beziehungsweise – weiterdenken

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Rubrik denken

Vom Glück der Weltgestaltung

Von Ina Praetorius

Oder: wie spreche ich mit emanzipierten Geschäftsfrauen über die Notwendigkeit des Denkens?

Stuhl

Ein Ort zum Denken muss nicht der Schreibtisch sein.

Mein Job ist das Denken. Vielleicht können Sie sich das nicht gut vorstellen, was das heisst: hauptamtlich denken. Schliesslich denkt jeder Mensch fast ununterbrochen. Vielleicht ist das so wie mit dem Atmen: Jeder Mensch atmet, und zwar ununterbrochen, sonst stirbt er oder sie. Und trotzdem ist es gut, dass es so etwas wie AtemtherapeutInnen und Wellnesspezialistinnen gibt, die sich bewusst mit der Frage auseinandersetzen, wie wir gut atmen können: so, dass wir nicht einfach irgendwie überleben, sondern gut und genussvoll leben.

Ich sitze also meistens am Schreibtisch, schreibe Bücher oder andere Texte und denke darüber nach, wie wir gut leben können. Manchmal denke ich auch im Liegen oder Gehen nach, oder beim Kochen am Herd oder beim Kloputzen, oder natürlich im Gespräch mit anderen. Wenn ich sage, dass ich über ?uns? und ?unser Zusammenleben? nachdenke, dann meine ich die sechseinhalb Milliarden Frauen und Männer, die in immer neuen Generationen, zusammen mit unzähligen anderen Lebewesen, die eine Erde bewohnen, die einzige Erde, die uns zur Verfügung steht. Das ist vielleicht schon ein erster Unterschied zu Leuten, die zum Beispiel darüber nachdenken, was sie heute tun müssen oder wie sie ihr neues Produkt am besten auf dem Markt platzieren. Ich sehe meine Aufgabe als Ethikerin und Autorin darin, bewusst über ?das Ganze? nachzudenken, also nicht nur über mein eigenes Leben oder das Leben meiner Familie oder das Leben in der Schweiz oder in Europa. Ich habe den Anspruch, dass meine Gedanken sich am Wohlergehen der anderen messen lassen müssen. Und zwar auch und gerade derjenigen, die weniger gut dran sind als ich oder als wir hier in der Schweiz. Jede Ethikerin und jeder Ethiker sollte diesen Anspruch haben, denn er ist gewissermassen der Kern unseres Berufsethos. Das ist manchmal ziemlich anstrengend und verunsichernd. Aber ich liebe meine Arbeit, und ich halte sie für notwendig.

Ich halte es heute für ganz besonders wichtig, dass Frauen über ?die ganze Welt? nachdenken. Denn wir leben in einer Kultur, in der Frauen Jahrhunderte lang vom Denken ferngehalten wurden. Meiner Mutter und meiner Schwiegermutter hat man zum Beispiel noch gesagt, eine Frau müsse und solle nicht Latein lernen. Latein sei die Sprache der Gebildeten, und Frauen müssten eigentlich nur ein kleines bisschen gebildet sein, damit sie ihre Ehemänner einigermassen verstehen und unterhalten könnten, wenn sie abends von der Arbeit heimkommen. Meine Mutter ist dann trotzdem Professorin an einer Musikhochschule geworden. Und bei mir war das ?Karrieremachen? schon viel einfacher: Ich habe Latein und Nachdenken gelernt, und zwar in einer Klasse, in der ungefähr zur Hälfte Mädchen sassen. Danach habe ich an verschiedenen Universitäten zwei Fächer studiert und schliesslich den Doktor gemacht.

