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Die Entwicklung einer Wirtschaft der Fürsorge

Von Ulrike Brandhorst

Das Anliegen dieser neuen Artikelserie ist es, die Gedanken von Riane Eisler zu einer Wirtschaft der Fürsorge zu verbreiten. Der hier folgende Text ist eine zusammenfassende Übersetzung des ersten Kapitels von ihrem Buch „The Real Wealth of Nations“.

Die amerikanische Rechtswissenschaftlerin und Soziologin Riane Eisler ist darüber hinaus in Deutschland unter Matriarchatsforscherinnen bekannt durch ihr 1993 erschienenes Buch ‚Kelch und Schwert‘, in dem sie über weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte geschrieben hat.

Die Entwicklung einer Wirtschaft der Fürsorge

Riane Eisler, als Kind mit ihrer Familie von den Nationalsozialisten aus Wien vertrieben, fand nach einer Zeit in den Slums von Havanna in den USA eine neue Heimat. Ihr Leben beschreibt die Rechtsanwältin als Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum es in unserer Welt so viel Grausamkeit, Stumpfheit und Zerstörung gibt – wo uns Menschen doch so herausragende Fähigkeiten zu Fürsorge, Achtsamkeit und Kreativität innewohnen. Im Laufe ihrer Suche hat sie zahlreiche Wissensgebiete nach einer Antwort durchstreift – Psychologie, Geschichte, Anthropologie, Pädagogik, Wirtschaft und Politik. Immer und immer wieder kam sie auf die Wirtschaft zurück.

Ihr Fazit: Wir müssen die derzeit herrschenden Wirtschaftssysteme ändern, wenn wir unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft geben wollen, denn in unserer vernetzten Welt hat keiner eine sichere Zukunft, so lange es Hunger, bittere Armut und Gewalt gibt. Doch die derzeit herrschenden Wirtschaftssysteme bieten für diese Probleme keinen Ausweg, ja sie sind das Problem und führen darüberhinaus zu Verschmutzung und Ausbeutung der Natur. Sie versagen deshalb, weil sie die wichtigste menschliche Arbeit nicht wertschätzen: Die Fürsorge, die wir für uns selbst, für andere und für die Erde leisten.
Die Ergebnisse ihrer Forschungen und ihre darauf basierenden Lösungsansätze formuliert die Autorin in ihrem Buch „The Real Wealth of Nations“ (Der wahre Wohlstand der Nationen) – der Titel ist eine Anspielung auf Adam Smiths „The Wealth of Nations“, das bis heute als Grundlage des modernen Wirtschaftsliberalismus gilt. Eisler möchte mit diesem Titel deutlich machen, dass unsere wichtigsten Wirtschaftsgrundlagen nicht finanzieller Art sind, sondern aus der Arbeitsleistung der Menschen und den Ressourcen der Natur bestehen.

Foto: Gerd Altmann / pixelio

Foto: Gerd Altmann / pixelio.de

Doch selbst heute, in Zeiten, in denen der zunehmende wirtschaftliche Druck das Familienleben immer mehr beeinträchtigt, vernachlässigen Wirtschaftswissenschaftler in ihren Betrachtungen viel zu oft das Leben der Menschen jenseits des Marktes und nehmen die Menschen lediglich in ihrer Funktion als Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Konsumenten wahr. Dabei übersehen sie den gemeinsamen Nenner, den alle unsere immer stärker werdenden menschlichen, sozialen und ökologischen Probleme aufweisen: den Mangel an Fürsorge. Solange Fürsorge und Fürsorgearbeit nicht mehr Wertschätzung erfahren, ist es unrealistisch zu erwarten, dass die der Fürsorge entgegenstehenden wirtschaftlichen Leitlinien und Praktiken sich ändern.
Eisler plädiert vor diesem Hintergrund für ein Wirtschaftssystem, das über die alten –ismen (wie allen voran Kommunismus und Kapitalismus) hinausgeht. Sie fordert für die Wirtschaft Modelle, Regeln und Richtlinien, welche die Fürsorge für uns, andere und die Natur fördern und unterstützen. Manchen mag ein solches auf Fürsorge basierendes Wirtschaftssystem unrealistisch erscheinen, tatsächlich aber ist es sehr viel näher an der Realität als die meisten herkömmlichen Modelle. Diese ignorieren nämlich auf absurde Weise die grundlegenden Faktoren der menschlichen Existenz – allen voran die natürlichen Ressourcen und die Fürsorge der Menschen füreinander und für ihre Umwelt. Ohne diese Ressourcen, ohne diese Fürsorge gäbe es keine Haushalte, keine Arbeitskräfte. Es gäbe überhaupt nichts. Diese Absurdität – vor allem der Nichtbeachtung der Fürsorge innerhalb der Familien – wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass das Wort Ökonomie vom griechischen oikonomia abgeleitet ist, das nichts anderes bedeutet, als die Führung des Haushalts – und eine Kernkomponente der Haushaltsführung ist die Fürsorge für die im Haushalt lebenden Menschen.
Eisler geht von der in vielen aktuellen wirtschaftlichen Diskussionen nicht gesetzten Prämisse aus, dass Wirtschaftssysteme dazu dienen sollen, Wohlstand und Wohlergehen der Menschen zu fördern. Dafür ist zuallererst eine realistische Definition von Wirtschaft notwendig, die im Folgenden vorgestellt wird.

