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Die Vertreibung aus dem Paradies

Von Antje Schrupp

In einer Serie fasst Antje Schrupp kapitelweise das Buch „Saving Paradise“ von Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker zusammen. Kapitel 8 und 9: Die Vertreibung aus dem Paradies.

Das Gero-Kreuz im Kölner Dom aus dem 10. Jahrhundert ist das älteste erhaltene Kruzifix. Foto: Elke Wetzig, cc, Quelle: Wikipedia.org.

In Kapitel 8 („Die versteckten Schätze der Weisheit“) beschreiben Brock/Parker, ausgehend von einem Besuch der Hagia Sophia in Istanbul (der „Kirche der Heiligen Weisheit“, deren Wurzeln ins 6. Jahrhundert reichen), die Bedeutung von künstlerischen Darstellungen und Abbildungen in Kirchen für den Glauben. Und sie rekapitulieren den Streit um die so genannten „Ikonoklasten“ im 8. Jahrhundert, also darüber, ob die bildliche Darstellung theologischer Themen gut oder schlecht, erlaubt oder verboten ist. Das Kapitel ist nur sehr kurz und für den Fortgang der Argumentation unergiebig, weshalb ich es hier nicht näher ausführe.

In Kapitel 9 geht es darum, wie es im 10. Jahrhundert dazu kam, dass das Christentum „aus dem Paradies vertrieben“ wurde, also Kreuzigungsdarstellungen im Vergleich zu Paradies- und Fülledarstellungen die Oberhand gewannen. Ausgangspunkt ist das so genannte „Gero-Kreuz“ aus Eichenholz im Kölner Dom, das in den Jahren 960-970 entstand und die älteste erhaltene Kreuzigungsdarstellung ist.

Brock/Parker gehen davon aus, dass eine wichtige Rolle dabei die gewaltsame Christianisierung Sachsens (Deutschlands) durch Karl den Großen Ende des 8. Jahrhunderts spielte: „Die Sachsen erreichte das Christentum auf der Spitze eines Schwertes. Das Kreuz wurde für sie zu einem Zeichen des Terrors. Blut durchdrängte das Gold. Wenige Generationen nach ihrer erzwungenen Konvertierung schnitzten sie ein Bild des gefolterten und toten Körpers Christi, der am Baum hing. Nachdem sie mit Gewalt zu christlichem Gehorsam gezwungen worden waren, brachten die Sachsen eine Kunst hervor, die die Zeichen ihrer blutigen Taufe trug: Im Gero-Kreuz war ihre ehemals heilige Eiche zu einem elegischen Abbild von Brutalität worden.“ (232)

Im Karolingischen Reich entstanden dann auch neue Gebete, in denen von Christus als Opfer gesprochen wurde. Auf Anfrage sächsischer Mönche zur Klärung der Bedeutung des Abendmahls entstand das Werk „De corpore et sanguine Domini“ von Paschasius Radbertus, der erstmals die Interpretation gab, Wein und Brot seien der materielle historische Körper Jesu und im Abendmahl wäre das gekreuzigte Blut und Fleisch des Herren gegenwärtig. Während in der traditionellen Eucharistie gefeiert wurde, dass Jesus den Tod überwunden hat, tritt Jesus mit Paschasius‘ Eucharistie in einen Zustand des permanenten Sterbens ein – der Tod wird ebenso unendlich wie das Leben.

Diese Interpretation des Abendmahls war anfangs sehr umstritten, und es gab auch viele Theologen, die darauf beharrten, dass der intakte, auferstandene Körper Jesu (und nicht der gekreuzigte) im Ritual gegenwärtig sei – zum Beispiel mit dem Hinweis, dass das biblische Abendmahl ja schließlich auch stattgefunden hatte, bevor Jesus überhaupt gekreuzigt worden war.

Andere entwickelten Paschasius‘ Idee weiter, etwa Erzbischof Hincmar im 9. Jahrhundert, der die Ansicht vertrat, durch das Essen von Fleisch und Blut des Gekreuzigten hätten Christinnen und Christen an den Folgen von Jesu Opfertod teil, der die Sünden der Menschheit geheilt habe. Abbildungen des toten Christus wurden im Anschluss daran eine verbreitete Figur im Rheinland.

