beziehungsweise – weiterdenken

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Rubrik denken

Ein gutes Leben für alle erfordert ein neues Zukunftsdenken und Zukunftssprechen.

Von Anne Newball Duke

Mit großem Interesse verfolge ich die Debatte um den Begriff der Frau; nicht erst, seitdem sie wieder neu hochkocht. Dies ist ein weiterer Diskussionsbeitrag zu denen von Jutta Pivečka, Antje Schrupp, Dorothee Markert und vielen anderen.

“Nichts im Bereich von Genderdiskursen ist wahr oder falsch, sondern es geht beim Sprechen über Geschlecht(er) darum, was wir wollen, was wir als sinnvoll erachten für das gute Leben aller.” (Antje Schrupp in Schwangerwerdenkönnen (2019), S. 154)

Mir liegt viel daran, diesen Punkt in der Debatte noch einmal stärker zu machen.

“Ich bin mein Körper, etwas anderes bin ich nicht”, sagt Jutta Pivečka in einem der Diskussionsbeiträge. Ich würde zustimmen, dass ich auch mein Körper bin. Und aus diesem Grund – angeregt durch Ilan Stephani – beginne ich gleich heute damit, meinen Körper in meine Körperin sprachlich umzugendern und fühle mich gleich mehr in mir zu Hause. Meine Körperin nun besitzt aber auch die Fähigkeit, mich mit anderen Menschen in Beziehung zu setzen, kann gerade über die Sprache mit anderen Menschen in Beziehung treten. Meine Körperin ist fähig, Empathie für andere Menschen zu empfinden. Es gibt nicht nur ein “Ich- bin” sondern auch ein “Aus-mir-heraus”, ein “Von-mir-aus”, was mir ermöglicht, auch andere Dinge als nur mich selbst zu sehen, zu denken, zu fühlen. Sonst würde ich ja das Begehren “eines guten Lebens für alle” nicht haben können.

Dieses Begehren ist hochpolitisch. Ich persönlich finde ja, jede/r sollte es haben. Ich persönlich kann nicht begreifen, dass andere es nicht haben. Mit Julia Fritzsche habe ich letztens überrascht festgestellt, dass uns beiden ein sehr stark ausgeprägtes Mitfühlen mit den Kindern in einem “geografisch weit entfernten” Krieg innewohnt (ich kann “weit entfernt” nur in Anführungsstriche setzen, weil… was auf dieser runden Welt ist schon “weit entfernt”; ab wann einer etwas als “weit entfernt” gilt, ist so relativ; abhängig vielleicht auch von der Größe des je eigenen Empathieradiusses). Uns geht das Leid so nahe, dass es uns nachhaltig verstört. Gerade Nachrichtenbilder aus Kriegsgeschehen hängen viele Tage wie Blei in mir fest und bestimmen oft über Wochen viele meiner Emotionen und Gedanken. Für mich war das Teilen dieser Empfindung tatsächlich etwas Neues. Wir dachten dann weiter darüber nach. Wie viele von uns sind wir, die so empfinden? Braucht es vielleicht gerade so ein Fühlen für andere und mit anderen, um ein gutes Leben für alle zu wollen und sich also auch aktiv dafür einzusetzen?

Ich jedenfalls habe dieses Ziel, und dieses Ziel liegt in einer noch nicht festgeschriebenen Zukunft. Und da es also durch und durch politisch ist, denkt und fühlt und lebt und atmet und bewegt sich meine Frauenkörperin zutiefst politisch und ist zudem in die Zukunft gerichtet. Somit ist es für mich zum einen gar nicht möglich, in einem auf mich bezogenen Frausein nur eine “biologische”, aber natürlich auch keine nur “politische” Dimension zu erkennen. Das Politische fließt durch meine Adern, es pulsiert in meinem Herzen, pumpt in meiner Lunge, es weint oder kotzt sich manchmal aus usw. usf. … alles zutiefst körperinliche, biologische Prozesse. Deswegen finde ich persönlich vielleicht zu dem Gedanken “einfach nur biologisch Frau sein” keinen Zugang.

Ich sehe einfach nicht, wie Frauen in einer immer noch patriarchal-kapitalistisch geprägten Gesellschaftsordnung “einfach nur biologisch Frau sein” können. Und ich sehe auch nicht, wie mir dieses Denkkonstrukt die Freiheit gibt, (fast) alles tun können. In mir kommen da nur ganz unschöne Bilder sich unterordnender Frauen auf. Versuche ich es also andersrum: Wenn ich “einfach nur biologisch Frau sein” könnte, dann würde ich bereits in einer macht- und hierarchiefreien Gesellschaft, also in einer guten Zukunft leben. Und dann wäre wiederum fraglich, ob ich mich dann überhaupt noch als Frau definieren müsste.

Wenn ich sage, “ich sehe … nicht”, dann ist es also eine Frage der Art und Weise, wie ich auf die Welt blicke. Wenn es mir – ich versuche mich jetzt, in dich, Jutta, hineinzuversetzen – möglich ist, Freiheit zu entwickeln aus der Kenntnis, dass Frausein nur eine biologische Kategorie ist… dann schwappt in mir spontan ein Wunsch hoch: Ich würde gern mindestens eine Woche im Monat, in der emotional und kreativ und gedanklich und körperinlich alles drunter und drüber geht, gern keine Anforderungen der Gesellschaft und der Familie an mich erfüllen, weil ich da eigentlich schon genug mit mir als meiner Körperin zu tun habe. Und wenn wir schon beim Wunschkonzert sind: Ich würde wahrscheinlich generell sowieso nur noch das tun und geben wollen, was ich gern tue und gebe. Das kann ich aber nicht einfach tun. Ich kann mich nicht eine von vier Wochen einfach ausklinken, ich kann nicht nur tun und geben, was ich tun und geben will. Schon allein, weil immer money on my mind und im Portemonnaie sein muss. Also was meinst du, Jutta, was kannst du tun? Ich möchte es wirklich verstehen. Ich habe in der Diskussion gemerkt, dass ich wirklich Schwierigkeiten habe, es tief in mir zu verstehen, was du meinst.