Ein realistischer Wirtschaftsbegriff 

Wird heute in den breiten Medien von Experten über Wirtschaft gesprochen, so ist damit zu oft nur die Marktwirtschaft gemeint. Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem muss jedoch das volle Spektrum der Wirtschaft berücksichtigen, also nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch die lebensnotwendigen Wirtschaftsbeiträge aus Haushalten, Gemeinden und der Natur. Der Haushalt ist das Herz der Wirtschaft, von dem alle anderen Wirtschaftssektoren abhängig sind. Ohne ihn gäbe es keine Arbeitnehmer, keine Arbeitgeber, keine Konsumenten. Keine Produktion, keinen Verbrauch. Nichts. Heute wird der Haushalt meist nur als eine konsumierende Einheit betrachtet, dabei ist er schon immer auch eine produzierende Einheit gewesen. Sein wichtigstes Produkt sind seit jeher Menschen – deren ohnehin essentielle Bedeutung für die Wirtschaft in der postindustriellen, auf „Humankapital“ basierenden Wirtschaft noch an Bedeutung gewonnen hat. Während die Forderung nach „hochqualifiziertem Humankapital“ in allen Wirtschaftsdebatten mantrahaft wiederholt wird, vergisst man vollständig, dass dafür eines von entscheidender Bedeutung ist: Fürsorge. Neben diesem ersten Sektor, der in einem Vollspektrum der Wirtschaft abgebildet werden muss, gibt es noch fünf weitere Faktoren, insgesamt also „sechs Puzzleteile“, die zusammen ein vollständiges Bild der Wirtschaft ergeben. Der zweite Sektor ist die „Kommunalwirtschaft“ zu der Eisler sowohl die unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit als auch die Wirtschaft basierend auf Kommunalwährungen zählt.
Erst als dritter Sektor erscheint bei ihr die Marktwirtschaft, die auf den beiden ersten Sektoren beruht, diese jedoch weder bei ihren Analysen, noch in ihren Regeln berücksichtigt.
Der vierte Sektor ist die illegale Wirtschaft, in deren Bereich z.B. häufig Drogen-, Sex- und Waffengeschäfte gehören.
Der fünfte Sektor ist die Staatswirtschaft. In diesem Sektor werden die Rahmenbedingungen für die Marktwirtschaft festgelegt und öffentliche Dienstleistungen organisiert und finanziert. Auch hier finden Fürsorgearbeit und Umweltschutz noch zu wenig Berücksichtigung.
Der sechste Sektor ist zwar in Eislers Aufzählung der letzte, doch betont sie seine grundlegende Bedeutung für sämtliche andere Sektoren: Es ist der Sektor der natürlichen Ressourcen, deren Bedeutung in den marktwirtschaftlichen Modellen und Analysen noch viel zu wenig Beachtung findet – mit desaströsen Konsequenzen in Bezug auf den Umweltschutz.

