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Wandel zu einer Gesinnung der Fürsorge

Von Ulrike Brandhorst

Dieser zweiten Artikel zu einer Wirtschaft der Fürsorge ist die Fortsetzung einer Reihe mit dem Anliegen, die Gedanken von Riane Eisler zu einer anderen Wirtschaftsform zu verbreiten. Der hier folgende Text ist eine zusammenfassende Übersetzung des zweiten Kapitels von ihrem Buch „The Real Wealth of Nations“.

Foto:  erisypel / pixelio.de

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Im ersten Kapitel wurde dargelegt, dass wir, wenn wir eine menschengerechte und gesunde Umwelt wollen, Einfluss auf die Wirtschaft nehmen müssen (und können, denn die Wirtschaft folgt keinen Natur- sondern Menschengesetzen). Es wurde gezeigt, dass Wirtschaft mehr ist als Marktwirtschaft und dass die unentgeltliche Fürsorgearbeit, die täglich in Familien geleistet wird, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist (neben weiteren im vorhergehenden Artikel erwähnten Faktoren).

 

Wandel zu einer Gesinnung der Fürsorge

Wenn Eisler eine Wirtschaft der Fürsorge fordert, dann fordert sie zu allererst eine Gesinnung der Fürsorge, denn alle Tätigkeiten, die einer solchen Gesinnung entspringen können als Fürsorgearbeit betrachtet werden. Eine Gesinnung der Fürsorge erfüllt nicht nur die menschlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte, sie erlaubt auch eine grundlegend andere als derzeit übliche Betrachtung der wirtschaftlichen und politischen Richtlinien. Dabei geht es nicht nur darum, die Fürsorgearbeit für Kinder, Kranke und Ältere innerhalb der Haushalte sichtbar zu machen und anzuerkennen, auch wenn das ein wichtiger Punkt ist.

Foto: Helene Souza / Pixelio

Foto: Helene Souza / pixelio.de

Auch die Anerkennung der außerhäuslichen Fürsorgearbeit – Kinderbetreuung, Unterricht, Kranken- und Altenpflege usw. sind nur ein weiterer Teil und selbst wenn man ethisches Verhalten in Wirtschaft und Politik, bürgerliches Engagement und Fürsorge für Angestellte, Kunden und Stakeholder eines Unternehmens hinzuzählt ist das Spektrum nicht abgedeckt. Eine Gesinnung der Fürsorge zeichnet sich durch langfristiges Denken aus. Fürsorgearbeit basiert auf Mitgefühl, Verantwortung und Sorge um das Wohlergehen und die optimale Entwicklung der Menschen.

Grundlegende Änderungen

Der Versuch, unsere Umweltprobleme lediglich durch weniger umweltverschmutzende und ressourcenverbrauchende Technologien oder eine Änderung des Konsumverhaltens zu lösen, ist Augenwischerei. Es sind grundlegende Änderungen nötig und diese sind nur möglich, wenn wir uns klarmachen, dass die wirtschaftlichen Strukturen und Regeln, mit dem dazugehörigen Wertesystem und den dazugehörigen sozialen Institutionen eine kontinuierliche Rückkoppelung bewirken. Entwickelt sich das Gesamtsystem positiv, so werden diese darunterliegenden Strukturen meist nicht wahrgenommen, in Krisenzeiten jedoch, werden sie spür- und damit hinterfragbar.

Die Antworten auf folgende Fragen sollen das Grundgerüst für die Entwicklung eines neuen Wirtschaftssystems bilden:

1. Welchen Eigenschaften, Aktivitäten, Dienstleistungen und Gütern wollen wir hohen bzw. niedrigen wirtschaftlichen Wert zusprechen?
2. Können wir soziale oder umwelttechnische Verbesserungen durch Politik und Wirtschaft erwarten, solange Fürsorge innerhalb der Gesellschaft nicht wertgeschätzt und anerkannt wird?
3. Welche Interventionen sind nötig, um eine effektive und innovative Wirtschaft der Fürsorge und der Nachhaltigkeit zu erreichen?

