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Hineinwachsen in mich – mein 70. Geburtstag – ein neuer Lebensabschnitt

Von Monika Krampl

Im Mai 2017 habe ich den Beitrag „Wie sich die 50-jährige das Altwerden vorstellte – und wie die 67-jährige es erlebt“ veröffentlicht. Nun schreiben wir das Jahr 2020 – was weiter geschah …

„Lebe bewusst jeden kostbaren Augenblick deines Lebens. Es wird der Augenblick kommen, von dem du niemals wissen wirst, dass du ihn erlebt hast.“ Alles begann mit diesem Satz, der mich aus dem Schlaf weckte. Und dann geschah das bis jetzt Unvorstellbare – von einer Sekunde zur anderen ohne lange Überlegungen – die Entscheidung, ich werfe meine über die Jahrzehnte geführten und gehüteten Tagebücher weg. Ein bis dahin unvorstellbarer Gedanke.

Was vorher war

Täglich versank ich mehr und mehr in meinen Erinnerungen – bei jedem Hundemorgenspaziergang merkte ich, wie ich Mühe hatte, im Hier und Jetzt zu bleiben. Wie mich die Erinnerungen überschwemmten und mitrissen wie ein reißender Fluss. Täglich versank ich in meiner Vergangenheit. In den Teilen meiner Vergangenheit, die Schmerz und Leid bedeuteten; in einer Vergangenheit, in der ich andere Entscheidungen hätte treffen können – andere Wege an den Wegkreuzungen meines Lebens hätte wählen können – und es nicht getan habe; so viele Lebenschancen, die ich nicht wahrgenommen habe, etc. etc. Die vielen „hätte“ türmten sich auf wie ein endloser Aufstieg auf einen Berg, der mir den Atem nahm. Die vielen „hätte“ – sind sie doch endlos …

Was jetzt ist

Ich sehe Sätze des Schmerzes, des Leids und der Verzweiflung genauso wie die Liebe und Freude mit meinem Sohn und meinen zwei Ehemännern; das Entdecken und Freilegen des verschütteten Selbst in den Jahren der Selbsterfahrung und Therapie; das Lernen und das Wachstum auf vielen Ebenen über die Jahre. Ich sehe zum letzten Mal meine Schrift, wie sie sich über die Jahrzehnte verändert hat; die gemeinsam geführten Tagebücher in der Zeit mit einem meiner Lebensliebsten – unser Innerstes ausgebreitet voreinander und miteinander – welch wunderbare, kostbare Zeit; die gesammelten Fahr- und Flugtickets meiner Reisen; eingeklebte Ansichtskarten und Fotos; meine Zeichnungen; und die vielen Briefe, die ich meiner Mutter geschrieben habe – wie habe ich mich an ihr abgearbeitet – mein Ringen, geliebt und gesehen zu werden (was ihr erst – aber immerhin, zwei Jahre vor ihrem Tod mit ihrer Krebserkrankung möglich war)!

Und schlussendlich bin ich sehr dankbar über all dieses gelebte Leben! Ich nehme mein aufgeschriebenes und beschriebenes Leben zum letzten Mal wahr – bevor ich die Seiten zerreiße und loslasse. Ja – darum geht es: Loslassen! Nein, ich werde nach meinem Buch „Die Erzählungen über das Älterwerden und mehr …“ (1918) nicht die geplante Biographie schreiben.

Ich lasse meine Vergangenheit endgültig los.

Und ich gehe zum Hochschrank und räume aufmerksam und liebevoll sämtliche Familienfotos weg ~ all die Verstorbenen ~ keine Vergangenheit mehr …
Jetzt nicht.
Mein Leben – mein tägliches Leben – in den wenigen Jahren, die mir bleiben.

Und ich habe noch schöne, dunkelrote Papiertragetaschen aus meinem Laden mit Kleidung und Accessoires aus Naturstoffen und Filz, den ich einmal für kurze Zeit hatte. Und in diesen blutroten Taschen verschwinden Seiten für Seiten – die mit meinem Herzblut geschriebenen Erinnerungen für Erinnerungen. Und ich binde die gefüllten Taschen an den Henkeln mit meinen schönsten Geschenksverpackungsbändern zusammen und versenke sie mit einem wehmütigen und befreienden Lächeln in der Papiertonne. Leben – mein gelebtes Leben.

Und die Regale leeren sich.
Befreiende Leere.
Druck verschwindet von meinem Herzen und aus meiner Lunge – ich kann wieder durchatmen. Luftig und leicht sehen sie aus die Regale – im Außen und im Inneren.