Der zweite Gedanke ist sodann, und er ist wirklich sehr sehr stark: dass diese Möglichkeit, (fast) alles tun zu können, nur weil diese Erkenntnis des “nur biologischen Frauseins” durch mich geschwappt ist, ein Privileg ist. Denn wie viele Frauen haben – trotz dieser Erkenntnis – nicht einfach die Möglichkeit, (fast) alles zu tun, was sie mögen? Und da grüßt sie schon wieder: die politische Dimension.

Die politische Dimension

Ich bleibe zunächst bei der politischen Dimension, später komme ich noch zur guten zukünftigen.

Warum denke ich als meine Frauenkörperin politisch? Warum denke also ich als Frau politisch? Vielleicht, weil ich mir meiner Privilegien so bewusst bin. Bevor ich nichts von ihnen wusste, war das Leben leichter. Jetzt ist es schwer, ein ständiges schlechtes Gewissen nagt an mir. Wie werde ich das los? Indem ich mir meiner Verantwortung bewusst werde, die leider mit diesen Privilegien mitgeliefert wurde. Ich würde diese Verantwortung gern nicht haben. Oder gern nichts von ihr wissen. Denn es gibt ja so viele Möglichkeiten, sie falsch zu benutzen, ihrer nicht gerecht zu werden, es ist irgendwie immer ein Von-oben-nach-unten, es kostet jedenfalls viel viel Mühe, dass es das nicht ist, und das finde ich per se problematisch an der Verantwortung. Privilegien und somit (gewusste und dann entweder angenommene oder eben verdrängte, oder aber ungewusste) Verantwortung sind den oberen Hierarchiestufen inhärent. Warum und wie entstand nun einst die hierarchische Gesellschaft? Eine der großen Fragen der Menschheit.

Eine hierarchische Gesellschaft jedenfalls braucht zweifelsohne Kategorien. Von Beginn an, so scheint es, war da die Ordnung der Geschlechter. Mit ihr können Hierarchien am besten etabliert und bewahrt werden; alle anderen Kategorien kommen schon weit weniger “natürlich” daher, sind aber natürlich auch sehr wichtig, denn die Mischung macht’s (zu gender kommen ja noch class und race… und noch so einige andere hinzu). Je nachdem, in welcher Kategorienmischung mensch daherkommt, muss Mensch zeit seines Lebens für minimalste (Menschen-)Rechte und Freiheiten kämpfen oder die “Unterordnung” akzeptierend sein Glück suchen. Oder Mensch wurden – in eigener Anstrengung oder der anderer – bereits viele Rechte und Freiheiten erkämpft, oder aber Mensch wurden diese schon immer zugesprochen. Gerade letztere/r neigt dazu zu glauben, andere würden “ihre”/”seine” Rechte und Freiheiten auch schon längst bewohnen (können, wenn sie nur wirklich wollten), oder es gäbe “gute Gründe”, dass sie es nicht tun. Die patriarchal durchtränkte neoliberale Ideologie hilft diesem Glauben ganz arg.

Wo die Kategorie Frau nun hierarchisch eingeordnet ist, das zeigt sich ja auch in den Texten und Kommentaren in dieser Debatte: immer wieder fallen die Worte “Kampf” und “Schmerz” und “Stolz” und “Eroberung” und “Kränkung”, “leiden”, “Gehör finden”, “Trost”, “erlittene Entwertung und Misshandlung unserer Körper”, “Macht und Hierarchie”, “Normalsein”. Wie kann also Frausein nur biologisch und nicht politisch sein? Geht das überhaupt?

Ich habe begonnen, Natalie Angiers Buch zu lesen. Und ich lese es – obwohl ich noch nicht über die Einleitung hinaus bin, aber vielleicht gerade wegen dem, was sie hier schreibt – als zutiefst politisches Buch. Auch sie kämpft doch, auch sie bereitet Grund für neue wichtige Körper*innengedanken in den Leser*innen. Sie schreibt darüber, was bisher ungesagt oder verborgen oder verzerrt oder vergessen worden war, damit wieder mehr Menschen präzisere Analysewerkzeuge zu Gedanken und Gefühlen und Emotionen und Sprachentwicklung, den eigenen, aber auch andere Körper*innen betreffend, bekommen und noch tiefer “in erster Person nach Worten suchen” (Luisa Muraro) können. Ihre Motivation ist eine politische, das lese ich ganz klar in den ersten Seiten heraus.

Und hier entfaltet sich mir ein Zusammenhang zwischen Natalie Angiers Arbeit und dieser Debatte: Sind es nicht gerade solche Analysewerkzeuge, wie Natalie Angier sie uns zur Verfügung stellt, die es uns ermöglichen, Probleme und Herausforderungen und bisher ungelöste Denkfragen eben besser, weil präziser und gerichteter zu bearbeiten? Wenn es also gerade thematisch um die Menstruation geht, dann warum nicht gezielt “Menschen mit Menstruationshintergrund” (leicht angeschnippelter Titel eines ZEIT-Artikels von Christine Lemke-Matwey in der ZEIT vom 25.06.2020, S. 43) ansprechen? Noch erstaunter war ich dann, als ich den Artikel las, auf den Joanne K. Rowling hier den nun allseits bekannten Tweet abgegeben hatte. Der Titel des Artikels von Marni Sommer, Virginia Kamowa und Therese Mahon ist: “Creating a more equal post-COVID-19 world for people who menstruate“. In dem Artikel werden mit “girls, women and gender non-binary persons” oder auch “girls, women an all people who menstruate” genau jene Menschen angesprochen, die auch in Zeiten der Pandemie unbedingt Zugang zu den “basic services, particularly in low-income countries” im Bereich “menstrual health and hygiene” benötigen.

