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Rubrik erinnern

Geschichte, Spiritualität und Theologie der Beginen

Von Judith Palm

Da offenbarte sich Gott meiner traurigen Seele ohne Verzug,
indem er das Buch in seiner Rechten trug und sprach:

»Meine Liebe, betrübe dich nicht zu sehr,
die Wahrheit kann niemand verbrennen.
Wer mir das Buch aus der Hand nehmen will,
muß stärker sein als ich.
Dieses Buch ist dreifaltig und bezeichnet alleine mich.
Das Pergament, das es rings umhüllt,
ist Bild meiner reinen, weißen, gerechten Menschheit,
die deinetwillen den Tod erlitt.
Die Worte bedeuten meine wunderbare Gottheit.
Sie fließen von Stunde zu Stunde
in deine Seele aus meinem göttlichen Munde.
Der Klang der Worte erklärt meinen lebendigen Gott
und erschließt mit ihm die richtige Wahrheit.
Nun sieh aus allen diesen Worten,
wie rühmlich sie mein Geheimnis verkünden:
Du sollst keinen Zweifel an dir finden.«

Wem diese Zeilen mystisch, das heißt geheimnisvoll erscheinen, ist schon mitten im Thema des Symposiums „Quellen der Mystik“ im Mai 2011 mit etwa 150 Teilnehmerinnen in der Evangelischen Stadtkirche St. Petri in Dortmund stattfand.

Drei Frauen des Mittelalters sollten vorgestellt werden in diesen anderthalb Tagen: Mechthild von Magdeburg, Hadewuch (oder Hadewijch) und Marguerite Porete. Die Frauen und ihre Zeit wurden lebendig und aktuell, indem der lichte Raum der mittelalterlichen Kirche, Lesungen aus den Schriften der Mystikerinnen und Musik – auch – aus ihrer Zeit sich zusammenfügten und diese vergangene Welt in die Moderne transponierte.

Anstoß zu diesem Symposium war die Arbeit von Ulrike Eichler an der Ruhr Universität Bochum, wo sie gemeinsam mit Katharina Greschat ein Blockseminar zur Mystik anbietet und die Studierenden in das Symposium mit einband. Das hatte auch das schöne Ergebnis, das sich hier Junge und Ältere trafen und sich über die Welt der Mystik austauschen konnten.

„Nicht nur Institutionen arbeiten hier zusammen, sondern auch Personen, in diesem Fall: Frauen!“ – so brachte Ulrike Eichler die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Institutionen auf den Punkt. Die Stadtkirche St. Petri, das Frauenreferat der evangelischen Kirche von Westfalen, die Akademie Villigst  und die Ruhruniversität Bochum waren gemeinsam Veranstaltende.

Von den Besucherinnen und Besuchern der Kirche St. Petri fällt normalerweise der Alltag ab, denn sie betreten gleichsam einen anderen Raum, in dem sich die Seele öffnen und leben kann. Aber an diesem Freitagnachmittag sind die Geräuschkulisse der Fußgängermeile und zusätzlicher Baulärm stärker und dringen doch ins Innere der Kirche und in die offenen Ohren und Herzen.

„Einmischung von außen durch die städtischen Baustelle“ nennt Almut Begemann, Pfarrerin an der Stadtkirche und damit Gastgeberin dies in der Begrüßung, die fast im Lärm untergeht, so wie die ersten Töne der folgenden Musik: The flight beyond the time von Petri Makkonen spielt Ines Ringe, die die Tage musikalisch begleitet, auf dem Akkordeon. Es ist, als sei diese wundersame Musik die Brücke, über die nun alle hineingelangen in diesen fremden und wundersamen Raum der Mystik, als ziehe sie die Zuhörenden in die Stille und Tiefe. Tatsächlich bricht nun auch der Lärm von außen ab: Feierabend. Am Ende der Musik gebannte Stille.