Ich bin dabei die Teetasse zu leeren …

Eines Tages kam eine junge Frau zu einem Meister.Sie hatte schon so viel von dem weisen Mann gehört, dass sie unbedingt bei ihm studieren wollte. Vor ihrer Reise zu ihm hatte sie alle ihre Angelegenheiten geregelt, ihr Bündel geschnürt und war den Berg zu ihm hinauf gestiegen, was sie zwei Tage Fußmarsch gekostet hatte.
Als die Frau beim Meister ankam, saß der im Lotussitz vor seinem Haus auf dem Boden und trank Tee. Sie begrüßte ihn überschwänglich und erzählte ihm, was sie bisher schon alles gelernt hatte, wie viel sie schon weiß und kann. Dann bat sie den Meister, bei ihm weiter lernen zu dürfen.
Der Meister lächelte freundlich und sagte: „Komm in einem Monat wieder.“
Von dieser Antwort verwirrt ging die Frau zurück ins Tal. Sie diskutierte mit Freunden und Bekannten darüber, aus welchem Grund der Meister sie wohl zurückgeschickt hatte.
Einen Monat später erklomm sie wieder den Berg und kam zu dem Meister, der wieder Tee trinkend am Boden saß. Diesmal erzählte die Schülerin auch von all den Vermutungen, die sie und  ihre Freunde darüber hatten, warum er sie wohl fortgeschickt hatte.
Und wieder bat sie ihn, bei ihm lernen zu dürfen.
Der Meister lächelte sie freundlich an und sagte: „Komm in einem Monat wieder.“
Dieses „Spiel“ wiederholte sich einige Male.
Es waren also schon viele vergebliche Versuche in vielen Monaten, nach denen sich die Frau wiederum aufmachte, um zu dem Meister zu gehen. Als sie diesmal bei dem Meister ankam und ihn wieder Tee trinkend antraf, setzte sie sich ihm gegenüber, lächelte nur und sagte nichts.
Nach einer Weile ging der Meister in sein Haus und kam mit einer Tasse zurück.
Er schenkte ihr Tee ein und sagte dabei: „Jetzt kannst Du hier bleiben, damit ich Dich lehren kann.“
Als sie ihn fragte, warum er sie vorher immer wieder weg geschickt hatte, antwortete er ihr: „In ein volles Gefäß kann ich nichts füllen.“
(Quelle: unbekannt)

Nein, ich werde nicht mehr erzählen, was ich alles getan und erlebt habe in meinem Leben, was ich alles weiß und kann – ich werde still sein, zuhören und weiter lernen – ich werde einfach leben, um die zu sein, zu der ich geworden bin …

Ich bin
Ich
Nichts sonst

Und ich wasche und putze und fege den Staub der Vergangenheit weg – welche Freiheit öffnet sich, welch ein Vergnügen! Ich putze nicht gerne – und nach der Überwindung des Widerwillens gegen das Putzen kommt die Freude über die saubere Leere …

Und ich denke daran, wie ich in den letzten Wochen meine Briefe unterschrieben habe – Monika und immer wieder auch Ma Prem Chandana (mein spiritueller Meditationsname) und Monika Chandana …

Und dann erinnere ich mich, wie ich in der Biographie der Malerin Paula Modersohn-Becker in ihrem Brief von 17. Februar 1906 (sie starb im November 1907 mit 31 Jahren) gelesen habe:
„Und nun weiß ich gar nicht wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker.
Ich bin
Ich,
und hoffe, es immer mehr zu werden.
Dies ist wohl das Endziel von allem unsern Ringen.“

Dankbar für das Geschenk der Jahre und nicht wissend, wie viele Jahre mir noch bleiben, hoffe ich, es immer mehr zu werden …

Und wenn ihr mich jetzt fragt, wie mein zukünftiger Weg aussehen wird – ich weiß es noch nicht – aber er ist bereits da, der Pfad …

„Tue einen Schritt
aus dir heraus,
und siehe da:
der Pfad“

(Abu Sa’id Abu’l Kayr, pers. Sufi-Dichter)

Dieser Artikel erschien auch auf dem Blog von Monika Krampl.