Es ist einfach großartig und sollte uns glücklich stimmen, dass hier ALLE! Menschen Hilfe bekommen (sollen), die menstruieren! Wie kann denn hier bitte Anstoß daran genommen werden, dass durch ein so wohlüberlegtes Verwenden der Begriffe “Mädchen”; “Frauen” und “Menschen, die menstruieren”, genau die Menschen angesprochen und mitgedacht werden, die angesprochen und mitgedacht werden müssen? Was bringt es einer Datenerhebung in diesem spezifischen Bereich, wenn alle Frauen gezählt werden, davon aber ein nicht unerheblicher Teil ja gar nicht mehr menstruiert; und zum andern aber Mädchen und Menschen mit nichtbinären Geschlechtsidentitäten nicht einbezogen werden?

Wir sollten froh sein, dass dies endlich geschieht, wir sollten dankbar sein für eine Sprache, die in der Hinsicht immer präziser wird und endlich – da in Sprache und aktivem Handeln inkludiert – Menschen sichtbar macht und in medizinischer Hinsicht mitdenkt und dadurch sodann der Grundstein dafür gelegt ist, dass alle Menschen, die menstruieren, auch ausreichend versorgt werden.

Ich kann daher den Anstoß von Joanne K. Rowling an dieser so wohlüberlegten begrifflichen Differenzierung (die leider von den drei Autorinnen nicht ganz durchgängig und kohärent beibehalten wird) tatsächlich nur als Lust auf eine gezielte Suche nach Möglichkeiten und Aufhängern für eine Provokation der “Queer-Fraktion” lesen, und gleichzeitig auch als eine Unlust, sich mit den Kämpfen anderer um Hör- und Sichtbarkeit überhaupt nur beschäftigen zu wollen. Letzteres ist ja okay (ich persönlich finde es nicht okay, aber das fällt wohl unter Demokratie und Meinungsfreiheit), aber nicht in Verbindung mit ersterem. Wirklich und ganz ehrlich: Keine will hier irgendeiner ihren hart erkämpften Begriff wegnehmen oder sie unsichtbar machen; eben ganz im Gegenteil: Es sollen jene Menschen sichtbar gemacht werden, die sonst vergessen worden wären, und das sind eben in diesem ganz spezifischen Fall gerade nicht nur Frauen! Ich möchte kurz alle, besonders jene Frauen, die hier Anstoß nehmen, bitten, mit mir ein kurzes Empathie-Experiment durchzuführen: stell dir vor, du bist ein trans Mann, der menstruiert: Wie fändest du es, wenn dir keine medizinische und sonstige mit Menstruation zusammenhängende Versorgung zukommt, weil du einfach in den Studien, die eine diesbezügliche Bestandsaufnahme machen, gar nicht mitgedacht wirst? Wie fühlt sich das an?

Wenn wir ein gutes Leben für alle wollen, dann schließen sich hier weitere Fragen an: Wie könnten sich denn Menschen, die sexuelles Begehren und/oder Gender- und Geschlechtsidentitäten jenseits der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit bewohnen, zeigen, ohne neue Kategorien zu eröffnen? Gibt es denn andere Möglichkeiten als die, über neue Kategorien eine Veränderung im öffentlichen Bewusstsein zu erreichen und Identitäten und Beziehungen sicht- und hörbar und mitdenkbar und versprachlichbar zu machen, die vorher unbenannt und (nicht immer, aber oft) unerkannt in the margins existierten? Just for the record: Wir befinden uns immer noch in einer hierarchischen Gesellschaft, in der weiterhin gerade in der Körper- und Biopolitik eine massive Kontrolle und Disziplinierung stattfindet. Ich sehe ehrlich gesagt keinen anderen Weg, als dass wir alle uns gemeinsam und behutsam, angeleitet von den jeweils Bedürfnisse und Begehren Mitteilenden, da hindurchtasten und ausprobieren, was ihnen innen wie außen passt und was nicht.

Die “Fraktion” – es sind ja leider Fraktionen, anders kann mensch das ja nicht nennen, aber vielleicht lösen wir die ja endlich bald mal auf – um Joanne K. Rowling sagt grob vereinfacht zum einen: “Bitte keinen neue Begriffe mehr, denn es gibt schon einen.” Dieser Aussage ist zudem inhärent, dass es irgendwie auch schon zu viele (verwirrende) Begriffe gibt. Und dann gibt es zum anderen noch die Aussage, dass bestimmte Menschen “nicht ganz Frau” sind, da sie es nicht von Geburt an gewesen sind, bestimmte Kämpfe nicht gekämpft haben usw. usf. Und diese eignen sich nun den Begriff an. Darunter sind eventuell sogar noch solche, die sich vielleicht gerade einfach nur einen Rock aus Jux und Dallerei anziehen. Sie tun dies, um die “richtigen” Frauen zu ärgern, indem sie in ihre Schutzzone eindringen. Ich glaube wirklich, dass ein solches, als gewaltvoll empfundenes Eindringen geschehen ist und es auch vielfach geschieht. Das aber wirklich Traurige daran ist, dass es hier zu keiner Kommunikation, die in einem gegenseitigen Verstehen mündet, kommt. Und das denke ich immer und immer wieder: Viel zu wenig Kommunikation, an allen Ecken und Enden und von allen Seiten zu wenig Verständnis und Verstehen aufgrund von zu wenig gelingender Kommunikation. Joanne K. Rowling zum Beispiel wollte hier keine Kommunikation entstehen lassen, sie wollte “ihre” Leute befriedigen und die “anderen” vor den Kopf stoßen. Was hart ist, weil ja so viele von diesen “anderen” sich ja lange bei ihr zu Hause geglaubt haben.