Der zufällig so anstrengende Beginn wirkt fast wie ein Teil der gesamten eindringlichen Inszenierung, die die gesamte Veranstaltung prägte. So durchdacht, so feinsinnig waren Lesungen, Musik und Vorträge aufeinander abgestimmt, dass es schien, als würde auch dieser Lärm nur darauf hinweisen, wie schwierig es ist, sich in der Alltagswelt der Suche nach dem Göttlichen zu öffnen .                

„Zahlreich wie die Sterne am Himmel“

Ulrike Eichler skizziert in ihrem Einführungsvortrag die Grundlagen des Lebens der Beginen: Die Überlieferung ist lückenhaft, man hat sie weitgehend aus dem Bewusstsein gedrängt, denn sie passen nicht in die offizielle (Kirchen-)Politik.

Wie die Katharer und Waldenser sind die Beginen ein Teil der mittelalterlichen Gegenbewegung zur katholischen Kirche und den klerikalen Machthabern. In diesen Bewegungen haben auch die Laien das Recht, öffentlich und in ihrer Muttersprache zu predigen, und Frauen übernehmen ebenso Ämter wie die Männer. Diese Struktur der Freiheit und das Laienelement prägen auch die Beginenbewegung, die sich über ganz Europa ausbreitet.

Eine der größten Gemeinschaften lebte in Köln, wo allerdings nichts mehr darauf hinweist. Aber in Städten wie Amsterdam oder Brügge kann man noch immer die eindrucksvollen Höfe besuchen und ihre einstige wirtschaftliche Kraft erkennen.

Als Einführung in die Gedankenwelt Mechthild von Magdeburgs liest Jele Brückner hinreißend aus „Das fließende Licht der Gottheit“, einem Dialog zwischen Seele und Gottheit. Man mag den Ohren kaum trauen, mit wie viel Hingabe und Witz, reiner Lust und offenem Begehren die beiden umeinander werben. Ihr Verlangen nach einander äußern sie sehr direkt: Prickelnd, lebendig und äußerst anziehend. Ein Lächeln entsteht auf den Gesichtern und hier da und da ist ein amüsiertes Glucksen zu hören.

So modern diese alten Worte klingen, so modern wirkt auch die Musik von Rowland und Byrd (beide 16. Jahrhundert) auf dem Akkordeon. Es entstehen nie gehörte Klänge auf dem Instrument: fein und lebendig, Orgel und Leier und immer unverkennbar – Akkordeon. Die Brücke zwischen mittelalterlichem Gedankengut und Moderne trägt.

„Auferstehung als Lebenskunst“

Da die Kunst des Lesens im Mittelalter ein Privileg war, wurden damals Texte ganz selbstverständlich laut vorgelesen, so knüpft Hildegund Keul mit ihrem Vortrag über Mechthild von Magdeburg an die Lesung aus deren Buch an. Andere sollten so von dieser Kunst profitieren. So entstanden „Hörbücher in anderer Form“ – live und lebendig, und sie bewegten die Menschen. „Menschen, weil sie lieben, weil sie Menschen lieben, weil sie sogar sich selbst lieben, weil sie Gott lieben, machen sich auf“ und lassen so eine ganze Bewegung entstehen.

In Abgrenzung zu dem Klischee vom „dunklen Mittelalter“ zeichnet Keul ein lebensfrohes Bild jener Zeit: Lebendige und kräftige Farben sind typisch – Rot, Blau und Gold. Die Männer sind wohl für die Waffen zuständig, die Frauen aber für die Kultur – anders, als viele über das Mittelalter denken.

Die wachsende Geldwirtschaft im 13. Jahrhundert unterstützt den Handel, und so entwickeln sich die Städte zu selbstbewussten Handelszentren, die stolz ihren Reichtum zeigen. So wirken sie auch anziehend für die Menschen auf den Burgen, sodass viele von dort abwandern und in die Städte ziehen. Die neuen Bewohner entwickeln schnell ein eigenes Selbstbewusstsein und beginnen, sich selbst als „Bürger“ zu bezeichnen: Sie verstehen sich als die modernen, die eigentlichen Burgherren, und sehen sich stolz als Elite des Landes.