Wirtschaftssysteme folgen keinen Naturgesetzen

Eisler erinnert daran, dass Wirtschaftssysteme von Menschen erdacht wurden. Sie sind keine unveränderlichen Naturgesetze, sondern ändern sich und können geändert werden. Tatsächlich haben sich die Wirtschaftssysteme über die Jahrhunderte ständig entwickelt. Heute stehen wir vor der Herausforderung, dass gesellschaftliche und technische Entwicklungen immer schnellere Veränderungen mit sich bringen und jede Veränderung immer schneller weltweit Auswirkungen zeigt.
Weltweit wird Arbeit, die unentgeltlich zu Hause geleistet wird, sowohl finanziell als auch gesellschaftlich wenig bis gar nicht, auf jeden Fall immer geringer als Arbeit außer Haus anerkannt und Fürsorgearbeit geringer bezahlt, als die meisten technischen Arbeiten. Eisler verweist dabei auf ein Beispiel in den USA, in denen ein Klempner 50-60 Dollar die Stunde verdient, während für Kinderbetreuung durchschnittlich 10 Dollar pro Stunde gezahlt werden – dies sei „nicht logisch, sondern pathologisch“.
Was wirtschaftlichen Wert besitzt und was nicht, so ist die derzeitig allgemeingültige Auffassung, ist die natürliche Konsequenz aus Angebot und Nachfrage. Dabei werden laut Eisler jedoch zwei wichtige Punkte vergessen: Zum einen kommt es aus Spekulationszwecken immer wieder zu einer künstlichen Verknappung von Gütern, zum anderen wird die Nachfrage nach Gütern ebenso oft künstlich beeinflusst.
Diese künstliche Beeinflussung von Angebot und Nachfrage sollte im positiven Sinne von einem nachhaltigen und dem Allgemeinwohl verpflichteten Standpunkt aus vernünftig und realistisch gestaltet werden, indem man den Arbeiten und Gütern, die das Leben und die Entwicklung der Menschen unterstützen und fördern, mehr wirtschaftlichen Wert beimisst. Die Folge wäre mehr finanzielle, rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung von Fürsorgearbeit in den privaten Haushalten, Unternehmen und auf kommunaler bzw. staatlicher Ebene.
Zu Fürsorgearbeit gehört unter anderem: Die Fürsorge für Kinder, Kranke und Ältere. Die Fürsorge für Angestellte, Kunden und andere Stakeholder eines Unternehmens sowie der Aufbau gesunder Kommunen, der Einsatz für Bürgerbewegungen und den Umweltschutz. Insgesamt also alle Anstrengungen, die darauf ausgerichtet sind, uns und kommenden Generationen sowohl in gesellschaftlicher als auch in natürlicher Hinsicht eine gesunde und lebenswerte Umgebung zu schaffen.
Fürsorgearbeit zeichnet sich dabei immer durch Nachhaltigkeit aus. Ein Wirtschaftssystem, das die Fürsorge in den Mittelpunkt stellt, muss also immer auf langfristige Ziele hin ausgerichtet sein. Kurzfristige Gewinne werden dabei langfristigen Vorteilen untergeordnet, z.B. indem die Gesetzgebung die langfristigen Kosten für die Allgemeinheit bei kurzfristigen Gewinnkalkulationen Einzelner finanziell, wirtschaftlich und rechtlich mitberücksichtigt.

Übersetzt von Ulrike Brandhorst.

Diese zusammenfassende Übersetzung wird fortgesetzt, das zweite Kapitel sowie Kapitel 3/4Kapitel 5 , Kapitel 6 , Kapitel 7  und Kapitel 8 , Kapitel 9 und das Abschlusskapitel 10 sind  bereits veröffentlicht.

Zum weiterlesen: Riane Tennenhaus Eisler, The Real Wealth of Nations: Creating a Caring Economics, 2008

 

Autorin: Ulrike Brandhorst
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 17.05.2013
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • elfriede harth sagt:

    Herzlichen Dank fuer Deinen Beitrag. Es macht Freude, solche Gedanken zu lesen. Und ich freue mich auch schon sehr auf die Fortsetzung. Ich versuche im Kleinen, mit meinen persoenlichen Moeglichkeiten, ein bisschen umzusetzen, was hier beschrieben ist. Und dabei hoffe ich, dass moeglichst andere davon ueberzeugt werden, das wir zusammen eine grosse Veraenderung herbeifuehren muessen, damit das Gute Leben fuer alle moeglichst bald Wirklichkeit wird!

  • Gudrun Nositschka sagt:

    Ich schätze Riane Eisler sehr und bin froh, dass die Übersetzung dieses Buches zur Wirtschaft und Fürsorge durch Ulrike Brandhorst begonnen hat. Danke für diesen Artikel. Dennoch habe ich eine dringende Bitte und Erwartung an Ulrike und bzw-weiterdenkn, dass eine frauengerechte Sprache verwendet wird. Solange wir Frauen uns selber aus der Sprache ausblenden, werden wir keine substantiellen Fortschritte erzielen. Wie kann ich Ulrike Brandhorst erreichen? Ihr Beitrag würde gut zu der Tagung der Gerda-Weiler-Stiftung im Nov. in Hamburg passen. Siehe http://www.gerda-weiler-stiftung.de

  • Sabrina Bowitz sagt:

    Hallo liebe Frau Brandhorst, ich wollte Ihnen nur kurz danken für Ihren Artikel, er stimmt nachdenklich und besonders zwei Sätze möchte ich unterstreichen: “Sie fordert für die Wirtschaft Modelle, Regeln und Richtlinien, welche die Fürsorge für uns, andere und die Natur fördern und unterstützen. Manchen mag ein solches auf Fürsorge basierendes Wirtschaftssystem unrealistisch erscheinen, tatsächlich aber ist es sehr viel näher an der Realität als die meisten herkömmlichen Modelle”
    Schön ist auch der Hinweis, dass sich Wirtschaftssysteme ändern lassen, eben weil sie durch Menschen geschaffen wurden. Ich werde jetzt noch weiter darüber nachdenken und die Ansichten in diesem Artikel auch anderen Menschen zum Nachdenken mitgeben!
    Viele Grüße,
    Sabrina Bowitz

  • Bari sagt:

    Ja vielen Dank für diesen Beitrag. Jetzt bleibt nur noch die Kleinigkeit die Marktwirtschaft zum Abdanken zu bewegen. Nur wie???
    Liebe Grüße
    Bari

  • Ich habe das Buch von Riane Eisler gerade zu Ende gelesen. In gewisser Weise ist es tatsächlich der überfällige Gesamtentwurf, den ich im Jahr 2010 hier im “bzw” angemahnt habe, seltsamerweise ohne zu wissen, dass er schon seit 2008 existiert: https://www.bzw-weiterdenken.de/2010/01/nicht-viel-neues-in-der-feministischen-okonomie/
    Das Buch hier zusammenzufassen, ist sicher gut. Allerdings ist es sehr in us-amerikanischer Perspektive geschrieben. Manchmal hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass wir hier in Europa eigentlich ganz zufrieden sein könnten, weil wir ja schon Krankenversicherungen, Sozialhilfe, Spitex etc. haben – alles Dinge, die Eisler im Sinne ihrer Theorie des “Partnerism” erst fordert. Der “Himmel auf Erden” ist für Eisler: Schweden, also das Land, wo jetzt gerade die Revolte der ausgegrenzten Jugend ausbricht… – Übernehmen können wir trotzdem vieles: 1. Care/Haushalt ist Mitte und Angelpunkt des Wirtschaftsgeschehens. 2. Die Natur ist als eigenständiger Wirtschaftsfaktor zu konzipieren. 3. Ohne Analyse der Wertvorstellungen, Geschlechterideologien und Beziehungsformen, die dem Wirtschaften zugrunde liegen, sind Reformen zum Scheitern verurteilt. 3. Jeder und jede kann an ihrem Ort dazu beitragen, dass die Kultur der “Partnerschaft” gegenüber der Unkultur der “Dominanz” Fortschritte macht. 5. Zuversicht ist angebracht, denn es ist schon vieles unterwegs. – Und was ich besonders wichtig und nachahmenswert finde: Eisler beschränkt sich nicht aufs Bücherschreiben, sondern hat eine online-Kampagne in die Welt gesetzt: http://www.caringeconomy.org Ausserdem gibt es auf youtube ganz viele Filme, die sich angucken kann, wer nicht das ganze Buch lesen will: http://bit.ly/125ZQM1 Stellen wir also hier in Europa auch eine Care-Kampagne auf die Beine? Ich wäre dabei. Am besten besprechen wir es hier: http://abcdesgutenlebens.wordpress.com/denkumenta-2013/ Und das hier gibt’s übrigens auch schon seit zehn Jahren: http://bit.ly/Zk2xb9

  • Ja, gerne auf der Denkumenta über eine Care Kampagne sprechen. Riane Eisler versteht auch was von den systemischen Ordnungsprinzipien, Hintergründen historisch bedeutsamer Wechsel. Wodurch pendeln sich asymmetrische Systemzustände wieder in ihren Gleichgewichtszustand, in Richtung partnerschaftlich orientierter Gesellschaft und erzeugen Vitalität?
    Die höhere, nächste Ebene ist also entscheidend, Eros als Antrieb der Evolution und Agape als Integration. Oder Edison als “einer der Erfinder der Glühbirne”. viel zentraler war, dass er über die Leitungen und Stromkästen nachgedacht hat, wie die Glühbirne (Eros) in jeden Winkel (Agape) zum Leuchten kam. Weibliche und männliche Polarität voll in Balance. Freu mich sehr auf die Denkumenta und einige von Euch Damen endlich mal persönlich zu sehen, hören, erleben und gemeinsam weiterdenken.

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