Seit drei Tagen versuche ich, mich in diese beiden Aussagen hineinzubegeben, sie in irgendeiner Art zu verdauen, damit ich sie zumindest kurzzeitig fühlen und verstehen kann. Aber mir, meiner Körperin ist das zu viel Exklusion. Ich spucke diese Aussagen einfach immer wieder aus. Denn für mich zählt das Begehren und die Bedürfnisse anderer Menschen, die nicht ich selbst bin. Sie sind mir nicht egal. In gewisser Weise haben alle, egal, ob und wie sie sich marginalisiert fühlen und gelitten haben und Schutzzonen suchen usw. usf., mit mir zu tun. Sie sind nicht das “andere”, sie sind nicht abkoppelbar von mir.

Ich halte die innerfeministischen Grabenkämpfe für eine absolute und traurige Energie- und Emotionenverschwendung. Lieber ins Gespräch kommen, Ziele und Begehren klar formulieren und basierend auf funktionierenden Beziehungen gemeinsam schauen, für welche es sich wirklich lohnt zu kämpfen. Grabenkämpfe fixieren meines Erachtens einen Status quo, der letzten Endes am wenigsten den Grabenkämpfenden zugutekommt.

Die Frauenbewegung hat es Frauen ermöglicht, stolz und selbstbewusst und glücklich eine Frau zu sein, sich Frau zu nennen, egal ob verheiratet, lesbisch oder sonstwas. Aber der Kampf für gender- und geschlechtsbezogene Freiheit ist eben noch nicht zu Ende; das kann er ja gar nicht, so lange unsere Gesellschaftsform eine patriarchal-kapitalistische ist. Und ich denke nicht, dass das Patriarchat mal in dem einen Bereich da ist und in dem anderen nicht. Dazu gibt es bereits so viele Forschungen und Studien. Nur weil eine bestimmte Biopolitik gerade nicht gewaltvoll auf meine Körperin einwirkt, heißt das ja nicht, dass dieselbe Biopolitik gerade zur selben Zeit auf viele andere Körper*innen in unterschiedlichen Ebenen und Bereichen massiv einwirkt. Und das ist zumindest mir nicht egal. Warum ist es mir nicht egal? Weil mein Freiheitsbegehren das Freiheitsbegehren anderer einschließt. Das ist einfach so. Ich kann und will es nicht ändern. Das heißt im Klartext: ich fühle mich und meine Körperin nicht frei, solange ich andere Körper*innen nicht frei weiß. Also wirkt diese Biopolitik über diesen “Umweg” auch wieder auf meine Körperin ein.

Die zukünftige Dimension

In einem Begehren drückt sich die Sehnsucht nach einem “Mehr” aus, das – so würde ich gern die ABC-Definition (Anne-Claire Mulder u.v.a.: ABC des guten Lebens (2012, S. 35ff.) auffüllen – dann in gewisser Weise immer auch in die Zukunft weist. Mit einem Begehren befinden wir uns also oft in der vorhin bereits angesprochenen zukünftigen Dimension.

Gut wird die Zukunft für mich, wenn ich meinem Wünschen und Wollen näherkomme, dass alle Menschen ein gutes Leben haben. Ich werde dies “zu meinen Lebzeiten” wohl nie erreichen. Dennoch steuere ich es an. Ich kann es aber nicht allein. Andere müssen auch für dieses Begehren brennen oder es aktiv unterstützen; auf je eigene Art. Aber eigentlich nicht nur einige andere, sondern eigentlich alle müssen ein gutes Leben für alle wollen. Alle müssen also dasselbe Begehren haben. Die Wege dahin können sehr unterschiedlich sein. Unterschiedlich, aber kommunizier- und verstehbar für alle. Wie geht das? Für mich beginnt es – neben dem bereits erwähnten Willen zur Empathie – damit, die Fähigkeiten und Potenziale des Wechselverhältnisses von Sprache und Wirklichkeit neu auszuloten.

In der Debatte verdeutlichten Jutta Pivečka und Antje Schrupp auch, wie Sprache und Wirklichkeit für sie miteinander verknüpft sind. Jutta Pivečka sagt, Sprache sei für sie “in erster Linie ein Zeichensystem, das versucht Wirklichkeit abzubilden, nicht Wirklichkeiten zu schaffen”. Und sie ergänzt: es komme darauf an, wo man den Akzent setzt. Eine veränderte Sprache schaffe häufig keine neuen Wirklichkeiten, sondern eine veränderte Wirklichkeit bringe eine andere Sprache hervor. Und Antje sagt, sie glaube “auch nicht daran, dass Sprache neue Wirklichkeiten schafft, sondern dass sie eher darauf reagiert, wenn neue Wirklichkeiten eine andere Sprache erfordern”. Hier wurde mir klar, dass mein Anspruch an die Verknüpfung von Sprache und Wirklichkeit doch darüber hinausgeht. Ich meine, dass Sprache auch fähig ist, zukünftige Wirklichkeiten auszupinseln. Und dass wir sie endlich selbstbewusst und aneignend und in diesem Sinne verstehend nutzen sollten.

