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Rubrik denken

Wie eine Deportation

Von Dorothee Markert

Auf dem Markt des Glücks

Dies ist der zweite Teil des sechsten Kapitels „Più donne che uomini“ (Mehr Frauen als Männer). Da der Anfang dieses zweiten Teils im Zusammenhang mit den letzten Abschnitten des vorhergehenden ersten Teils steht, besonders mit dem Thema „Erfahrung“, wäre es gut, diese Abschnitte vorher nochmals zu lesen.

Die folgende Erzählung sei Luisa Muraro so wichtig, meint sie, dass ihr unbedingt ein Platz eingeräumt werden müsse, falls ihre Geschichte einmal erzählt werden sollte: Sie ist gern zur Schule gegangen, weil sie unbedingt lesen und schreiben lernen wollte. Auch wollte sie vielleicht ihre Eltern mit guten Noten erfreuen. Doch auf dem Weg zur Schule war sie nie so glücklich, wie wenn sie mit ihren Brüdern zum Wildbach ging. Denn die Schule zeigte bis hin zu den Mauern und Gittern, dass sie keine Ahnung hatte von dem, was woanders geschah. Zum Glück gab es die Schulglocke. Beim Studium später läutete leider keine Glocke mehr. Alles wurde erklärt und erklärbar gemacht, wurde ausgesprochen oder sagbar gemacht. Die weitere Entwicklung war vorgegeben und ging in dieselbe Richtung – ohne Ausweg. Weil sie lernen wollte, fand Muraro sich schließlich, ohne dass sie sich dessen bewusst war, in einer körperlichen und seelischen Situation wieder, in der ihr das Recht verloren gegangen war, die Welt zu erfahren. Dies war für sie, eine Frau, ein doppelter Verlust, denn sie war angehalten worden, ihr Leben in ein Heft ohne ausgelassene oder herausgerissene Seiten zu schreiben. Diese Einstellung war ihr durch eine alljährliche schulöffentliche Zeremonie antrainiert worden, bei der die Hefte von armen Schülern und Schülerinnen, die die Hefte kostenlos bekamen, daraufhin überprüft wurden, ob alle Seiten vollständig beschrieben und keine herausgerissen worden waren, andernfalls ging ihnen diese Vergünstigung verloren.

Was Muraro hier beschreibt, sei in etwa das allgemeine Schema, nach dem die Emanzipation der Frauen und der unteren Schichten durch das Bürgertum ebenso wie durch die Sozialisten vorangebracht worden sei. Heute werde das kritisiert, aber nur, weil das Versprochene nicht erreicht wurde, nicht weil der Ansatz falsch war. Der bestand darin, dass die zu Emanzipierenden zu Subjekten eines von anderen vorgegebenen und gemessenen Fortschritts gemacht wurden, deren offen ausgesprochene und verborgene Interessen und Ideale sie sich aneignen und zum Rahmen ihrer Selbstverwirklichung machen sollten. Dabei hatten sie keine Wahl, denn es gab eine richtige Einzäunung um die Emanzipation. Der Zaun ist immer noch da, aber er wurde aufgebrochen. Vor der verspäteten und auch noch falschen Kritik gab es eine große Flucht aus dem umzäunten Gelände heraus, die Muraro spaßeshalber mit dem Titel des Animationsfilms Chicken run benennt, auch wenn diese Verwendung vielleicht nicht der Intention des Films entspricht.

Muraro überlässt es anderen, die große Flucht der unteren Klassen hin zu dem, was in der Politik „die Rechte“ genannt wird, zu kommentieren. Übrigens spricht sie von den Hühnern mit Zuneigung und Respekt, denn nach ihr und ihren Geschwistern waren diese der Herrin des Hauses, in dem Muraro aufgewachsen ist, also ihrer Mutter, die liebsten kleinen Geschöpfe. Entgegen dem Wunsch ihres Vaters zog die Mutter immer ein paar Hühner auf. Mit denen spielten die Kinder und hatten eine große Vertrautheit mit ihnen, bis hin dazu, dass sie gegessen wurden, wenn das notwendig war. 

Die Frauenbewegung, die das umzäunte Emanzipations-Gelände aufbrach, übernahm für sich den alten Begriff „Feminismus“, aber „Feminismus“ war auch einer der Namen der Einzäunung. Deshalb wehrten sich manche Feministinnen gegen diesen Begriff, da sie fanden, er sei historisch an die bloße Einforderung von Rechten im Namen der Gleichheit gebunden. Denselben Begriff für zwei Dinge gegensätzlicher Ausrichtung zu verwenden, erscheint unlogisch, und das wäre auch so, wenn „Feminismus“ eine ideologische Bezeichnung wäre, wie die Endung „-ismus“ vermuten lässt. Doch in der geschichtlichen Realität ist der Feminismus ein umkämpftes Feld, ein Kampfplatz.

