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Wie Armut produziert wird – und was wir dagegen tun können

Von Michaela Moser

Vor mittlerweile 14 Jahren hat die norwegische Soziologin und Armutsforscherin Else Øyen einen Artikel publiziert, in dem sie deutlich macht, wie wichtig es ist, nicht nur zu notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung und Vermeidung von Armut zu forschen, sondern auch zu deren Produktion.

Denn Armut ist kein Naturereignis (auch wenn sie in der Folge solcher sich verschärfen kann), und sie entsteht nicht aus Zufall. Armut wird gemacht. Und es gilt, die verantwortlichen Agenten und ihre Taten bzw. die von ihnen ausgelösten Prozesse und Wirkungen zu identifizieren.

Die derzeitige österreichische Regierung agiert als Armutsproduzentin par excellence. Gezielt hebelt sie aus, kürzt und vernichtet, was sowohl in der Armutsforschung, als auch von Anti-Armuts-NGOs sowie seitens der EU-Politik seit Jahrzehnten als zentral für Armutsbekämpfung gilt:

Es sind drei Säulen, für die NGO-Netzwerke, darunter vor allem das Europäische Anti Armutsnetzwerk, jahrzehntelange gekämpft haben und immer noch kämpfen: 1. Welche Art von Einkommenssicherung es braucht (bedingungsloses Grundeinkommen statt Mindestsicherung), 2. Wie soziale Dienstleistungen und Güter sinnvoll und partizipativer gestaltet und verwaltet werden können, und 3. Wie der allumfassende Stellenwert von Integration in die Erwerbsarbeit einem erweiterten Arbeitsbegriff inklusive Care-Revolution weichen kann und Politiken jenseits von „Workfare“ umgesetzt werden können.

Klarerweise gibt es in allen diesen Bereichen unterschiedliche Vorstellungen dazu, was ihre Realisierung im Detail betrifft. Umso notwendiger wäre es, entsprechende Diskussionen zu führen. Aber genau das tritt gerade in den Hintergrund. Denn aktuell geht es um die systematische Zerstörung dessen, was diese drei Säulen derzeit in Österreich (auch bis dato nicht ideal, aber doch) ausmacht.

Der Zugang zur und die Höhe der Mindestsicherung werden reduziert auf ein Maß, das zum Leben zu wenig und womöglich bald, jedenfalls für einige, nicht einmal mehr zum Sterben zu viel sein wird. Die soziale Infrastruktur wird dramatisch abgebaut oder sogar ganz abgeschafft (Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuungseinrichtungen, Beratungsangebote) und/oder in ihrer Qualität schmerz- und grauenhaft dezimiert, etwa im Bereich Bildung und Schulen.

Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration (an denen es zweifelsohne auch einiges zu verbessern gäbe) werden halbiert, und Tausende Menschen verlieren damit Möglichkeiten dieser Art der Existenzsicherung und der – nicht immer, aber vielfach doch – damit verbundenen gesellschaftlichen Teilhabe. Von der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen  mit dem Zwölf-Stunden-Tag (und da wird noch mehr kommen) auch nicht zu schweigen.

Wen’s trifft, und es wird viele treffen, trifft es dann gleich dreifach: Geringere Möglichkeiten auf (Wieder-)Einstieg in die Erwerbsarbeit oder nur in lausige Jobs, keine Beratungsangebote, die die Situation entlasten/überbrücken/überwinden helfen, kein soziales Netz, das auffängt.

So produziert man Armut, so wird Verelendung betrieben. Und mit ihr entsteht eine „Elendsindustrie“, denn es wird für zum Beispiel Hungernde mehr Versorgung durch Tafeln und Ähnliches brauchen. Soziale Organisationen werden stärker auf Spenden angewiesen sein, um vorhandene Not zumindest zu lindern.

Und auch jene von uns, denen klar ist, wie sehr damit Symptomkur und – ja auch – Systemstabilisierung betrieben wird, werden dabei mitmachen (müssen), weil die Bedürfnisse unmittelbar sind und die Armen nicht warten können, bis uns wieder ein politischer Wandel gelingt.

Noch stärker als je zuvor wird es deshalb darauf ankommen, das eine zu tun, also unmittelbar zu helfen, aber gleichzeitig das andere nicht zu lassen, nämlich an grundlegenden Alternativen zu arbeiten und für sie zu kämpfen.

Größer und radikal zu denken und zu fordern: ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Top-Infrastruktur für alle durch partizipativ gestaltete soziale Dienste und Güter (Stichwort „Commons“), eine dramatische Arbeitszeitreduzierung, Care-Revolution und mehr …

Zum „Mehr“ haben wir vor Jahren schon im Europäischen Anti-Armuts-Netzwerk zusätzlich zu den oben beschriebenen drei Säulen fünf  Grundsätze und Denk- und Kampfrichtungen der Armutsbekämpfung entwickelt, die meiner Meinung nach nichts an Gültigkeit verloren haben:

Erstens: „Social Progress in a Time of Crises“. Das heißt: Uns nicht durch die aktuelle Lage davon abbringen zu lassen, an den nötigen großen Veränderungen (weiter) zu arbeiten und an sie zu glauben: Es gibt immer eine realistische Alternative!

Zweitens: „Breaking stereotypes: Communicating the realities of poverty“. Konkret: Vermitteln, was es heißt, mit Mindestsicherung zu leben, davon nicht würdig leben zu können, zeigen, wer auf der Strecke bleibt im Sozialabbau. Den stigmatisierenden Mythen reale Lebenssituationen entgegenstellen.

Drittens: „The need for more and better democracy.” Erkennen, dass demokratische Strukturen nicht nur Teil der Lösung, sondern in ihrer jetzigen, viele ausgrenzenden Form auch Teil des Problems sind; an verbesserten inklusiveren partizipativen demokratischen Strukturen arbeiten.

Viertens: „A fairer distribution of wealth.” Nicht aufhören, über das Ausmaß an Ungleichheit zu reden. Den vorhandenen Reichtum in seiner ganzen Dimension ins Spiel bringen, deutlich machen, dass Ungleichheit fast allen schadet und es „da oben“ viel zu verteilen gibt. Für das gute Leben aller.

Fünftens: „A global fight against poverty.“ Uns nicht auf den Kampf hier und jetzt und vor Ort zu beschränken, uns und verschiedene Armutssituationen nicht gegeneinander ausspielen lassen, für offene Grenzen eintreten und über Grenzen hinweg zu verbünden. Es geht um die ganze Welt.

Und uns nicht entmutigen lassen!

Der erwähnte Artikel von Else Øyen (2004) ist hier zu finden: Poverty production: a different approach to poverty understanding. In Advances in Sociological Knowledge (pp. 299-315). VS Verlag für Sozialwissenschaften und es gibt ihn hier zum Download

Autorin: Michaela Moser
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 27.07.2018
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Romana Schallhofer sagt:

    Hätte niemals gedacht, dass die gesellschaftliche Entwicklung so retour gehen kann. Unvorstellbar, dass wir das zulassen!!€

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