Seit ich Marge Piercys Frau am Abgrund der Zeit (1976) gelesen habe, weiß ich das für mich sicher. In meinem ersten Artikel auf bzw – weiterdenken hatte ich bereits ein Zitat aus diesem feministischen Science Fiction-Roman angebracht: Hier erklärt ein weiblicher Zukunftsmensch der utopischen Reisenden aus der (fiktiven) Jetzt-Welt, warum es in ihrer Welt, also in der von morgen, nur noch Bruthäuser gibt und keine Schwangeren und somit auch keine Gebärenden mehr. Unweigerlich befinde ich mich nun in dem Dilemma der “engen symbolischen Verflochtenheit von Reproduktion und Geschlecht” (Antje Schrupp, Schwangerwerdenkönnen (2019), S. 14). Aber ich glaube, an dem Beispiel dennoch am besten herausarbeiten zu können, um was es mir geht, denn vielleicht ist ja die Verflechtung nicht nur symbolisch, sondern ganz real:

“Das war Teil der Revolution der Frauen, die die alten hierarchischen Strukturen zerbrochen hat. Am Ende war da die eine Sache, die wir auch aufgeben mussten, die einzige Macht, die wir jemals besessen hatten, im Austausch für keine Macht für niemand. Die ursprüngliche Form der Reproduktion: die Macht, Kinder zu gebären. Denn solange wir biologisch in Ketten lagen, konnten wir niemals gleich sein. Und die Männer konnten niemals so weit humanisiert werden, dass sie Liebe und Zärtlichkeit entwickelten. Also wurden wir alle Mütter. Jedes Kind hat drei. Um die Fixierung auf die Kleinfamilie zu unterbinden.” (Marge Piercy, Frau am Abgrund der Zeit, S. 125)

Seitdem denke ich über diese mögliche zukünftige Kategorienlosigkeit in Bezug auf Gender und Geschlecht nach. Ist sie gut? Ist sie schlecht? Freiheit für wen? Auf Kosten von wem und welcher Freiheit? Was bedeutet es, als ein Mensch, der schwanger werden kann, die Freiheit der Schwangerwerdenkönnens zu verlieren? Wäre es nicht beispielsweise viel besser, alle Menschen könnten schwanger werden? Marge Piercy schrieb diesen Roman u.a. in dem Inspirationsfeuer von Shulamith Firestones The Dialectic of Sex (1970). Für Firestone ist Schwangerwerdenkönnen das Kriterium dafür, wie wir Freiheiten sowie aber auch Arbeit gesellschaftlich “verteilen”. Sie arbeitet in dem Buch den Denkfehler in Engels’ ausschließlich ökonomischer Definition des historischen Materialismus heraus, in welchem er davon ausgeht, “dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird.” (Shulamith Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution ([1970] 1975), S.11f.)

Firestones Neufassung der Definition, der nun die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zum Zweck der Reproduktion als Entstehungsursache der Klassen zugrunde liegt, sieht so aus:

“Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satz aus, dass die Dialektik der Geschlechter die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist: Die Gliederung der Gesellschaft in zwei biologisch unterschiedene Klassen, und die Kämpfe dieser Klassen gegeneinander; die Veränderung in den Bedingungen von Ehe, Fortpflanzung und Kinderaufzucht, und die erste Arbeitsteilung auf der Grundlage der Geschlechter, die sich dann zum dem ökonomischen und kulturellen Klassensystem weiterentwickelt, sind die Triebkräfte aller historischen Ereignisse.” (ebd, S.18)

Und jetzt erst hat ihrer Analyse nach Engels’ Darstellung der Ergebnisse des materialistischen Geschichtsansatzes an Realität gewonnen:

“Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle des Menschen, die zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden.”(ebd, S.19)

Was Marge Piercy nun macht, ist, in Romanform durchzuspielen, wie es wäre, wenn die Gesellschaft sich der Dialektik der Geschlechter entledigte. Bevor der Aufschrei ertönt, möchte ich gleich den Zunder etwas rausnehmen: Es geht mir hier nicht um ein Richtig oder Falsch, sondern darum, dass ein solches Gedankenspiel uns aus einer gedanklichen Sackgasse befreien kann.

Als ich mich in Piercys Utopia hineinbegab, empfand zumindest ich große Freiheit. Für alle Menschen, die in einer solchen Zukunft leben. Hier gibt es keine Männer und keine Frauen und auch keine sonstigen gender- und geschlechtsbezogenen Kategorien mehr. Die Zukunftsmenschen wissen zwar um sie, durch ihre Beschäftigung mit der/den Geschichte(n). Aber es ist für sie und ihre utopische Gesellschaftsform in dem Sinne eine abgeschlossene Vergangenheit, als dass diese gender- und geschlechtsbezogenen Kategorien sich als falsch erwiesen haben, da sie Macht und Hierarchien etablieren und festigen. Aber auch in Marge Piercys Utopia ist diese Gesellschaftsordnung ständig bedroht, denn anderswo auf der Welt existiert ein extrem patriarchales Gesellschaftsmodell weiter, und beide Gesellschaftsordnungen befinden sich in kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Zukunftsmenschen sagen der Zukunftsreisenden deshalb immer und immer wieder: du musst bereits etwas tun, damit es uns geben kann! Wenn du den Kampf gegen patriarchale Unterdrückung, gegen Misogynie, Androzentrismus, Kapitalismus etcpp. aufgibst oder gar nicht erst aufnimmst, dann wird es uns nicht geben. Also Kämpfe! Tu es, damit zukünftige Mütter nicht wie du – doppelt und dreifach marginalisiert aufgrund von race, class und gender –  aus Mutlosigkeit, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit den Impuls in sich verspüren, ihre Tochter schlagen! Tu es, damit in Zukunft keiner Frau wie dir mehr ihre Tochter durch staatliche Gewalt entrissen wird! Tu es für all die Kinder der kommenden Generationen!