Es gibt Worte, die im Widerspruch zu sich selbst stehen, wie der Begriff stásis im Griechischen, der eine „Situation der Ruhe“ meint, der aber eben auch „Unordung“, „Revolte“ und „Bewegung“ bedeuten kann. „Feminismus“ ist ebenfalls ein solches Wort. In der Literatur finden wir oft den Plural, Feminismen, um dem inneren Krieg des Wortes abzuhelfen. Doch im Gebrauch gewinnt meistens der Singular, und in dieser Form stellt der Feminismus etwas dar, das nicht verlorengehen kann und das nicht aus Büchern gelernt werden kann. Der Feminismus ist nämlich mit der lebendigen Erfahrung von unzähligen Frauen verbunden, die gegen etwas gekämpft haben, das keinen Namen hatte, und für etwas, das keinen Namen hat. Sie kämpften an jener Grenze, von der Muraro (im ersten Teil dieses Kapitels) gesprochen hat. Sie kämpften also dort, wo die Erfahrung unser Maßstab ist und wo wir an den Vermittlungen arbeiten, dort, wo die Begehren entdeckt und Worte gefunden und erfunden werden. Sie kämpften gegendas Übel ohne Namen, als Frauen geboren worden zu sein, und dafür, frei und bedingungslos Frauen sein zu können. An dieser Stelle lässt sich erahnen, wie es kommen kann, dass ein Wort sich gegen sich selbst auflehnt. Da wird mit hohem Einsatz gespielt, und die Bedeutung des Wortes „Frau“ ist ein Teil davon.

Den Vorwurf, der Feminismus gehe der Politik aus dem Weg, weist Luisa Muraro zurück. Das sei ein oberflächliches Urteil von Menschen, die dazu neigten, die Politik mit der Macht zu verwechseln. Der Feminismus sei jedenfalls vom Innersten her (wörtlich: von den Eingeweiden her) politisch.

Dass der Feminismus in Wellen auftritt und es zwischendurch immer wieder zu einem rätselhaften Vergessen kommt, erklärt Muraro sich folgendermaßen: Wenn die enge Verbindung zwischen dem „Dagegen“ und „Dafür“ nachlässt, wenn sich also diese Verbindung immer mehr auflöst und der Kampfgeist das Feld verlässt, nimmt auch die Notwendigkeit der Vermittlung ab. Zur Vermittlung gehören Forschungen einzelner und vieler, die Erfindung von Worten und die Selbstveränderung. Wenn all das nicht mehr nötig erscheint, löst sich der Feminismus auf und gerät in Vergessenheit.

Die (aus Luisa Muraros Sicht von 2009) letzte Welle, die der 1970er-Jahre, war durch die Erfindung und das Schaffen von Orten, Praktiken und Sprache gekennzeichnet, die mit dem männlichen Universalismus brachen. Dadurch konnten die feministischen Ideen aus dem Austausch von Frauen über ihr Leben herausgearbeitet und schließlich praktisch universell werden, so dass das Menschsein aller Frauen in der Einzigartigkeit jeder Einzelnen aufscheinen konnte.

Die aus den Erzählungen und dem Leben von Frauen in Fleisch und Blut herausdestillierte Idee des Feminismus besteht darin, sich dafür einzusetzen, dass eine Frau frei sein soll in dem, was sie für sich selbst ist. Nicht das, was sie ist, abgesehen von etwas, aus Zugehörigkeit zu etwas, im Hinblick auf etwas. Und auch nicht das, was sie aufgrund von Gesetzen, Rechten, Befugnissen oder Fähigkeiten ist. All dies kann hilfreich sein, aber letztendlich taugt nichts davon, wenn es nicht bei ihr ankommt als etwas, an dem sie mit allen Sinnen ihre Freude haben kann. Wenn es eine politische Bewegung gibt, heißt das, dass diese durch die einzelne Frau hindurchgehen und ihre eigene Erfahrung bereichern muss, so dass sie aus sich selbst heraus mit der Welt in Verbindung ist. Alles andere hat wenig oder keine Bedeutung.