Autorin: Monika Krampl
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 15.02.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Susanne Voß sagt:

    Liebe Monika – Ma Prem Chandana,

    vielen Dank! Du tust mir mit diesen Deinen Worten einen großen Gefallen. Über hundert Tagebücher, alle geschrieben für den Moment, haben mir geholfen, meine Wirklichkeit zu erfahren, mich “abzuarbeiten” an den Verletzungen und mich zu heilen, durch Verstehen und Vergeben und ins eigene Sein finden. Beim Lesen in manchen Tagebüchern begegnete ich der Fremden in mir, der Weisen, immer auf der Suche nach mir selbst. Beim Umzug versuchte ich, mich von meinen Tagebüchern zu trennen, das war vor drei Jahren. Ich hatte Zweifel als ich Mehrere zerrissen hatte. Jetzt fühle ich, dass ich von diesem geliebten, gelebten Leben Abschied nehmen kann. Mit Deinen Worten wird mir die Frage in mir bewußt und ich bekomme auch die Antwort, die Freiheit bedeutet und Unabhängigkeit. Das, was das Schreiben bewirkt und ermöglicht, das geschieht und ist geschehen. Das Gewordene ist verinnerlicht. Für wen oder wozu sind die Tagebücher da? Um geschrieben zu werden. Das ist der Sinn. Durch das Schreiben erfüllt sich das Erlebte zum Eigenen. Die Dokumente des Vergangenen sind verinnerlicht, integriert. Ich habe mit dem Tagebuch begonnen mit der Absicht zu leben, mit dem Entschluss, weiter zu leben. Jetzt bin ich 71 und das Leben ist noch nicht fertig. Es war und ist eine ständige Bemühung – schreibend – unterwegs zu sein, zu mir und zu all den Anderen. Dass es eine Verbündete gibt im Tagebuchschreiben, das freut mich sehr. Liebe Grüße Susanne Ma Yogadevi

  • Johanna Helen Schier sagt:

    Herzlichen Glückwunsch! Ansonsten: kein weiterer Kommentar.
    Johanna Helen Schier

  • Edeltraut Winder-Schobel sagt:

    Liebe Frauen!
    Euer Wunsch, die Tagebücher los zu werden, kann ich nachvollziehen. Was mir aber nicht gefällt , ist, dass ihr sie zerreißen wollt. Ich finde es wichtig, sich von diesen Büchern in Dankbarkeit zu verabschieden. Sie haben euch lange Jahre einen wichtigen und guten Dienst getan. Dann könnt ihr sie ja (ev. auch nur symbolisch) kompostieren oder verbrennen, sodass die Bücher/euere Geschichte euch nährt bzw. wärmt, euch Kraft für die Gegenwart gibt und so zur Ruhe kommen kann.
    LG
    Edeltraut Winder-Schobel

  • Johanna Helen Schier sagt:

    Im vergangenen Jahr wollte eine Freundin ihre gesamte
    feministische Literatur, die sie Jahrzehnte begleitet hatte,
    abgeben, ich konnte das nicht nachvollziehen. Jetzt habe ich selbst meine feministischen Bücher aussortiert, die
    zu einem großen Teil noch aus der Unizeit (80er Jahre)
    in meinen Regalen standen. Voraussichtlich, wenn keine sie
    geschenkt will, landen sie im öffentlichen Bücherschrank unserer ländlichen Gemeinde.

  • Alle Achtung vor diesem Schritt – in diesem Alter!!!

    Im Umgang mit alten Verwandten lernte ich schon als Kind, dass alte Menschen anscheinend in der Vergangenheit leben. Das wollte ich für mich nicht.

    Im mittleren Alter begann ich, zu entsorgen – immer bei Umzügen, zunehmend auch die “Herzblut-Inhalte”, alte Briefe, Fotos, kreative Werke etc. Ich wollte durch diese Maßnahme verhindern, dass überhaupt Stoff da ist, mit dem ich “in der Vergangenheit versacken” könnte.

    Nun bin ich 65 und merke, dass ich gut daran tat, es rechtzeitig zu tun! Ich weiß nicht, ob ich es heute noch schaffen würde, soviel wegzuwerfen, wie in jüngeren Jahren.

    Dein Text berührt sehr – ich wünsche dir viele schöne Jahre in der Gegenwart!