Als in dem Roman eine der Zukunftsfiguren, die der Zukunftsreisenden eher wie ein Mann erscheint, seine milchvolle Brust hervorholt, um als eine Mutter ihr Baby zu stillen, da durchströmte mich ein unbekanntes warmes Gefühl. Ich bemerkte wieder mal, dass mein Freiheitsbestreben nicht nur mich und alle Frauen umfasst, sondern einfach alle Menschen. Ich musste daran denken, dass mir ein Vater zweier Kinder einmal sagte, dass er – immer wenn seine Frau die Kinder stillte – eine solche Sehnsucht, ein solches Begehren empfunden hatte, dies auch zu können, diese Nähe und Verbundenheit spüren zu können; so sehr, dass er auch in unserem Gespräch – seine Kinder sind bereits groß – wieder emotional sehr bewegt war. Und ich fragte mich: Warum sollte das Schwangerwerdenkönnen, das Stillenkönnen, eigentlich nur den biologischen Frauen “im richtigen Alter” vorbehalten sein? Und schon befand ich mich im Roman und bei Shulamith Firestones radikalen Forderungen, dass wir die Möglichkeiten der Technologie doch bitte dazu nutzen sollten, diese biologische Differenz abzuschaffen.

Jetzt ist es aber wichtig zu verstehen, dass Marge Piercy ihre Zukunftsmenschen in eine dafür ideale Gesellschaft setzt: Frauen gaben “die einzige Macht, die sie jemals besessen hatten, im Austausch für keine Macht für niemand”. Diese Menschen leben in einer macht- und hierarchiefreien Gesellschaft. Freiheit entspringt hier einer gender- und geschlechterbezogenen Kategorienlosigkeit.

Sprache also bildet für mich beileibe nicht nur die Wirklichkeit ab. Denn für eine wie mich, die von ihrem Hier- und So-Sein aus ständig den Blick in die Zukunft wirft, muss Sprache Zukunftssprechen ermöglichen, sonst würde mein Denken verkümmern und ich mit ihm. Geht es nicht genau darum, wenn Luisa Muraro sagt, wir alle müssen “in erster Person nach Worten suchen”? Warum sollte diese Suche denn nur in die Vergangenheit und die sogenannte Gegenwart (an deren Existenz ich sowieso immer mehr zweifle; einige Physiker*innen geben mir hier recht) gerichtet sein? Ist ein großer Teil unseres Sprechens nicht sowieso schon immer in die Zukunft gerichtet? Tun wir nicht vielmehr merkwürdig schizophren nur so, als “ginge das ja gar nicht”, und “deswegen machen wir es auch nicht”, also… obwohl wir es machen? Hier beißt sich die Ratte selbst in den Schwanz. Das Bilderverbot – sicher nicht der einzige Grund, aber sicher ein wichtiger – hat uns auf vielen Ebenen die zukunftsgerichtete Denkfähigkeit eingeschnürt und verkorkst, das merke ich immer mehr.

Wir alle müssen Zukunftssprache entwickeln, wenn unser Ziel – so wie der Titel der letzten Denkumenta – “ein gutes Leben für die ganze Welt” ist. Wie sonst sollte es möglich sein, gute Zukünfte zu konstruieren und anzustreben? Und dafür bedarf es Worte, dafür bedarf es einer Sprache, noch bevor es die passende Wirklichkeit dafür gibt. Denn zukünftige Wirklichkeitsentwürfe müssen kommunizierbar sein.

Die Aneignung der Zukunft hin zu einem guten Leben für alle könnte für mich auch die Loslösung von Hierarchien und den damit verbundenen gender- und geschlechtsbezogenen Kategorien beinhalten. Das müsste und würde ich halt gern diskutieren. Ich rede damit nicht die Frauenbewegung klein – bitte nicht falsch verstehen, denn sie ist für mich ein riesiger und einer der wichtigsten Kämpfe/Schritte überhaupt hin zu einem guten Leben für alle. Ohne sie wären wir noch ganz woanders, ich bin so voller Dankbarkeit für all die Kämpfe, die bereits geführt wurden und mir beispielsweise so viele Freiheiten geschaffen haben (auch wenn ich als in der DDR Geborene und Sozialisierte finde, dass die jeweiligen Ost- und West-Frauengeschichte(n) zukünftig noch bewusster und fruchtbarer und verständnisvoller miteinander verbunden werden könnten). Lernen können wir immer noch. Ausruhen gilt nicht. Die Herausforderungen sind nicht kleiner geworden.

Und wir können lernen, genau zu lesen und unsere Emotionen, unsere Gefühle, unsere Energie gezielt für Kämpfe einzusetzen, die richtig und wichtig sind. Denn es war ja ganz sicher nicht das Ziel jener drei Journalistinnen, die Kämpfe und Bewusstwerdungsprozesse der Frauenbewegung unkenntlich zu machen; ihr Artikel wurde vielmehr für einen billigen Grabenkampfmove benutzt. Die durch diesen unehrlichen Move entstandene Verschiebung, Verzerrung und Vernebelung von Ursache und Wirkung vom Grunde her ernster und wahrhaftiger Anliegen kann nur entwirrt und entnebelt werden, wenn nach dem Ziel, nach den wahren Bedürfnissen und dem Begehren gefragt wird.