Hier haben wir es nicht wie in der uns bekannten Geschichte mit dem Konflikt zwischen Einzelinteresse und Idealvorstellung zu tun. Der Konflikt besteht zwischen dem Empfinden und Erleben und der Objektivität. In der Politik der Frauen kommt die angestrebte Veränderung nicht durch das Erreichen von diesem oder jenem Ziel, und keine der Vermittlungen, die eingesetzt werden, darf zu einem solchen Ziel, einer Zugehörigkeit, einer Identität, einer Pflicht oder einem Ideal werden, ohne dass ein unheilbarer Verlust entsteht, denn dadurch würde die Bewegung hin zu sich selbst aufgehalten und gehemmt, und etwas für sie Wesentliches würde verhindert werden. Es geht also um die Frage nach etwas, das Muraro zunächst einmal Freude und Genuss nennen will.

An dieser Stelle hilft Muraro das, was sie aus ihrer Erforschung weiblicher Mystik und deren Beziehung zu den Institutionen gelernt hat, die unter den Begriffen „Religion“ und „Kirche“ zusammengefasst werden. Auch die Worte der Psychoanalytikerin Manuela Fraire findet sie erhellend: „Das Wichtige ist nicht das Begehren nach etwas, sondern wichtig ist die Beziehung dazu sowie die Selbstveränderung, die durch das Begehren in Bewegung gesetzt wird.“ (zit. n. Muraro, S. 92). 

In Bezug auf die politische Geschichte der Männer ist das eine große Differenz, durch die der neue Feminismus sicher schwer zu verstehen und politisch nicht zu fassen ist, besonders für die Progressiven. Denn um verstanden zu werden, müssten wir Ziele nennen, konkret angestrebte Wünsche oder Wissensziele, wir müssten die Mittel von unseren Absichten unterscheiden und unsere Fernziele angeben können. Aber wir haben diese Ziele nicht, wir kennen sie nicht und wir wollen sie nicht ausformulieren. Es gibt an dieser Stelle ein Ausweichen, das den Frauen als Unrecht ausgelegt und das nicht als Differenz erkannt wird. Man will nicht verstehen, dass „die Frauen“ nicht um jeden Preis den Fortschritt wollen, denn um den Preis, dass sie dabei nicht zu sich selbst zurückkehren könnten, wäre das eine Deportation. Die weibliche Subjektivität strebt nicht nach Vergegenständlichung, sondern bevorzugt das unaufhörliche Hin und Her zwischen innen und außen, das manchmal wie der Versuch erscheint, eine sich erweiternde Umlaufbahn zu erschaffen, die in der Lage ist, die ganze Welt zu umarmen. „Mein Ziel ist: ich will alles“, erklärte eine Frau, die zum Thema „Mutterschaft und Erwerbsarbeit“ interviewt wurde. Und Muraro hört in dieser Aussage trotz des völlig anderen Kontextes die Stimme der „kleinen“ Thérèse Martin (der Heiligen Thérèse von Lisieux), die, als sie etwas für sich auswählen sollte, gerufen haben soll: „Ich wähle alles!“ (zit. n. Muraro, S. 93).

Es gibt etwas Unverzichtbares in dem verborgenen Bedürfnis, ohne die Trennungen zwischen Öffentlichem und Privatem, innerem Leben und Welt zu sich selbst zurückzukehren, das vieles im weiblichen Handeln charakterisiert. Der Feminismus hat das in eine politische Form gebracht. Die traditionelle politische Kultur, vor allem die progressive, konnte dies nicht erkennen oder gar anerkennen.

Vielleicht wurde noch nicht genug über das Anfangsgeschehen nachgedacht, das die letzte Welle des Feminismus auslöste: Dass Frauen sich entschieden, sich aus der Gemeinschaft mit Männern zu separieren. Das geschah nicht aus Feindseligkeit ihnen gegenüber und auch nicht aus Protest gegen die weiterhin bestehende Ungleichheit, sondern um einen Fortschritt zu unterbrechen, der eine Deportation war. Bei einer großen nationalen Konferenz in den USA mit dem Titel „Students for a Democratic Society“ verließen 1966 Frauen erstmals einen gemischten Workshop zur Frauenfrage, um sich allein zu treffen. Diese zukünftigen Protagonistinnen der Frauenbewegung, die bis dahin mit männlichen Gleichaltrigen zusammen aufgewachsen waren und Räume und Chancen geteilt hatten, entschieden sich im Weiteren dafür, autonome Frauenräume zu schaffen oder wiederzubeleben, in denen ein anderer Bezug zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Persönlichem und Politischem möglich wurde. (Muraro zitiert hier, S. 93, die Historikerin Elda Guerra). Dass das Thema des Workshops die Frauenfrage war, könnte als Auslöser gewirkt haben.

