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Weibliche Freiheit in Zeiten des Patriarchats: Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão

Von Antje Schrupp

Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão: Zwei Frauen auf der Suche nach Freiheit in den Zeiten vor der Frauenbewegung. Szenen-Foto: Pfiffl-Medien.

Wenn die zwanzigjährige Guida (Júlia Stockler) spät abends noch aus dem Haus will, wird sie von ihrer Schwester Euridice (Carol Duarte) gedeckt. Umgekehrt unterstützt Guida die Pläne der Jüngeren: Euridice träumt von einer Karriere als Pianistin. Das liebevolle Bündnis der Schwestern Gusmão ist viel wert im Rio de Janeiro der fünfziger Jahre. In einer Zeit also, als Väter noch unbeschränkte Macht über ihre Töchter hatten, als Mütter sich fraglos unterordneten und sich im Zweifelsfall auf die Seite der Patriarchen schlugen oder ihnen zumindest nichts entgegensetzten.

Der Film des brasilianischen Regisseurs Karim Aïnouz erzählt die Lebensgeschichte zweier Schwestern, deren konservative, mittelständische Eltern – der Vater ist Bäcker, die Mutter Hausfrau – ihnen enge Grenzen setzen in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg qua Ehe. In dieser Zeit vor der Frauenbewegung war eine ungeplante und nicht-eheliche Schwangerschaft die größte Katastrophe, die einer Frau zustoßen konnte.

Und tatsächlich: Als Guida mit einem Seemann durchbrennt und schwanger zurückkehrt, trennen sich die Wege der „ehrbaren“ und der „ehrlosen“ Schwester. Guida wird nicht nur vom Vater verstoßen, er unterbindet auch jeden Kontakt zur inzwischen verheirateten Euridice. Im Glauben, einander verloren zu haben, gehen die beiden Schwestern fortan sehr unterschiedliche Lebenswege.

„Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ spannt ein ganzes Panorama von Themen auf. Die eher zu Kompromissen bereite Euridice steckt in den Zwängen einer bürgerlichen Existenz, muss als Hausfrau und Mutter ihre Träume von beruflicher Erfüllung begraben. Guida dagegen schlägt sich als Alleinerziehende am unteren Rand der sozialen Skala durch und begegnet dabei ganz anderen Lebensentwürfen außerhalb der bürgerlichen Norm. Es ist oft nicht leicht zu entscheiden, welche von beiden das bessere, welche das schlechtere Los gezogen hat.

Es gibt kein wahres Leben im Patriarchat, ließe sich schlussfolgern, weder die „Heilige“ noch die „Hure“ haben ein freies Leben. Allerdings: Auch unter widrigsten Umständen ist weibliche Freiheit möglich. Weder Guida noch Euridice fügen sich in ihr Schicksal, immer wieder finden beide Wege, Grenzen zu überschreiten, ihrer eigenen Sehnsucht, ihrem Begehren, zu folgen.

Trotz des historischen Settings weist die Geschichte daher über ihre Zeit hinaus. Es geht um allgemein menschliche Fragen, die heute genauso aktuell sind wie damals, um Solidarität und Sehnsucht, um Konfliktfähigkeit und Freiheitswillen, um Freundschaft, Liebe und Treue. Und trotz der traurigen Geschichte ist ein sehenswerter Film, der die Zuschauerin gerade nicht traurig macht, sondern versöhnlich endet – mit einem Gastauftritt von Fernanda Montenegro! In Deutschland kommt er am 26. Dezember ins Kino.

Autorin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 23.12.2019
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