Die andere Seite dieser Entwicklung aber ist die Armut, die rasant wächst: Frauen werden bezahlt wie Kinder – deren Arbeit selbstverständlich war –, das entspricht der Hälfte des Lohnes der Männer. Damit waren Frauen damals schon die potentiell Armen.

Die spirituellen Bewegungen jener Zeit entstehen als Antwort auf diese Herausforderungen: Die neue kulturelle Offenheit und der enorme Reichtum durch die Wirtschaftsbeziehungen, und die sozialen Umbrüche als deren Folge. Mechthild stellt sich dem auf ihre Weise: Obwohl sie wohl einer adligen Familie entstammt – sie hat eine gute Bildung genossen – wählt sie freiwillig die Armut als Lebensform, auch als Protest gegen die Schere zwischen Reich und Arm, die immer weiter auseinanderklafft.

Hildegund Keul wirft die Frage auf: Was passiert, wenn die freiwillig Armen mit den erzwungenermaßen Armen zusammentreffen? Die Armutsbewegung hat darauf eine Antwort gefunden. Ihre Lebensgrundlage ist die Erkenntnis: Wenn du reich werden willst, teile deine Ressourcen! So gibt die Armutsbewegung den Armen ihre Selbstachtung zurück, weil sie spüren können, dass auch sie Ressourcen haben und reich sind – zum Beispiel, weil sie ihre Kinder haben.

Die große Leidenschaft und tiefe Liebe, die Mechthild in sich trägt, zeigt sich im „Fließenden Licht der Gottheit“, ihren Schriften, in denen sie die Sehnsucht, das Leiden und die Hingabe der Seele beschreibt, die sich mit der Gotteskraft vereint. Das Geheimnis (griechisch mystikos) Gottes wird im Gefühl und im eigenen Erleben ergründet und erfahren.

Dass dies kein denkerischer Ansatz war und darüber hinaus auch noch von Frauen vertreten wurde, machte die Schriften für die Kirche zu einer Provokation. „Der Geist Gottes spricht auch aus dem ungelehrten Mund der Frau“ – für die scholastische Theologie jener Zeit, die sich an Aristoteles und dessen abwertendem Frauenbild orientierte, konnte dies nicht akzeptiert werden.

In Abgrenzung zur herrschenden Theologie und Kirche war die Mystik der Frauen darauf angewiesen, ihre eigene Sprache zu finden. Sie entstand eben nicht in der Abgeschiedenheit einer Weltflucht, sondern erwuchs mitten aus ihrem Leben: Aus dem Kampf darum, das eigene Leben selbstbestimmt gestalten zu können und damit gegen alle Regeln zu verstoßen, aus der Krankenpflege und aus der Not der Armut.

Darum hat Hildegund Keul, deren Arbeitsfeld die Frauenpastoral ist, sie für die Seelsorge entdeckt: „In den Brücken des Lebens zerbricht die Sprache, aber gleichzeitig wartet sie auf das richtige Wort.“ Aus ihrer Erfahrung entwickeln die Beginen – allen voran Mechthild – eine Gebetsspiritualität, die „ein bitteres Herz süß“ macht. In ihren Texten geht es nicht um billigen Trost, sondern um das Geheimnis des Lebens und die Leidenschaft für Gott: Der Gesang der Mystik ist die Liebe, die Gesangmeisterin die Hoffnung und Gott selbst nimmt die Noten und senkt sie in die Herzen ein.

In der Vergangenheit ist die Mystik aus der Theologie ausgeschlossen worden, heute aber besteht die Chance, sie neu einzubeziehen in die Theologie und ihre Erfahrungen zu nutzen, zum Beispiel für die Pneumatologie, also die Lehre vom Geist Gottes.

Die Wandlung des Altars

Die St. Petri-Kirche besitzt einen wunderbaren doppelten Flügelaltar aus den Antwerpener Werkstätten des 16. Jahrhunderts. Diese Flügel lassen sich „wandeln“, das heißt, sie können in doppelter Weise geschlossen werden und zeigen im jeweiligen Zustand der „Wandlung“ unterschiedliche Bildszenen.