  • Diana Engelhardt sagt:

    Danke für deinen Beitrag,Monika, ich habe einiges mit dir gemeinsam, jedoch musste ich für mich deinen Text umschreiben…Vielleicht interessiert es dich? Ich koche meinen Tee selbst und trinke ihn – mit mir und oft mit anderen Mein Gefäß ist nicht voll,es hat ein großes Fassungsvermögen. Ich verarbeite mit Hirn und Herz Erlebtes und Empfundenes.Ich verdichte es auch in Versen und Prosatexten des Schmerzes, des Leids und der Verzweiflung genauso wie die der Sehnsucht, der Liebe, der Freude und der Glücksmomente; das Entdecken und Freilegen des verschütteten Selbst in den Jahren der Selbsterfahrung und der Therapien; das Lernen und das Wachstum auf vielen Ebenen über die Jahre. Ich sehe meine Schrift, wie sie sich über die Jahrzehnte verändert hat, so wie Themen und Inhalt sich wandelten; Ich schaue in Fotoalben, sehe meine Zeichnungen und Texte an, aber mit jeweils ganz neuen Augen und Einsichten. Auch die, die ich über meine Mutter geschrieben habe – wie habe ich mich an ihr abgearbeitet – mein Ringen, geliebt und gesehen zu werden (was ihr erst – aber immerhin – kurz vor ihrem Tod möglich war)! Ich lasse meine Vergangenheit bei alledem los, indem ich sie durchschaue. Das bringt mich weiter, ich kann abhaken und freue mich über neue Erkenntnisse. Mein Leben – mein tägliches Leben – in den wenigen Jahren, die mir bleiben – dem gebe ich mich natürlich oft und ganz im jeweiligen Augenblick hin. Selbstverständlich entsorge ich auch Überflüssiges in meinem Haushalt und Leben. Jedoch das Wichtigste, langjährig Durchdachte lasse ich binden und ordne es ein. Ich möchte bis zuletzt mein aufarbeitendes Lesen und Schreiben fortsetzen um Neues zu erkennen. Ich lerne weiter daraus. Natürlich lerne ich auch von Mitmenschen, von den Erfahrungen, die ich mit ihnen mache. Ich bin ganz bei ihnen, aber nicht leer. Ich werde immer neugierig, interessiert und wissbegierig bleiben… zum Glück ist Lernen mein größtes Hobby geblieben, das Schreiben auch. Dadurch wird mein ganzheitliches Ich, welches – mein gelebtes Leben – und mein jetziges Leben – beinhaltet, immer wundervoller. Es wird bewusster, und ich schöpfe aus der Fülle. Ich nenne das Reifen. Wahrscheinlich werde ich, so reifer werdend, noch öfters stiller sein, zuhören, abwägen und reiflich darüber nachdenken. Das mag ich, denn ich habe (noch als Urgroßmutter) stets neue Aufgaben zu lösen – ich werde leben, um die zu sein, zu der ich geworden bin …auch für andere… das macht mich aus. Hoffentlich bis zum Ende.Diana Engelhardt

  • Christine Varwick zu Stirpe sagt:

    Liebe Monika,

    dein beeindruckender Beitrag erreicht mich gerade in dem Moment, wo ich mich mit “döstädning” beschäftige, der Kunst, das Wesentliche zu erkennen und mich von Überflüssigem zu trennen.
    Welch eine “Duplizität der Fälle” in meinem Leben!
    Margareta Magnusson schreibt ih Ihrem Buch, wie wohltuend die schwedische Kultur des “Döstägnings” sich auswirken kann, auf das eigene Leben aber auch auf die Leben derjenigen, die nach unserem Ableben unseren Nachlass abarbeiten werden.
    Die Autorin schreibt unter anderem darüber, die persönlichen Notizen, Tagebücher, Arbeitsbücher schon mal in Liebe loszulassen, auch als Fürsorge für die Nachwelt.
    Dein Artikel, liebe Monika, motiviert mich jetzt noch zusätzlich.
    Mein Leben wird klarer, wenn ich meine schriftlich fixierten durchgemachten Entwicklungen ziehen lassen, in Dankbarkeit und Liebe. Und meinen Kindern bleibt es später erspart, sich in meine längst unwichtig gewordenen seelischen Erdbeben hineinziehen zu lassen.
    Aufräumen und Loslassen als Akt der Liebe, für mich selbst und für meine Liebsten.
    Herzlichen Dank!