Aber natürlich wirkt die Vorstellung, dass Frauen nicht fürs Denken zuständig sind, bis heute nach und wird noch länger nachwirken. Wenn Sie zum Beispiel versuchen, sich ein paar ?grosse Namen?, also Namen von Leuten in Erinnerung zu rufen, die unsere Geschichte und Kultur geprägt haben, dann fallen Ihnen ziemlich sicher Männernamen ein: Sokrates, Jesus, Karl der Grosse, Napoleon, Wilhelm Tell, Bach und Mozart, Goethe und Schiller, Karl Marx und Sigmund Freud und so weiter. Ziemlich sicher fallen Ihnen spontan nicht Namen wie Hildegard von Bingen oder Hannah Arendt ein, obwohl auch diese beiden über die ganze Welt nachgedacht und die Welt geprägt haben. Das ist ein Ergebnis des Weltbildes, das bis heute in den Schulen und Universitäten verbreitet wird: Männer sind fürs Grosse Ganze, für Kultur, Geschichte und Fortschritt zuständig…

…Und wofür waren Frauen zuständig, bevor sie sich ?Gleichheit? erkämpft haben? Sie waren für Körper, Nahrung und Nachwuchs zuständig, für Kinder und Küche, und für die Kirche insofern, als sie den Kindern in täglicher Kleinarbeit einen Sinn im Leben zu vermitteln hatten, damit die Kinder zu starken und lebenstüchtigen Erwachsenen heranwuchsen, die sich dann wieder als Männer im feindlichen Leben und als Frauen am heimischen Herd bewähren konnten.

Seit mehr als zweitausend Jahren, grob gesprochen: seit der griechischen Klassik, lebt die Menschheit, zumindest hier im Westen, mit diesem zweigeteilten Weltbild: In den so genannt höheren Sphären befinden sich Begriffe wie Gott, Geist, Kultur, Geschichte, Politik, Dynamik, Fortschritt, Krieg, Konkurrenz, Geld, Macht, Vernunft und Männlichkeit. Darunter liegt ein weitgehend stummer ?Mutterboden? (das Wort ?Materie? leitet sich vom griechischen und lateinischen Wort für ?Mutter? ab), der unermüdlich die Nahrung für die höheren Sphären herstellt: Muttermilch, Mittagessen, Lebenssinn, Befriedigung körperlicher Bedürfnisse, Gemütlichkeit, Kinderstube.

Seit nun diese zweigeteilte Weltordnung vor ein paar Jahrzehnten durcheinander geraten ist, seit Frauen nicht mehr nur heiraten und für den Haushalt zuständig sind, sondern sich als Geschäftsfrauen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Schreiberinnen etc. betätigen, seit sie ihr eigenes Geld verdienen und unter anderem dadurch unabhängig geworden sind von ihren Ehemännern, ist einiges durcheinander geraten. Und genau deshalb ist es notwendig, dass Frauen heute nachdenken, dass es sogar Frauen gibt, die, wie ich, hauptamtlich nachdenken. Denn die Welt sollte ja in Ordnung kommen, allerdings in eine andere Ordnung als vorher. Zwar gibt es viele Leute, die meinen, die Welt käme dann in Ordnung, wenn die gute alte zweigeteilte Geschlechterordnung wieder gelten würde. Aber das kann nicht stimmen, denn erstens war die Welt ja vorher gar nicht in Ordnung. Wäre sie in Ordnung gewesen, dann hätten wir keine Kriege (gehabt), keine Armut und keine Gewalt, dann hätten wir heute kein Umweltproblem und keine soziale Frage. Und zweitens haben die Frauen ja nicht aus einer albernen Laune gegen die zweigeteilte Weltordnung protestiert, sondern weil sie gespürt haben, dass da etwas nicht stimmt und dass mehr in ihnen steckt als stummer Mutterboden, nämlich: Freiheit, Wünsche, Begabungen und Lust, die Welt zu gestalten.