Geöffnet strahlt das Rentabel in prächtigem leuchtenden Gold und präsentiert eine beeindruckende Fülle von Szenen und Figuren. Das „goldene Wunder“, so wird der Altar auch genannt, repräsentiert durch seine Opulenz und materielle Kostbarkeit auch den Reichtum der mittelalterlichen Stadt. So glanzvoll zeigt sich der Altar zwischen Ostern und Pfingsten; je nach Kirchenjahreszeit werden die beiden Flügelbilder geschlossen.

Das Symposium war nun der Anlass dafür, die „Wandlung“ früher zu vollziehen und als dessen Teil zu erleben. Die Betrachterinnen und Betrachter erlebten, staunten, wie sich der Altar und seine Aussage verändert und damit dem ganzen Raum der Hallenkirche eine andere Atmosphäre verleiht. Es war – ja, ein mystischer Moment, als die beiden Flügel jeweils langsam geschlossen wurden und der Glanz verschwand. Es war, als verdunkle sich nicht nur der Altar, sondern die ganze Kirche. In die dann erscheinende Bildseite muss man sich erst „einlesen“ und dann ist auch hier Besonderes zu entdecken: Erzählt wird (nur!) hier die Legende der Heiligen Emerenzia, der Urgroßmutter Jesu.

Insofern war dies eine doppelte Einführung in den zweiten Tag des Symposiums: Die Wandlung des Altars verändert die Sicht und Perspektive der Anwesenden und mit Emerenzia steht wiederum eine Frau im Mittelpunkt der Betrachtung.

„Mir graut, dass ich lebe“

Heike Schmitz widmet sich der Erforschung der Hadewuch (Hadewijch), einer Begine aus den Niederlanden, die einen regen Austausch mit der höfischen Kultur ihrer Zeit hatte. Sie lebte und wirkte um 1230 – und mehr weiß man über sie nicht. Hinterlassen aber hat sie viele Gedichte, Schriften und Briefe, aus denen man herauslesen kann, was sie bewegte.

Heike Schmitz betreibt ihre Forschungen nicht als Theologin, sondern als Germanistin, sodass sie ganz eigene Fragestellungen an die Texte der Mystik hat. Eine ihrer zentralen Frage ist, warum das Wort „Minne“ aus unserem Wortschatz verschwunden ist. Es ist die Ausgangsfrage ihres Vortrags.

1512 tauscht ein Buchdrucker den Begriff „Minne“ in einem Text durch das Wort „Liebe“ aus. Seine Begründung ist, dass „Minne“ doch in einem religiösen Zusammenhang nicht passe, da mit ihr nicht nur die rein geistige, sondern auch die sehr körperliche Liebe benannt werde.

Das Wort war ganz üblich, wenn es um Liebesdinge ging, auch in den mittelalterlichen Wirtshäusern, wo Lachen, Gesang, buntes Getriebe – und eben auch die Minne herrschte. Man kann sich vorstellen, dass es recht deftig dort zuging.

Die offizielle Kirche jedoch wollte das Verhältnis von Körper und Geist in ihrem Sinne definieren und nutzte das Wort „Amor“, das die körperlose, „reine“ Liebe bezeichnete. Allmählich wurde so der Begriff der „Minne“ verdrängt und damit auch der sehr irdische Zusammenhang von Körper und Seele, der in höchst erotischem Sinne in den Schriften der Mystikerinnen in Bezug auf die Vereinigung mit Gott verwendet wurde.

Schließlich empfand dann jener Buchdrucker das Wort „Minne“ als zu anstößig, um es noch in den von ihm gedruckten Büchern zu verwenden, und nach und nach verschwand es ganz – zunächst aus dem religiösen, dann aus dem ganzen Wortschatz.