  • Dorothee Markert sagt:

    Auch ich bin gerade 70 geworden und kann viel mit Monikas Text anfangen, auch wenn ich meine Tagebücher ganz bestimmt (noch) nicht wegwerfen werde. Im Lauf des letzten Jahres hab ich mich gegen ein Buchprojekt entschieden, in dem ich die am Ende des 2. Weltkriegs geschriebenen Verlobungsbriefe meiner Eltern mit meinen Erinnerungen an unser Familienleben in den 50er- und 60er-Jahren zusammenbringen wollte. Als ich die ersten Episoden zu Papier gebracht hatte, merkte ich, dass mir der Aufenthalt in dieser Vergangenheit überhaupt nicht gut tat. Monikas Text bestärkt mich in dem Entschluss, mich von dem Projekt endgültig zu verabschieden. Mir haben gegen das Hadern über mein Leben mehrere Interviews zu meinen politischen Aktivitäten geholfen, besonders das von Juliane Brumberg hier auf bzw-weiterdenken. So kann ich meine Vergangenheit nun endlich “gut sein lassen” und mich an dem freuen, was jetzt noch kommt.

  • Diana Engelhardt sagt:

    Ihr Lieben Frauen,
    ich melde mich nochmals zu Wort, weil ich bemerkt habe, dass mein voriger Aufhänger „mich nicht leer zu machen, um mich bei Weisen belehren zu lassen“ (Wegen der Beispielgeschichte) Das war zu spontan und missverständlich formuliert, insofern ich es mit einer anderen Aussage verwoben habe. Lassen wir´s so stehen. Drum lege ich nun meinen Schwerpunkt auf meine ermunternden Erfahrungen das Hadern zu vermeiden obwohl oder gerade wegen der Vergangenheitsbewältigung durch Schreiben. Das bedeutet eben nicht „in der Vergangenheit zu leben“ und die feministische Literatur, die mich seit Jahrzehnten begleitet hat, die bearbeite und ergänze ich unentwegt, weil sie sogar meine Töchter und Enkeltöchter noch (leider) mit Gewinn lesen können. (Obwohl sie alle „emanzipierte“ d.h. helfende Partner gewählt haben: Eine Enkeldoktorandin hat sogar einen Partner, der 1Jahr Elternzeit genommen hat. Als vermutlich einziger Kapitän!) Und mein Enkelsohn ist ein echter Frauenversteher! Natürlich findet und geht jede Frau ihren eigenen Weg. Mein Weg könnte Mut machen für alle, die gern schreiben und nicht so gern wegwerfen.
    Ich bin Jahrgang 1943 und Urgroßmutter und kann versichern, dass ich mir mein gelebtes Leben – und mein jetziges Leben –.immer bewusst mache. Ich reflektiere es gern, gerade um immer wieder „Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden“ (Beurteilungssatz schon in Grundschulberichten) und schöpfe, wie schon geschrieben, aus der Fülle des Lebens und hoffe, dabei. zu reifen. Vergangenheitsbewältigung tut nur zeitweise nicht gut, aber sind wir damit voran gekommen, dann erkennen wir: „ Mist ist ein guter Dünger“. (Bauernweisheit) Wir können uns freuen, dass wir durch die Bearbeitung unseres Ackers mithilfe dieses Düngers stark geworden sind. Ich war seit 1946 meist krank. (Die Krankheit, die Teil meines Lebens wurde) Ich trug Verantwortung für meine traumatisierte Mutter. (Nur 18 Jahre älter als ich) Ich hatte eine fürchterliche erste Ehe in viel zu jungen Jahren zu ertragen, denn ich „musste heiraten“ sozusagen. (Meiner Mutter Leben und dieses Fiasko brachten mich dann zur feministischen Arbeit) und heute (obwohl früher schon als Einzelkind sehr allein) genieße ich eine große Familie und ich gebe weiterhin feministische Frauenseminare. Trotz aller Um- und Irrwege fühle ich mich gestärkt und zufrieden (Nachzulesen in meinem Buch: BLICK ZURÜCK NACH VORN Ich mach mir einen Reim auf´s Leben) Ich weiß, dass ich bis zum Ende nichts, was mir in der Vergangenheit wichtig erscheint, fortwerfe, sondern weiter überprüfe, warum ich so geworden bin wie ich bin, und – ob ich bis zum letzten Atemzug noch etwas daran verändern sollte… Ich konnte nach jeder schriftlichen Reflexion meine Vergangenheit „gut sein lassen“ und sie dankbar in mein jetziges Leben integrieren. Und der Akt des Aufräumens als Akt der Liebe, für mich selbst und für meine Liebsten, den werde ich ganz zuletzt noch gänzlich erledigen. Nachdem ich alles Unwichtige dauernd entrümple, aber Wichtiges geordnet und gebunden und verschenkt habe. Nur Mut, anere warten auch auf eure vielschichtigen Erfahrungen!
    Herzlichst Diana Engelhardt