Ob ich nun denn bereit gewesen wäre, auf das Schwangerwerdenkönnen zu verzichten, wenn ich dieses Beispiel schon so in die Diskussion werfe? Ich kann das gern für mich beantworten: Ich hätte nicht darauf verzichten wollen, natürlich nicht. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich es mir – mich in eine/n Zukunftskörper*in imaginierend – vorstellen könnte, wenn ich also ein Mensch der Zukunft wäre, die in einer Welt lebt, wie Marge Piercy sie entworfen hat. Alles in allem aber können das wirklich nur Menschen der Zukunft beurteilen, deren Leben auf dem Leben vorheriger Menschen aufbaut, die einen solchen Weg überhaupt gangbar gemacht haben und damit eine solche Wirklichkeit überhaupt Wirklichkeit haben werden lassen. Aber ich glaube tief und fest an folgendes: Verzicht (alle verzichten auf Schwangerwerdenkönnen “durch die kommende feministische Revolution im Zeitalter der Technologie” (Firestone, S. 21) sowie aber auch ein Mehr (alle, die das wollen, können durch eine solche Revolution schwanger werden; ich verstehe aber auch, warum Firestone sich für die andere Variante entschieden hat… ihrer Analyse nach würde ja dann die Dialektik der Geschlechter und somit hierarchisches Denken bestehen bleiben…) könnten Teil sein eines guten Lebens für alle. Denn Verzicht sowie ein Mehr könnten mir sodann mehr Freiheiten in einem Bereich schenken, der mehr meinen wahren Bedürfnissen entspricht, von denen ich jetzt vielleicht noch gar nichts weiß. Mein Ziel immer vor Augen, ein gutes Leben für alle zu wollen, kann ich nur sagen, dass es mir Spaß macht und mein Körperingehirn in große spannende Unruhe versetzt, mir das vorzustellen.

(Wem das Gedankenexperiment auch wieder zu viele fiese knallharte Biopolitik enthält: es werden ja schon andere Wege ausprobiert, Macht und Hierarchie abzubauen. Wirtschaft ist Care ist ein solcher. Hier verpufft die ganze Wichtigkeit z.B. von “Finanzwirtschaft” und “Warenproduktion” und wird hinter die Fürsorge für Mensch und Planet platziert. Alles, was also nun finanziert und produziert wird, muss immer auf die Bedürfnisse aller Bewohner*innen dieses zerbrechlichen Lebensraums Erde abgestimmt sein.)

Der Text endet nicht so rund und mit viel mehr Fragezeichen für mich und wahrscheinlich auch für die Leser*innen, aber zumindest habe ich die mir dringendsten Unruhepunkte versprachlicht. Ich nehme jetzt zum Schluss noch einmal indirekt Bezug zum Ausgangspunkt, dem guten zukünftigen Leben für alle, der mir so wichtig ist:

Ich bin eine Frau. Ich bin eine Frau, die Freiheit nicht nur für sich alleine will. Ich bin also nur dann eine freie Frau, wenn alle Menschen frei sind. Und wenn alle Menschen frei sind, dann kann es möglicherweise sein, dass es mir als ein Anne-Mensch einer der nächsten Generationen egal ist, ob ich irgendwann mal als eine Frau bezeichnet worden wäre. Ich kann mir vorstellen, dass es mich sogar gruseln würde. Einfach deshalb, weil damals, als meinem Vergangenheits-Ich diese geschlechtsbezogene Kategorie noch so wichtig war, es noch nicht common sense war, dass alle Menschen – also auch die nicht-weißen, nicht-heteronormativen, nicht-cis Männer – normale Menschen waren. Oder vielleicht andersrum, unter der Prämisse, dass Menschsein pluralistisch ist: dass es also noch nicht common sense war, dass niemand normal war (vgl. Antje Schrupp, Schwangerwerdenkönnen (2019), S. 40).

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Antje Schrupp sagt:

    Liebe Anne,
    danke für deinen „weiterdenkenden“ Text! Und danke für die Erinnerung an Marge Piercy. Ich habe ich Buch ja auch gelesen, aber das ist bestimmt 10, 15 Jahre her – und die Sache mit dem Schwangerwerdenkönnen, das die Frauen dort für die positive Utopie aufgegeben haben, hatte ich ganz vergessen. Was ich sehr interessant finde, denn es wäre natürlich ein Beispiel gewesen, das in mein Schwangerwerdenkönnen-Buch unbedingt reingehört hätte! Warum habe ich es vergessen? Vermutlich weil mich das Thema damals nicht interessiert hat. Für mich persönlich hatte ich schon damals entschieden, dass ich keine Kinder gebären will, und von daher kam mir gar nicht in den Sinn, dass das eine große Sache sein könnte, so etwas eh latent Anstrengendes und Umständliches outzusourcen.
    Aber jetzt, wo ich deinen Text lese, kann ich die positive Utopie darin nicht sehen. Ich glaube, es ist eine schwache Utopie, das Gute Leben nur imaginieren zu können, wenn alle Menschen auf ihre „Vorteile“ verzichten. Sondern für mich wäre das Gute Leben nur eingelöst, wenn die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gut leben könnten, also wenn sie einen nicht-hierarchischen Umgang mit der Tatsache fänden, dass manche Menschen schwanger werden können und andere nicht.
    Wir sind hier glaub ich wieder an dem Punkt, den du als Differenz ja auch in dem Text hast, dass ich nicht der Meinung bin, dass Sprache Wirklichkeit „schaffen“ kann, die nicht da ist. Dass sie aber – und das vielleicht mein Unterschied zu Jutta – sehr wohl das bisher ungesagte Reale und Begehrte zur Sprache bringen und ihm damit in der Welt Realität verschaffen kann. Die Utopie der Gebärmaschinen erscheint mir irreal, ein Wolkenkuckucksheim, geboren aus der Phantasielosigkeit und Hilflosigkeit, mit der wir heute nicht in der Lage sind, Ungerechtigkeiten zu beheben. Ich will mehr. Ich will mehr, dass Menschen, die schwanger werden können, als „normale“ Menschen betrachtet werden, obwohl nicht alle Menschen schwanger werden können. Nur wenn „Normalsein“ nicht mehr bedeutet „so wie alle Sein“ haben wir Freiheit, wäre jedenfalls meine These.
    Ein anderer Aspekt davon, wo ich ausgehend von deinem Text gerne noch weiter denken würde: Es gibt einen Unterschied zwischen Privilegien und Unterschieden. Nicht alle Unterschiede sind Privilegien, der Unterschied zwischen Schwangerwerdenkönnen und Nicht Schwangerwerdenkönnen zum Beispiel ist kein Privileg (denn Privilegien sind immer gesellschaftlich gewährt), sondern eine biologische Tatsache. Und ich würde Piercy auch nicht zustimmen, dass das Schwangerwerdenkönnen etwas Positives ist, ein Mehr im Vergleich zum Nicht Schwangerwerdenkönnen (übrigens hier eine interessante Parallele zwischen Piercy und einer bestimmten Richtung des Feminismus, die Frauen aufgrund ihrer Gebärfähigkeit als irgendwie „besser“ betrachtet). Sondern es ist einfach ein Unterschied, je nach Vorlieben, Umständen, Kontexten ist es besser zu der einen oder zu der anderen Gruppe zu gehören. Erst durch gesellschaftliche Handlungen werden daraus Privilegien (etwa indem Menschen mit Uterus als „Frauen“ aus bestimmten Positionen ausgeschlossen werden).
    Also: Ich bin ganz dafür, dass wir Privilegien abschaffen und bekämpfen, und dass wir da vor allem als Privilegienhabende in der Verantwortung sind. Aber nicht jeder Unterschied ist ein Privileg, und die Unterschiede, die keine Privilegien sind, müssen wir irgendwie anders behandeln als sie abzuschaffen.
    Übrigens, was mir grade noch einfällt: Vor vielen Jahren (2008, vielleicht also gleichzeitig mit meiner Lektüre von Marge Piercy) hatten wir hier mal eine Diskussion über den Unterschied zwischen „dem Bösen“ (von Menschen gemacht) und „dem Unglück“ (nicht von Menschen gemacht) und kamen zu dem schluss (soweit ich mich erinnere), dass man das konkret nicht unterscheiden kann, aber vom Prinzip her schon.. ) werde das nochmal lesen!