Wenn man bedenkt, dass den Eskimos zehn verschiedene Begriffe zur Verfügung stehen, um die Farbe „weiß“ zu beschreiben, ist das nur zu bedauern. Diese differenzierenden Feinheiten werden ja genutzt, um etwas Wichtiges im Leben sehr genau wahrzunehmen und zu beschreiben. In Liebesdingen ist das der deutschen Sprache – und vielleicht nicht nur der Sprache – abhanden gekommen. „Liebe“ ist da ein eher oberflächlicher Begriff für ganz unterschiedliches Erleben.

Bei Hadewijch aber ist „Minne“ ein zentraler Begriff und meint die Liebe – in allen Facetten – zwischen Gott und der Seele. Das bedeutet für sie auch Leiden, denn die Minne ist Liebe, die nicht nur seicht daherkommt, sondern auch mit dem Liebesschmerz zu tun hat, mit unerfülltem Verlangen, mit Darben und Wüten.

Hadewijch durchquert die viele Schichten des inneren Lebens und weicht auch den quälenden nicht aus. „Dure“ – „durch“ ist daher ein wichtiger Begriff für sie: durchqueren, durchwaten. In unterschiedlichster Form erlebt sie sich selbst und lässt alles zurück. Wie schwer dieser Weg auch für sie war, zeigt sich an dem Satz „Mir graut, dass ich lebe“.

Minne als leidenschaftliche Liebe zu Gott hat auch ihre höllischen Seiten. Hier deutet Heike Schmitz eine Verbindung zu Ingeborg Bachmann an, als diejenige, die vom Schmerz in der Liebe weiß und im Verlangen lebt. Leider gibt es keine Gelegenheit, diesen Hinweis auszuführen, er macht aber neugierig darauf, den Spuren der Mystik in der Gegenwart zu folgen – auch an Stellen, die unerwartet sind.

De profundis

Die Musik von Sofia Gubaidulina ist das leibhaftige Erleben dessen, was Heike Schmitz zuvor erläutert hat. Man meint nicht, dass dies alles aus einem Instrument kommen kann, und doch ist es so. Dies scheint die Musik der Minne zu sein: Mal zärtlich, mal stürmend, mal wütend, mal lieblich kommt sie daher, sie lockt, tiriliert und seufzt, lotet Seelentiefen aus und macht Höllensturz und Himmelfahrt hörbar. Das Ringen und Suchen, das Flirren und Ver-rückt-sein der Minne verbindet sich hier in der Musik mit Körper und Geist.

Die anschließende Fragerunde zeigt, wie erfüllt die Zuhörenden vom Vortrag über Hadewijch sind – und sicher trägt die Musik ihren Teil dazu bei. Eine Zuhörerin fragt, welche Schichten in uns unzugänglich geworden sind, sodass wir auch nicht mehr unserere Tiefen in uns erreichen. So modern scheint auch Hadewijch mit ihren Schriften, dass jemand vorschlägt, ihre Texte für junge Menschen als Liebeslyrik zu empfehlen. Da sage noch jemand, das Mittelalter habe uns nichts mehr zu sagen!

Im Nichts befestigt

Die letzte der drei Mystikerinnen wird von Irmgard Kampmann vorgestellt: Marguerite Porete, eine Begine, die im 13. Jahrhundert im Hennegau lebte. Ihr Anliegen in ihrer Schrift – meist als „Spiegel der einfachen Seelen“ bezeichnet – ist es, die theologische Vernunft zu überwinden, da die Vernunft nur das Grobe begreife und die Menschen eitel mache.

Den Willen bezeichnet Porete als „Donnerskeil“, er besiegelt die Knechtschaft des religiösen Leistungsdenkens, das aber nicht zur Erkenntnis führt. Feineres Erkennen ist aber nur möglich, wenn man eine andere Grundhaltung einübt: sich der Absichtslosigkeit hinzugeben, um sich dem zu öffnen, was sich schenken will.

Seelen in solcher Gestimmtheit wissen nichts von sich, sie können sich nicht beurteilen – und so entsteht ihre Freiheit. Die freie Seele ist daher eine Tochter der göttlichen Liebe. Sie ist ohne Stolz und Scham, denn beides (Stolz und Scham) sind nur die Reaktionen auf die Beurteilungen von außen und machen unfrei.