  • Liebe Frauen,
    ich möchte mich heute für die vielen Kommentare und besonders auch für die Lebenserzählungen bedanken. Ist es doch eine wunderbare Bereicherung über die vielfältigen Lebensentwürfe und gelebten Leben von Frauen zu erfahren. Vor allem über die Vielfalt – haben wir doch verschiedene Kindheits- und Lebensgeschichten, verschiedene Verhaltensweisen und Wünsche. Vor allem aber auch sind die Erzählungen Momentaufnahmen. In den meisten Fällen wissen wir ja nicht, was und wie die Frauen vor 10 Jahren, vor 5 Jahren gelebt haben – und wie sie zu den Entscheidungen gekommen sind, über die sie gerade in dieser einen Erzählung berichten. So manches Mal macht mich dies sehr neugierig. Jedoch, auch wenn ich den Hintergrund nicht kenne, respektiere ich das jeweilige Handeln / das jeweilig Erzählte.

    Mit Schmunzeln erinnere ich mich daran, wie wir, eine Gruppe von engagierten Frauen, 1989 in Hollabrunn (für die nicht österreichischen Mitleserinnen – eine Kleinstadt im ländlichen Weinviertel in Niederösterreich), eine Frauenberatungsstelle eröffneten. Ich kam als engagierte Feministin und dachte, ich weiß jetzt wie das Leben einer Frau gehen kann – nein „muss“ – und scheiterte gnadenlos. Meine Vorstellungen hatten mit dem Leben der Frauen nichts, aber auch gar nichts, zu tun. Eine sehr wertvolle Erfahrung und Zurechtstutzung für das Thema „Vielfalt der Frauenleben und Bedürfnisse“.

    Ich bin sehr dankbar über die Erzählungen von allen möglichen Arten von gelebten Frauenleben. Ich wünsche mir, dass noch viel mehr Frauen den Mut und das Vertrauen haben, über sich zu erzählen. Und – ich bemühe mich dazu beizutragen, dass Frauen sich sicher fühlen können, indem ich mich immer wieder daran erinnere, die verschiedenen Erzählungen respektvoll anzunehmen. Möge die Übung gelingen!

    Mit lieben Grüßen Monika

    Lebe ich heute so
    wie ich gelebt haben möchte
    wenn ich eines Tages
    oder morgen
    sterbe

    (M.K., 02 11 2019)

  • Ulrich Wilke sagt:

    Ein bedeutender Schriftsteller hatte festgelegt, dass nach seinem Tod die Tagebücher zu vernichten seien. Wie gut, dass der Erbe das
    nicht getan hat!
    Eine alte Bekannte hatte mir berichtet, dass sie allen “Gruscht
    wegegeworfen hatte. Das Nächste, was ich von ihr vernommen hatte,
    war, dass sie kurz danach gestorben ist.

  • Anita Weeber sagt:

    70 Jahre welch eine tolle Zahl,dankbar für vieles schöne und auch vielem Unnötigem, beides zusammen ergibt meine Lebenserfahrung die jeder macht uneingeschränkt, das ist so gewollt um das Gesamtbild eines Menschen zu vollenden. Wir müssen nicht alles entsorgen, was uns ausmacht, Bücher, Briefe und Fotos. wenn es für meine Kinder keine Bedeutung hat, sollen sie einen Kontainer bestellen, jetzt ist es noch bei mir

  • Barbara Lansen sagt:

    Liebe Frauen, liebe Monika Krampl,
    wunderbar in Euren Zeilen zu lesen, Euren Gedanken zu folgen und mit dem Eigenen verbinden zu können.
    Auch ich habe viele Tagebücher. Gerne möchte ich dazu schreiben: sie sind mir wertvolle Hilfe und gute Unterstützung in meinem immer noch andauernden Entwicklungsprozess. In den meisten Fällen am Tag lebe ich im >hier und jetzt<. Doch das beinhaltet bei mir auch, das ich vieles nicht mehr parat habe, vergesse. Insofern benötige ich sogar meine Tagebücher, um an
    E- Prozesse anschließen zu können.
    Ich wünsche Euch allen weiterhin gutes Gelingen.
    Herzlichst, Barbara

  • Gauri Shankar Gupta sagt:

    Jiddu Krishnamurti: Das Leben beginnt, wo das Denken endet

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