Diese Geste, sich symbolisch aus der Gemeinschaft mit den Männern zu separieren, die sich fast überall auf der Welt und in unterschiedlichsten Kontexten unzählige Male wiederholte, wurde falsch interpretiert. Es wurde behauptet, sie richte sich gegen die Männer, um wie Männer zu werden. Diese Karikatur der Feministinnen wurde in den Kampf um den Feminismus eingebracht. Muraro zufolge „hatte sie den Vorteil, bösartig, unkompliziert und naheliegend zu sein. Man konnte sie nicht loswerden, ohne zu kämpfen“ (S. 94).

Der Feminismus hielt den Prozess der Emanzipation an, um eine solche Deportation zu unterbrechen, wie Muraro sie in Bezug auf ihre Schullaufbahn beschrieben hat. Er erfand politische Vermittlungen, die dazu geeignet sind, den Weg für die einzelne Frau offen zu halten oder zu eröffnen, die ihr erlaubt, zu sich selbst zurückzukehren, so dass das kleine Mädchen, das sie einmal war, sie wiedererkennen kann. Wie Muraro schon an anderer Stelle schrieb, braucht die Erfahrung Vermittlungen, um bewahrt zu werden. Aber durch Vermittlungen, die ihren Platz einnehmen und uns die Erfahrung nicht mehr zurückgeben, uns persönlich, geht die Erfahrung verloren, und wir werden immer weiter von ihr weggeführt. Bei jenen Vermittlungen kann es sich um Politik, Wissenschaft oder Religion handeln. Muraro zufolge wäre es besser, als solche konventionellen Begriffe zu verwenden, von den konkreten Verhaltensweisen, Gefühlen, Entscheidungen und Begegnungen zu erzählen, so wie Frauen das oft tun.

Der feministische Schritt zur Seite, der sich mit dem Ereignis von 1966 ankündigte, bewirkte nach und nach, dass die historische Distanz zwischen der Erfahrung der Frauen und der der Männer entdeckt werden konnte. Und überraschenderweise erkannten sich viele, ja sehr viele Frauen sofort in jener Erfahrung wieder, nahmen ihre politische Natur wahr und gestalteten daraus ihre Politik. Dabei eröffnete sich schließlich ein Markt, ein Markt im umfassenden Wortsinne, auf dem alles gehandelt werden konnte, auch die Erfahrung, die bis dahin im Inneren verschlossen geblieben oder ins Private verbannt worden war. 

In der Bewegung von 1968 wurde zwar ebenfalls erkannt, dass für eine wahre Revolution die Verbindung von Makro- und Mikrosozialem und von innerer und äußerer Realität notwendig sei. Für Frauen ist das jedoch eine unverzichtbare Notwendigkeit. Deshalb drängen sie eben nicht nur darauf, die Geschlechterhierarchie zu verändern, sondern die Paradigmen umzukehren, die die Asymmetrie der Geschlechter falsch interpretiert haben. Das heißt, aus dem Spiel der Spiegelungen auszusteigen und tatsächliche Beziehungen zu einem Anderen möglich zu machen. Ginge es nicht darum, wäre das Hervorholen der Geschlechterdifferenz tatsächlich etwas Veraltetes und Nutzloses. Denn, wie die Frauen des Mailänder Buchladens in einer ihrer Flugschriften, dem „Sottosopra blu“, schrieben, „es ist nicht möglich, der Geschlechterdifferenz Bedeutung zu geben, ohne das Bestehende zu überschreiten und zu unterlaufen“ (zit. n. Muraro, S. 95).

Für Feministinnen war es immer schon sehr wichtig, zwischen „Frau“ und „Mutter“ zu unterscheiden und das wertzuschätzen, was eine Frau für sich allein ist. Trotzdem hatte auch die mütterliche Beziehung große Bedeutung, aber als nicht-patriarchale Beziehung einer Frau zu ihrer Mutter und als Möglichkeit, selbst Mutter zu werden. Italienische Feministinnen formulierten das so: „Eine Frau ist nicht Mutter, sie kann es werden, aber nie ganz“ (S. 96). Luisa Muraro fügte dem Folgendes hinzu: „Mit demselben Geschlecht wie die Mutter geboren zu werden, ist ein Privileg, aus dem ein weibliches „Mehr“ hervorgeht“ (ebd.). Ein äußerst paradoxes Privileg, mit dem Muraro der imposanten Offensichtlichkeit der Nachteile, in patriarchalen Gesellschaften Frau zu sein, den Fehdehandschuh entgegenwerfen wollte. (Muraro hat diesen Gedanken in ihrem ein Jahr später veröffentlichten und gerade erst auf Deutsch erschienenen Buch „Vom Glück, eine Frau zu sein“, weiter ausgeführt).