Wirtschaftliche Institutionen können sehr unterschiedliche Werte widerspiegeln: Arbeitslosenversicherung, Elterngeld und Sozialhilfe sind ebenso wirtschaftliche Institutionen, wie Unternehmen, in denen Kinder arbeiten. Derzeit sind Eroberung, Ausbeutung und Beherrschung Leitthemen der Wirtschaft. Wir brauchen eine Revolution für eine Wirtschaft der Fürsorge. Wir entscheiden, welche wirtschaftlichen Institutionen wir behalten wollen und welche nicht. Zudem müssen wir neue Maßstäbe, Richtlinien, Strategien und Praktiken für die Wirtschaft finden, vor allem aber müssen wir die kulturellen Grundlagen erneuern, auf denen die derzeitigen Wirtschaftssysteme basieren und die Fürsorge und Fürsorgearbeit nicht wertschätzen. Ein neues Wirtschaftssystem berücksichtigt die Belange von Individuen, Organisationen und Unternehmen, Gesellschaft und Umwelt. Sie berücksichtigt das ganze Spektrum der menschlichen Bedürfnisse – nicht nur die materiellen wie das Bedürfnis nach Nahrung, sondern auch das Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit und einem sinnvollen Leben.

Was sind die theoretischen Grundlagen einer Wirtschaft der Fürsorge?

Die sechs Grundlagen einer Wirtschaft der Fürsorge sind:

  • Eine Vollspektrumdarstellung der Wirtschaft
  • Ein gesellschaftliches Bewusstsein sowie Institutionen, die Fürsorge und Fürsorgearbeit wertschätzen
  • Der Fürsorge entsprechende wirtschaftliche Regeln, Gesetze und Praktiken
  • Akkurate wirtschaftliche Maßstäbe, die die Fürsorgearbeit mitberücksichtigen
  • Partnerschaftliche Wirtschafts- und Sozialstrukturen
  • Eine partnerschaftliche Wirtschaftsform „Partnerismus“, welche partnerschaftliche Elemente sowohl aus dem Kapitalismus als auch dem Sozialismus enthält, aber über beide hinausgeht.

Was muss man bei der praktischen Umsetzung dieser theoretischen Grundlagen beachten?

Wirtschaftssysteme entstehen und existieren nicht in einem Vakuum, sondern in einem größeren gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Kontext. Ein neues Wirtschaftssystem kann nur dann aufgebaut werden, wenn man diesen Kontext versteht und verändert.
Unser Leben wird von Beziehungen geprägt. Sie sind die Grundlage aller sozialen Institutionen, von der Familie bis zum Bildungssystem, von der Politik bis zur Wirtschaft. Hier unterscheidet Eisler zwischen dominatorischen und partnerschaftlichen Beziehungen, die zu dominatorischen bzw. partnerschaftlichen Systemen führen – eine Dualität, die sehr viel sinnvollere Kategorien bilden lässt, als die üblichen Dualismen von rechts vs. links / Ost vs. West etc., die häufig die gleiche Kategorie nur in unterschiedlichem Gewand darstellen.

Dominatorische gegenüber partnerschaftlichen Systemen

Im dominatorischen System gibt es lediglich eine mögliche Beziehung: Herrschen und beherrscht werden. Das System basiert vornehmlich auf Angst und Zwang. Mitgefühl und Fürsorge wird in diesen Systemen kein hoher Stellenwert beigemessen.