Der theologische Konflikt darüber, ob die Elemente der Eucharistie (Brot und Wein) nun den auferstandenen, lebenden Christus mit der Kirche vereinigen, oder ob sie vielmehr die Kreuzigung neu inszenieren, also den historischen, toten Körper Jesu gegenwärtig machen und die am Abendmahl Teilnehmenden mit dessen Leiden und Tod verbinden, dauerte bis ins 11. Jahrhundert.

Einige Theologen interpretieren diesen Wandel im Abendmahlsverständnis so, dass die Betonung von Christi Sterblichkeit ihn den Menschen näher bringe. Faktisch jedoch wurde er den Menschen eher entfremdet: Vorher hatte die Menschwerdung Christi die Ähnlichkeit der Menschen mit Gott enthüllt. Die göttlichen Kräfte der Menschen, wie sie ihnen zuerst im Paradies gegeben worden waren, wurden quasi durch die Nachfolge Jesu wieder eingesetzt: Ein Mensch zu sein bedeutete, göttlich zu werden. Jetzt aber enthüllte Christi Menschwertung im Gegenteil die Sterblichkeit und Machtlosigkeit der Menschen, ihre Gebrochenheit: Ein Mensch zu sein bedeutete, zu leiden und zu sterben.

Jesus war also nicht mehr das Vorbild für die Reise der Menschheit zu Gott, sondern er wurde ein Opfer, dessen Macht gerade in seinem Leiden lag sowie in seinem Urteil über die sündhafte Menschheit. Christus stand nicht mehr für Liebe und ein Leben in Fülle, sondern für ein Gericht, das man fürchten muss, und ein Leiden, das die Gläubigen auf sich nehmen müssen. Die Erlösung, die ehemals ein gemeinschaftliches Leben im Paradies bedeutet hatte, bedeutete nun, der Schuld und der Strafe zu entkommen.

Dieses neue Abendmahlsverständnis gab dem Klerus enorme Macht, da hier die Strafen für sündiges menschliches Leben festgelegt wurden. Der christliche Konsens, dass Töten verboten ist und gegen Gottes Willen verstößt, begann zu bröckeln. Im 9. Jahrhundert wurden im Klerus die ersten Stimmen laut, wonach Soldaten für das Töten nicht mehr Buße tun müssten. Die Karolinger gaben die Schuld am Töten im Krieg den von ihnen Besiegten, da sie Ungläubige gewesen seien und Gott ihren Tod gewollt habe. Damit sprachen sie sich selbst von der Schuld des Tötens frei. Zu Töten oder nicht war keine ethische Entscheidung mehr (die gegen den Willen Gottes getroffen wurde, etwa weil man als Soldat Befehlen gehorchen musste), sondern eine Notwendigkeit: Es gibt keine Alternative zum Töten.

Unter den Sachsen regte sich allerdings auch Widerstand gegen die karolingische Interpretation des Abendmahls, zum Beispiel im „Heliand“, einem Epos aus dem 9. Jahrhundert, das die Evangelien nacherzählt. Es wird normalerweise als Beweis für die gelungene Bekehrung der Sachsen gelesen, Brock/Parker finden darin aber widerständige Spuren und Hinweise auf eine andere Interpretation der Kreuzigung. Ähnlich widerständige Spuren finden sie bei Dhuoda, einer fränkischen Adligen, die Anfang des 9. Jahrhunderts für ihren Sohn ein Handbuch zum christlichen Leben verfasste.

Die Kreuzigungsdarstellungen, die ausgehend von Deutschland die Welt eroberten, enthielten für Brock/Parker eine doppelte Bedeutung, eine öffentliche und eine verborgene: In der öffentlichen standen sie für die Unterwerfung unter den gekreuzigten Christus als Richter der Menschheit. Verborgen waren sie aber ein Symbol des Widerstandes und bewahrten die Erfahrung der Eroberten auf, indem sie Christus als Mit-Leidenden inszenierten: Christus, der von der Hand der Römer stirbt, wird parallelisiert mit den Sachsen, die von der Hand der Karolinger starben.

Weiter zu Kapitel 10: Friede durch das Blut des Kreuzes

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 27.10.2012
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