Als weniger eindrücklich, aber viel heimtückischer erwies sich jedoch ein anderer Einwand, den Muraro gern zum Schweigen gebracht hätte. Dieser kam aus den Biographien vieler, ja sehr vieler Frauen, in denen von schwierigen, sogar quälenden Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern die Rede ist. Diese Beziehungen wirken sich oft auch auf das Zusammenleben unter Frauen generell schwächend aus. Die Bedeutung dieses Aspekts der Tochter-Mutter-Beziehung beginnt gerade erst in der Literatur und im Bewusstsein von Frauen anzukommen. Es geht dabei um eine oft konfuse und falsch verstandene heimliche Auseinandersetzung zwischen einer Frau und etwas anderem in ihr, der mütterlichen Macht, die sich in der Frau, die sie zur Welt brachte, inkarniert hatte. Diese Auseinandersetzung findet in jeder Frau und außerhalb von ihr statt. Jede einzelne Frau muss zuallererst ihre persönliche Autonomie gewinnen, bevor sie selbst Mutter wird und sich damit ins mütterliche Kontinuum einschreibt. Eine Frau wird jedoch nicht zur Mutter, indem sie die Mutter (in sich und im Außen) tötet und ihren Platz einnimmt.

Die mütterliche Beziehung ist durch ein mehrfaches Ungleichgewicht gekennzeichnet (der Kräfte, der Reife, der Macht, letztlich von allem), das kein Gesetz kennt. Und das ist wörtlich zu nehmen. Es bedeutet nicht nur, dass Mütter mit ihren Kindern machen können, was sie wollen, dass sie gar nicht anders können, als das zu tun, was ihnen richtig erscheint. Und dabei erfüllen sie recht oder schlecht – mehr recht als schlecht – ihre Aufgabe, gleichzeitig Leben und Sprache weiterzugeben. Weil die mütterliche Macht ohne jede Norm ist, sprechen manche von der Gewalt, die menschliche Wesen erleiden, wenn sie zur Welt kommen und das Sprechen lernen, wegen dem Ungleichgewicht der beteiligten Kräfte und der Willkürlichkeit der Kultur, in die sie hineingeboren werden. Dabei wird jedoch übersehen, dass es eine erworbene Fähigkeit gibt, mit jener uneingeschränkten Macht zurecht zu kommen, die mit der Mutterschaft verbunden ist, eine Fähigkeit, mit der die meisten Frauen ausgestattet sind, wenn sie Mütter werden. Das Neugeborene ist nicht allein und wehrlos gegen die mütterliche Macht, übrigens auch nicht gegen die Willkür der jeweiligen Sprache, denn in der Auseinandersetzung sind Mutter und Kind zu zweit und helfen sich gegenseitig, so gut sie können. Dabei ist natürlich nichts garantiert, denn sie befinden sich in einem Reich, in dem Zufall, Notwendigkeit und Liebe heftig gegeneinander kämpfen. 

Es steht bis jetzt noch nicht in den Büchern, dass die mütterliche Macht, die nicht auf Ethik und Recht reduzierbar ist, sich auf diesem Weg trotzdem in eine Grundlage der Zivilisation verwandelt, die sich dem guten Zusammenleben der Menschen zur Verfügung stellt. Dies gelingt mithilfe der Fähigkeit von bestimmten Menschen, mehr Frauen als Männern, um sich herum Ordnung zu schaffen, ohne auf das Gesetz oder auf Machtmittel zurückzugreifen.

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Autorin: Dorothee Markert
Redakteurin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 27.01.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Ulrich Wilke sagt:

    Politik besteht aus Maßnahmen und Unterlassungen, welche Macht
    erringen oder bewahren. Macht ist die Möglichkeit, über andere zu herrschen.

    Insofern verwechsle ich nicht Politik und Macht.

  • Dorothee Markert sagt:

    Ja, lieber Uli, so sehen das wahrscheinlich die meisten Männer und auch einige Frauen. Falls dich eine andere Sichtweise interessiert, empfehle ich dir das Buch von Diotima: “Macht und Politik sind nicht dasselbe”, Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2012

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