Was so einleuchtend und einfach klingt – loszulassen von allem, was die Seele von außen beschwert und unfrei macht – ist auch für Marguerite ein Prozess, der nicht harmonisch verläuft, sondern ebenso Kampf bedeutet. Es gibt dabei Rückschläge, aber hinzufallen ist in ihren Augen nur Ausdruck der Leidenschaft, die diesen Prozess antreibt. Das Loslassen kann– scheinbar paradox – nur gelingen durch Kampf und Wut.

Ihre eigene innere Freiheit zeigte sich nicht nur in ihren freien Gedanken, sondern auch in ihrem Mut, über die offizielle Kirche zu spotten. Besonders gern machte sie sich über ein bestimmtes klerikales Gehabe lustig und auch über „typisch männliche“ Verhaltensweisen. Mit ihrem geistreichen Spott hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Sie war eine Frau mit viel Esprit – und unwillkürlich fragt man sich, was sie heute zu sagen hätte und wie sie ermutigt, heute die eigenen Wege zu gehen und sich frei zu machen.

Marguerite ist mit ihrem Buch durch die Lande gezogen und hat daraus gelesen. Es ist ins Lateinische übersetzt worden, später wurde es in anonymisierter Form ein „Bestseller“. Dass all das – der Aufruf zur Freiheit der Seele, die Unabhängigkeit von und der Spott über die Kirche, das öffentliche Auftreten als Frau und ihr Erfolg dabei – dass dies nicht lange geduldet wurde, liegt auf der Hand.

Um 1300 gab es daher einen ersten Prozess gegen sie, als sie nicht von ihrem Tun abließ, folgte ein weiterer. Dabei weigerte sie sich, inhaltlich Stellung zu beziehen und erst recht, die beanstandeten Stellen ihrer Schrift zu widerrufen. Sie schwieg einfach, mit der Begründung, eine freie Seele sei nicht anzutreffen, wenn man sie vorlade; „ihre Feinde erhalten keinerlei Antwort von ihr“. 1310 wurde schließlich das Todesurteil gegen sie verhängt.

Was bleibt von diesen anderthalb Tagen ist das Gefühl, den Schlüssel zu den tieferen Schichten in mir selbst wieder gefunden und zu haben und wieder zu wissen, welcher Reichtum sich darin verbirgt. Die Suche und Bergung dieses Schatzes ist im Alltag Musik.

Das letzte Musikstück dieser Tage ist Oasis von Moondog. Es scheint mutig, dieses rhythmische, schwebende und zugleich ganz erdige Stück nur auf dem Akkordeon zu spielen – und genau darin nimmt es den Mut Marguerits auf, Gedankenexperimente zu wagen und Denkverbote zu aufzulösen. Diese Musik macht noch einmal hör- und fühlbar, was zur Minne gehört: Die Geisteskraft, die Sanftheit, das Anliegen von Ferne, die Sehnsucht. Wie nach jeder Musik und jeder Lesung scheint die Luft in der Kirche zu flirren und zum Stillstand zu kommen.

Die BesucherInnen gehen ungern – und erfüllt, denn die Brücke ins Mittelalter war tragfähig und hat gezeigt, wie nah uns modernen Menschen die Gedankenwelt der Beginen ist. Es ist zu hoffen, dass dies nur Anfang der Zusammenarbeit von Institutionen und Personen – in diesem Fall: Frauen, war und auch andere Mystikerinnen durch Lesungen, Musik und Vorträge wieder lebendig werden können.

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane Brumberg sagt:

    Das muss ein wunderbares Symposium gewesen sein!

  • heli voss sagt:

    heli voss

    Geist fließt ! Geist fließt durchs Internet!
    Erreicht mich durch die Luft,
    vermittelt durch Technik,
    unverständlich die Abläufe.

    Doch die Liebe Minne, der Witz Verstand Mut Mut die Kraft dieser Frauen weht in meine Kemenate,
    erfeut mich,
    beflügelt, ist voller Musik,
    auch wenn es regnet und ich weine!
    Danke sehr.

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