Foto: s.hofschläger / pixelio.de

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Ein partnerschaftliches System unterstützt Beziehungen gegenseitigen Respekts und gegenseitiger Fürsorge. Auch hier gibt es Hierarchien, allerdings rein organisatorischer Natur. Natürlich herrschen in den meisten Gesellschaften Mischformen aus partnerschaftlichen und dominatorischen Systemen, doch es lassen sich eindeutige Tendenzen feststellen.
Unsere heutigen Wirtschaftstheorien basieren meist auf zwei Grundannahmen: Als naturgegeben wird eine Situation der Knappheit und eine menschliche Natur der Gier gesehen. Doch sind diese gerechtfertigt? Selbstverständlich kann es in bestimmten Situationen oder in Bezug auf bestimmte Dinge eine naturgegebene Knappheit geben, doch in dominatorischen Wirtschaftssystemen wird Knappheit permanent geschaffen – und damit eine Situation der Angst und Panikmache (Bsp. Impfstoffmangel bei einer angeblichen Pandemie). Dazu kommt, dass menschliche Grundbedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Fürsorge, Liebe, Anerkennung und Lebensinn in dominatorischen Systemen nicht befriedigt werden – was zu einem ständigen Gefühl des Mangels führt und anfällig macht für Werbekampagnen, die suggerieren, man bräuchte immer mehr materielle Güter, um endlich Erfüllung und Befriedigung zu finden.
Knappheit, Nachfrage und Bedürfnisse sind also in vielen Fällen künstlich geschaffen und können in Wirtschaftstheorien nicht als gegeben betrachtet werden. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich ein ganz anderes Bild von Angebot und Nachfrage, als das, welches allgemein in Marktanalysen gezeichnet wird.
Die Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsform ist also auch eine Frage des Menschenbildes: Die derzeitigen Wirtschaftsformen basieren auf der Prämisse, der Mensch sei im Grunde genommen selbstsüchtig und handele danach. Angeblich soll die Marktwirtschaft auch aus genau dem Grund funktionieren: Sie sei ein System das allen das Beste gäbe, solange jeder an sich selbst dächte. Würden Sie Ihrem Kind eine solche Aussage mit auf den Lebensweg geben?
Auch die sogenannten „soft skills“, wie zum Beispiel die Fürsorge, werden in dem Weltbild des selbstsüchtigen Menschen, der in der Marktwirtschaft sein Glück findet, als unbedeutend bis hinderlich betrachtet. Die derzeitige Diskussion um Krippen versus Hausbetreuung zeigt das sehr deutlich.
Natürlich ist eine solche Geringschätzung der Fürsorge Unsinn. Keiner und keine von uns hätte ohne Fürsorge überleben können. Es ginge uns erbärmlich, wenn niemand mehr Fürsorgeleistungen wie Essenszubereitung, Kleiderwaschen und ein sauberes, gemütliches Zuhause schaffen, leisten würden.
Und doch: Wer sich für Fürsorge einsetzt, wird oft als „Gutmensch“ oder antiquiert abgestempelt. Wer sich zu Hause Tag und Nacht um Kinder, Kranke und Ältere kümmert, gilt immer noch als „wirtschaftlich irrelevantes“ Mitglied der Gesellschaft – als Teil der „nicht arbeitenden“ Bevölkerung.
Es entbehrt jeglicher Logik der Fürsorgearbeit, welche die Grundlage unseres Lebens bildet, keinen (wirtschaftlichen) Wert beizumessen. Die Wurzeln für diese Absurdität liegen darin, dass Fürsorgearbeit meist Frauenarbeit war und ist und in einem von männlichen Werten geprägten Umfeld damit als belanglos eingestuft wird.

Wertewandel!

