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Kostenkrankheit ist Menschengesundheit (ziemlich oft jedenfalls)

Von Ina Praetorius

Foto: weseetheworld/Fotolia.de

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Zahlen werden nicht krank. Nur lebende Wesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) werden krank.

Trotzdem hat in den 1960er Jahren ein amerikanischer Ökonom namens William Jack Baumol den Begriff der „Kostenkrankheit“ (Cost-Disease) erfunden. Krank sind seinen Analysen zufolge in der Zeit des ausgehenden Kapitalismus die Kosten von Dienstleistungen. Oder genauer: Krank ist das Verhältnis der Kosten von Arbeit, die in die Herstellung standardisierter Dinge (Autos, Unterhosen, Streubomben) investiert wird, zu den Kosten von Arbeit, die direkt auf Personen bezogen ist und die der Ökonom „Dienstleistung“ nennt: Pflege, Erziehung, Beratung, Heilung, Seelsorge und so weiter.

Warum scheint dieses Verhältnis dem Herrn Baumol als krank? Weil personenbezogene Arbeit, also „Dienstleistung“, sich nicht auf dieselbe Weise rationalisieren lässt wie die Produktion von Dingen. Kinder lassen sich nicht immer schneller erziehen, Krankenpflege, Psycho- oder Physiotherapie lässt sich nur begrenzt beschleunigen und an Maschinen delegieren. Weil aber die Leute, die personenbezogene Dienste leisten, heute, bevor wir das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt haben, trotzdem einen Lohn beziehen müssen, um zu überleben, wird ihre Arbeit im Verhältnis zur industriellen Produktion von Dingen immer teurer. Was teurer wird, erscheint demjenigen, der zahlen muss, als „krank“.

Was sind überhaupt „Kosten“? Kosten sind, wenn ich das richtig sehe, die Zahlen, die in einer betriebswirtschaftlichen Rechnung auf der Ausgabenseite stehen. Also alles, was eine Unternehmerin investieren muss, damit das von ihr gewünschte Produkt entsteht: Material, Löhne, Zeit, Erfindungsgeist und so weiter, ausgedrückt in Geld, also in Zahlen. Aus der Perspektive der Unternehmerin gesehen hat es also eine gewisse Logik, höhere Kosten „krank“ zu nennen, zumindest dann, wenn ich voraussetze, dass Krankheit grundsätzlich negativ ist und jede Unternehmerin so billig wie möglich produzieren will. Obwohl auch unter diesen Voraussetzungen, die mir persönlich irgendwie zwanghaft erscheinen, Zahlen nicht krank werden können.

Wenn ich mir nun aber die ganze Geschichte nicht mit den Augen der prinzipiell sparsamen und profitverliebten Unternehmerin anschaue? Sondern mit denen einer kranken Person, die zwar vielleicht auch nicht übertrieben viel für die Frau Doktor bezahlen, die aber vor allem gesund werden will? Oder mit den Augen eines Kindes, das so lange mit dem Papa spielen will, wie es Lust hat? Ist dann die Zeit, die die Frau Doktorin sich zum Zuhören und die der Papa sich zum Mitspielen nimmt, auch „krank“? Sind eine zuhörende Ärztin und ein mitspielender Papa nicht vielmehr ziemlich gesund?

Und dies ist die Moral: Liebe Ökonominnen und Ökonomen, passt in Zukunft besser auf, welche Wörter ihr auf welche Wirklichkeiten klebt. Es könnte euch sonst heute, im postpatriarchalen Durcheinander, nämlich passieren, dass eine daherkommt und sagt, dass ihr das Ganze genau falschherum seht. Weil nämlich, zum Beispiel, gesund ist, was ihr „krank“ nennt: genug Zeit zum Leben, so lange es dann eben dauert.

PS: Hier kann man einen Text der Ökonomin Mascha Madörin lesen, in dem deutlich wird, dass die Entdeckung des Auseinanderdriftens von Arbeitsproduktivitäten durchaus (begrenzt) erkenntnisfördernd ist, abgesehen vom irreführenden Namen „Cost disease“.

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 16.01.2017
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