Es kann also nicht darum gehen, in die alte Ordnung zurück zu kehren und zu meinen, dann werde alles gut. Was aber auch nicht funktioniert, das ist die Vorstellung, Frauen müssten nur alles möglichst gleich machen wie Männer. Es gibt heute eine Menge Indizien, die darauf hinweisen, dass es so auch nicht geht: Zum Beispiel bekommen Frauen in den reichen Ländern immer weniger Kinder, was die Sozialsysteme durcheinander bringt und etliche Zukunftsfragen aufwirft. Zum Beispiel hätten wir, wenn wir nicht noch Pflegerinnen aus osteuropäischen Ländern oder aus Asien importieren könnten, einen massiven Pflegenotstand. Und das heisst ja nichts anderes, als dass niemand sich mehr zuständig fühlt für die Aufgaben der Pflege, die früher selbstverständlich von Frauen gratis geleistet wurden. Zum Beispiel leiden viele Frauen, vor allem Mütter, unter dem, was wir ?Doppelbelastung? nennen. Sie sind also ausser Haus berufstätig und müssen gleichzeitig noch all das erledigen, was früher ihre einzige Aufgabe war. Denn offensichtlich beteiligen sich viele Männer von emanzipierten Frauen nicht automatisch an den häuslichen Aufgaben, die sich mit noch so viel Technik nicht aus der Welt schaffen lassen. Und das ist auch kein Wunder. Denn schliesslich haben männliche Denker Jahrhunderte lang viel geistige Energie aufgewendet, um sogenannt ?weibliche? Tätigkeiten als ?niedrig? und ihrer unwürdig zu kennzeichnen. Warum also sollten sie jetzt plötzlich solche niedrige Frauenarbeit tun?

Nachdenken ist also dringend notwendig, weil wir jenseits der patriarchalen Ordnung die Welt neu gestalten müssen. Wir können nicht einfach auf ein bewährtes Modell zurückgreifen, heisse es nun ?Männlichkeit? oder ?Weiblichkeit?. Es geht darum, im Einzelnen zu überlegen, wer in einer nachpatriarchalen Gesellschaft wofür zuständig ist, was es überhaupt alles zu tun gibt und was wir – uns selber und der Umwelt zuliebe – lieber bleiben lassen sollten. Jenseits der althergebrachten Selbstverständlichkeiten braucht es Ideen dazu, was es überhaupt bedeutet, in der Welt ein sinnvolles und gutes Leben zu führen, das mir selbst, den anderen sechseinhalb Milliarden ErdenbürgerInnen und dem Globus gut tut.

Ich habe nun, allein und mit anderen zusammen, schon etliche Bücher geschrieben über genau solche Fragen. Eines davon heisst ausdrücklich ?Welt gestalten im ausgehenden Patriarchat?. In diesen Büchern geht es um ganz verschiedene Themen. Zum Beispiel um die Frage, wie man oder frau in einer Welt, in der Geld, Leistung und Erfolg das Höchste zu sein scheinen, überhaupt anfangen kann, sich eigen-sinnig zu orientieren. Oder darum, wie ein Ehe- und Familienleben jenseits der herkömmlichen Rollenvorstellungen aussehen könnte. Es geht auch um einen erneuerten Zugang zu gängigen Themen der Ethik, zum Beispiel zum Schwangerschaftsabbruch, zur sogenannten Bioethik oder zum Umgang mit Generationenkonflikten. Es geht um die Frage, wie wir mit unseren Traditionen kreativ umgehen können, die gleichzeitig alle Weisheit enthalten, die wir zum Leben brauchen, und unnütze patriarchale Einschränkungen. Und um noch viel mehr.

Nachdenken geht am besten im Gespräch, weil dann alle beteiligt sind und ihre eigenen, unterschiedlichen Erfahrungen einbringen können. Ich schlage vor, dass wir zwei Fragen in den Mittelpunkt stellen, nämlich:

Erstens: Haben Sie eigentlich das Gefühl, jetzt sinnvoll zu leben und zu wirtschaften?

Und zweitens: Hatten Sie schon einmal das Gefühl, die Welt schöpferisch zu gestalten, nach Ihren eigenen Vorstellungen, jenseits von gängigen Rollenspielen?

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 20.09.2006

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