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Who cares?  Sehen – hören – entdecken – entschleiern

Von Elfriede Harth

Die Erfahrungen, die wir im Leben gemacht haben, prägen unsere Erwartungen. Denn wir haben diese Erfahrungen gedeutet und säuberlich in lauter kleine Schubladen gepackt. Das ist ökonomisch. Wenn wir nämlich einer neuen Person oder Begebenheit begegnen, brauchen wir kein neues Ordnungssystem mehr einzurichten, sondern können diese Schubladen öffnen und finden darin die Anleitung, wie sich die neuen Personen oder Begebenheiten in unser System einordnen und hineinpacken lassen. So bleibt das System möglichst stabil und gibt uns Sicherheit.

Werden jedoch Erwartungen nicht erfüllt, dann entsteht Stress. Nicht unbedingt schädlicher Stress. Aber wir werden plötzlich ganz wach, weil etwas nicht selbst-verständlich ist. Weil es uns herausfordert, achtsam zu sein – to care –, aufmerksam zuzuhören und hinzusehen. Mit wachen Ohren und neuen Augen. Und für dieses Mal die bequemen Schubladen zu vergessen.

So war es bei der Performance von Swoosh Lieu am 13. September im Frankfurter Mousonturm unter dem Titel: „Who Cares – Eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenden”.

Foto: Mousonturm/David Rittershaus

Foto: Mousonturm/David Rittershaus

Jeder und jedem wurde ein Kopfhörer ausgehändigt, bevor sich die Türen zum Theatersaal öffneten. Denn wir wohnten der Performance in digitaler Form bei – persönlich präsent, jedoch gleichzeitig vereinzelt vernetzt mittels moderner Technik. Ein Stapel zusammengelegter weißer Tücher lag mittig im dunklen Saal. Je ein geöffneter Laptop stand unter Glas auf einer Konsole, nah an der Wand; zwei oder drei davon. So wie Ausstellungstücke in einem Museum. Weiß bespannte viereckige Paneele in unterschiedlichen Größen hingen an zwei Wänden. Bis auf einen Stapel Stühle nah am Notausgang war der Saal leer.

Nach mehreren Minuten gespannter Deutungsversuche dieses Raumes, betraten einige Figuren den Saal, schritten durch die Menge hindurch zu den Laptops auf den Konsolen und nahmen die Glasdeckel weg. Plötzlich hörte man Schritte im Kopfhörer und eine Frauenstimme führte jemanden durch die Zimmer einer kleinen Wohnung. Wieder Schritte und eine andere Frauenstimme kommentierte die Räume einer Kita. Eine weitere Frauenstimme beschrieb den Ort, wo sie ihre Sexarbeit erledigt, usw. Immer wieder wurde die Dunkelheit abgeschritten und eine Frauenstimme ließ dabei neue Räume entdecken.

Dann wurde der hintere Teil des Saals mit einem Absperrungsband abgetrennt und eine Frau in Barockkleidung mit einer Krone auf dem Kopf fegte ihn, bevor plötzlich die Saalbestuhlung automatisch aus der Wand hervorkam und den Zuschauerraum füllte. Natürlich! Wie alles braucht auch ein Theater eine ganze Reihe (Vor-)Arbeiten, die im Moment der Aufführung unsichtbar bleiben. Vergessen werden. Aber ohne die es keine Aufführung geben könnte. Ohne die das Publikum nicht bequem dem dargebotenen Spektakel zuschauen könnte.

Und nach diesem „Vorspann” begann „die eigentliche” Performance. Interviews von verschiedenen Frauen wurden zerfetzt und zu Collagen zusammengefügt. Statt eine „Person” zu rekonstruieren, wurde plötzlich sichtbar, wie die Identität von Menschen durch die Tätigkeiten, die sie ausüben geprägt wird, wie sie sich mit diesen Tätigkeiten identifizieren, hinter diesen Tätigkeiten als Menschen verschwinden. Es wurde deutlich, wie Menschen durch die ausgeübte Tätigkeit unter Umständen stigmatisiert werden.

Es wurde sichtbar, wie Stereotypen unser Denken beherrschen, wie sehr Menschen in Kategorien gedacht werden: die heilige Mutter, das Vamp, die Domina, die Putzfrau, die Königin… und wie austauschbar die Menschen und die Kategorien auch sind in einem System, das eben nur die Arbeitskraft, den Marktwert oder gesellschaftlichen Nutzen und nicht den Menschen sieht.

Sehr beeindruckend fand ich den Teil, wo die Figuren Wäsche aufhängen. Vielleicht, weil ich selbst so gerne Wäsche wasche und aufhänge und bügle? Die zusammengefalteten weißen Textilien, die auf der Mitte der Bühne lagen, wurden auf Wäscheleinen gehängt, bis die gesamte Bühne zugehängt war. Begleitet wurde diese Tätigkeit von Stimmen, die über Arbeitsbelastung klagten, schlechte Arbeitsbedingungen, fehlende Anerkennung, etc.. Am Schluss verwandelten sich diese Wäschestücke – zum Teil große Bettlaken – in eine Bühne für ein Schattenspiel. Sie zeigten, was sie unsichtbar machten.

Ich musste unwillkürlich an den Schleier der Muslimas denken. Auch er macht das Unsichtbare sichtbar, indem er verdeckt, was in einer patriarchalen Gesellschaft tabu ist, nämlich das weibliche Geschlecht. Und wahrscheinlich ist er deshalb so ein Stein des Anstoßes in unserer westlichen Welt, weil diese sich brüstet, Sexismus und Frauenfeindlichkeit längst überwunden zu haben, aber in Wirklichkeit weitgehend eine Zensur betreibt, die viel schwerer anzuprangern ist, weil sie getarnt daherkommt unter einem unsichtbaren Schleier.

Aber das Unsichtbare erwies sich schließlich in der Performance als ganz anders, als vielleicht zu vermuten gewesen war, denn alle Kategorien wurden wieder durcheinander geworfen, als sich die Figuren teilweise entblößten. Queeres Denken ist angesagt!

Den Schluss der Performance bildete eine herrlich positive Vision. Mit einem Video wurde das Publikum in das Frankfurt im Jahr 2030 versetzt. Uns bekannte Persönlichkeiten tauschten sich aus über das Jahr 2016 und besonders junge Menschen konnten es gar nicht fassen, dass damals die Zustände so absonderlich waren.

„Who cares?” ist der erste Teil der Trilogie „What is the plural of crisis?! – ein performativer Krisenbericht in verteilten Rollen”. Der zweite Teil wird das Thema Migration aufgreifen, der dritte Wohnen.

 

Autorin: Elfriede Harth
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 20.09.2016
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