In dem von Eisler anvisierten, partnerschaftlichen Wirtschaftssystem wird der Fürsorgearbeit ihr gebührender Stellenwert zugestanden. Ebenso werden die natürlichen Ressourcen berücksichtigt. Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich wird nicht als „natürliche“ Entwicklung akzeptiert.
Ein solches Wirtschaftssystem kann natürlich nur im entsprechenden Kontext entstehen, das heißt, es reicht nicht aus, die Wirtschaftspolitik zu ändern, auch die gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen müssen einen Wandel erfahren. Unser Wertesystem muss auf den Prüfstand. So ist es interessant, dass der Staat für Kriege oder Banken Milliardenbeträge auftreiben kann, jedoch in sozialen Fragen um Euro und Cent streitet (Beispiel Hartz IV-Debatte, aber auch Diskussionen um das Gesundheitssystem, Betreuungsgeld etc.). Die Wertungen laufen meist unbewusst ab und vielen ist überhaupt nicht klar, wie sehr Fürsorgearbeit in unserer Gesellschaft und Kultur abgewertet wird (Beispiel: Herdprämie).
Es ist also klar, dass ohne Wertewandel keine Wirtschaft der Fürsorge möglich ist – und so ein Wertewandel braucht Zeit. Und er braucht Menschen, die ihn vorantreiben. Manche von uns haben direkten Einfluss in ihren Gemeinden, andere können durch Organisationen (Bürgerbewegungen, Berufsverbände oder Parteien und andere politische Vereine) indirekt Einfluss nehmen, indem sie eine Haltung der Fürsorge in deren Programme und Veröffentlichungen aufnehmen. Wenige von uns haben direkten Einfluss auf die nationale und internationale Politik.
Jede und jeder von uns kann das Bewusstsein für unsere Bewertung von Fürsorge in seinem Umfeld wachrufen. Alle können darauf drängen, dass die Wirtschaft in ihrem gesamten Spektrum und ihrer Abhängigkeit von unserem Wertesystem betrachtet wird. Folgende Schritte müssen auf dem Weg dorthin beachtet werden:

Sieben Schritte in Richtung Fürsorgewirtschaft

1. Bewusstmachen, wie die gesellschaftliche Abwertung der Fürsorgearbeit die Wirtschaftstheorien und –praktiken sowie die Wirtschaftspolitik beeinflussen. Der erste Schritt hierbei ist: Fürsorge und Wirtschaft in Diskussionen/Gesprächen zu verknüpfen, das kann jede von uns. Wir müssen feststellen, was uns wirklich wichtig ist. Es geht hier nicht um theoretische Fragen, sondern um das, was immense praktische Auswirkungen auf unser tägliches Leben hat, auf unsere Familien, auf die Erziehung und Bildung unserer Kinder, auf unsere Arbeit und unsere Geschäfte und letztendlich auf das Überleben unserer Spezies.
2. Den Wandel von einer dominatorischen zu einer partnerschaftlichen Kultur (sowohl mental als auch in Bezug auf Wirtschaft und Gesellschaft) unterstützen.
3. Bei der Erhebung von Wirtschaftsdaten die Fürsorgearbeit berücksichtigen und sichtbar machen. Wir brauchen Wirtschaftsdaten, in denen berücksichtigt wird, wie viel Fürsorgearbeit für die Wirtschaft bringt, wenn sie geleistet wird – und wie viel es uns kostet, wenn sie nicht geleistet wird.
4. Maßnahmen einführen, welche Fürsorgearbeit wirtschaftlich unterstützen und fördern, so müssen z.B. Pflege- und Erziehungsberufe (finanziell) mehr anerkannt werden. Es ist Humbug zu behaupten, die geringe Bezahlung dieser Berufe bestünde in der geringen Nachfrage (Stichwort Pflegenotstand).
5. Fürsorgearbeit als festen Begriff in der Wirtschaftstheorie und –praxis verankern, Fürsorge und Fürsorgearbeit zum festen Bestandteil der Lehrpläne im Bereich Wirtschaft(swissenschaft) machen und bei der Wirtschaftsforschung nicht nur aus männlicher Perspektive blicken.
6. Erwachsene und Kinder über die Bedeutung von Fürsorge und Fürsorgearbeit informieren und sie diesbezüglich schulen.
7. Führende Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft von der positiven Wirkung von Fürsorgemaßnahmen überzeugen und sich für deren Umsetzung einsetzen.

Übersetzt von Ulrike Brandhorst.

Die Zusammenfassung des ersten Kapitels sowie interessante Kommentare dazu können hier nachgelesen werden. Auch Kapitel 3/4 sowie Kapitel 5 , Kapitel 6 , Kapitel 7 , Kapitel 8 , Kapitel 9 und das Abschlusskapitel 10 sind bereits zusammengefasst und veröffentlicht.

Zum weiterlesen: Riane Tennenhaus Eisler, The Real Wealth of Nations: Creating a Caring Economics, 2008.

 

Autorin: Ulrike Brandhorst
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 05.06.2013
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