen, die sie eigentlich noch nicht ausüben können, da sie die Erfahrung der Niederlage, des Scheiterns und des Altwerdens noch nicht gemacht haben.

Zum anderen ist festzustellen, dass Ältere ihren Platz in der Generationenfolge nicht einnehmen, indem sie betonen, wie jung sie sich fühlen. Aber der eigene Platz in einer Altersgruppe wird definiert durch den Abstand zu den Neugeborenen, nicht durch das persönliche Empfinden.

Nachdem in Deutschland die 68er-Generation die Tradierung von Erfahrungswissen wegen der Unglaubwürdigkeit ihrer Eltern als Nazi-Generation unterbrochen hatte, weigert sie sich heute auch selbst, als ältere Generation Autorität auszuüben, das heißt, Position zu beziehen und mit einer respektvollen Haltung gegenüber den Jüngeren Konflikte auszutragen. Respekt vor den Jüngeren schließt die Bereitschaft ein, sich mit deren „großen Wünschen“, Phantasien und Utopien ernsthaft auseinander zu setzen, ohne diese mit Hinweis auf die eigenen Erfahrungen des Scheiterns und eigener Resignation vom Tisch zu wischen, sondern sie vielmehr als Ausgangspunkt dafür zu nehmen, Möglichkeiten des Tätigwerdens zu eröffnen.

Aus: Ulrike Wagener, Dorothee Markert, Antje Schrupp, Andrea Günter: Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik. Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim 1999, Neuauflage 2019.

Autorin: Antje Schrupp, Dorothee Markert, Andrea Günter
Eingestellt am: 08.04.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Ute Plass sagt:

    Aktuell zeigt sich – unter dem Schirm der Corona-Krise – dass
    alte Menschen pauschal als Risikogruppe eingestuft werden, um darüber sog. Schutzmaßnahmen zu verordnen, die für mich alles andere als Schutz bedeuten, sondern Entmündigung.

  • Ute Plass sagt:

    Dass wegen dem vermeintlichen Schutz der Alten-Generation ….
    die Jugend sich mehr oder weniger wegsperren muss, wird bei Wiederholung dieser Wahnsinns-Maßnahmen ganz sicherlich nicht
    dazu beitragen, das Generationen-Verhältnis ‘solidarisch’ aufzustellen.

    Angesichts der Tatsache, dass weltweit tagtäglich 15000 Kinder unter fünf Jahren elendig zugrunde gehen, erscheinen mir all die “Schutzmaßnahmen” unglaubwürdig, wiewohl ich gerne daran glauben möchte, dass jetzt das humane Zeitalter angebrochen sein soll, dass dem Schutz der Alten u. Schwachen höchste Priorität einräumt.

  • Sandra Divina Laupper sagt:

    Ja, da Generationenverhältnis gibt mir auch immer wieder zu denken, speziell das Verhältnis zwischen Frauen verschiedener Generationen!
    Ich kann den Autorinnen Recht geben, was die Schwierigkeiten betrifft, wenn es um Konflikte geht, die ich (1967 geboren) zwischendurch mit Frauen auszusehen habe, die der 68er Generation (oder wenig jünger) angehören. Ich denke dabei an Frauen aus der Frauenbewegung, mit denen ich ja in Wirklichkeit eine gute Beziehung habe. Nur der Aspekt “Konflikt” ist immer wieder weniger befriedigend ausgefallen, zumindest für mich. Ich habe dabei das Gefühl, mein Gegenüber zu überfordern, weshalb ich im allgemeinen einlenke…
    Freilich, es ist auch immer wieder schwierig, die Frauen von vorangehenden Generationen in ihrer Erfahrungswelt zu verstehen. Im Moment lese ich z. B. den Beitrag von Lia Cigarini im Buch “La carta coperta” (Hrg. von Chiara Zamboni), in dem sie von ihren Erfahrungen mit den diversen politischen Praktiken der 70er und 80er Jahre (Selbsterfahrung, Praxis des Unbewussten… ) erzählt. Obwohl ich schon einiges Theoretisches (v. a. natürlich “Wie weibliche Freiheit entsteht” vom Frauenbuchladen von Mailand) dazu gelesen hatte, habe ich bei dieser persönlich gehaltenen Erzählung einiges mehr verstanden.
    Es war freilich höchste Zeit für solche Erzählungen (in diesem Sammelband gibt es mehrere davon, von verschiedenen Frauen)! Wer weiß, warum das nicht früher möglich war…

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