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Antje,
    Ja, die Utopie ist schwach, aus den Gründen, die du nennst. Das empfinde ich auch so. Sie triggert mich aber dennoch immer und immer wieder, und zwar aus dem Grund, dass ich das Gefühl nicht loswerde, dass etwas Grundwahres daran ist, dass Schwangerwerdenkönnen per se Macht innewohnt. Also ich würde nicht sagen, das Schwangerwerdenkönnen ein Privileg ist, sondern dass dem reinen Fakt, dass du also schwanger werden kannst, Macht innewohnt. Und Macht etabliert wiederum automatisch Hierarchien… je nachdem, auf welcher Stufe du stehst, hast du Privilegien und die damit theoretisch einhergehende Verantwortung. Also: du kannst schwanger werden; damit könntest du theoretisch “die Welt regieren”, du kannst auf alle Fälle Menschen exkludieren, die nicht schwanger werden können, sie nur “benutzen” etcpp. Gibt es tatsächlich eine ideale Gesellschaftsform, in der das für jene Menschen, die nicht schwanger werden können, nicht bedrohlich ist? Und sie darum nicht ständig vom Gedanken heimgesucht werden, das Ganze in ein Patriarchat zu verwandeln, allein aufgrund der puren Möglichkeit, dass sie “ausgestoßen” werden könnten? (Hier kommt wohl das Vertrauen ins Spiel (wie stark muss es sein, damit es eine Gesellschaft trägt etcpp.), aber das Fass mach ich jetzt hier nicht auch noch auf, hehe.) Das ist ja im Grunde die Frage, die Firestone/Piercy aufwerfen. Auch wenn ich gedanklich vielleicht schon “weiter” sein und mich vielleicht hier nicht so lange aufhalten sollte, weil dieser Verzicht aufs Schwangerwerdenkönnen so viel Unterschiedlichkeit löscht… Aber… ich meine, Piercy fragt ja aber auch, wie viel Unterschiedlichkeit da eigentlich wirklich verloren geht, oder ob nicht durch diesen Verzicht mehr Unterschiede und diesbezügliche Freiheiten erst entstehen können. In Piercys Utopia gleicht kein Mensch dem anderen, es herrscht ein großer Pluralismus. Als Leserin wusste ich halt nur nie, mit welcher Geschlechterrolle oder mit welchem Gender-Konzept ich es bei den jeweiligen Figuren eigentlich zu tun habe, und es hatte für mich wirklich etwas Befreiendes, nicht nach Kategorien suchen zu müssen, da diese nicht über frei oder unfrei der Figuren entscheiden. An Firestone/Piercy fasziniert mich einfach die Radikalität der Gedanken, die die Frage verfolgen: wie können wir kategorienlos sein, wie wir sein wollen? Geht das überhaupt “biologisch”? Ich finde, der Gedanke, dass mit dem Schwangerwerdenkönnen irgendwas “Unsagbares”, jedenfalls nicht nur Symbolisches an Macht mitgeliefert wird, darf nicht leichtfertig weggewischt werden, nur weil wir natürlich eine andere Gesellschaft anstreben, da bin ich ja ganz dabei.
    Mir ist noch etwas zur Verantwortung eingefallen. Gerade eben lese ich bei Donna Haraway folgenden Satz: “Komplexität kann sich auftrennen; die Erde kann sterben; es kommt darauf an, responsabel zu sein.” (Unruhig bleiben, S. 158) Und an anderer Stelle bezieht sie sich direkt auf die feministische Ethik der “Responsabilität” (vgl. S. 97). Ich finde, dass die Verantwortung, die aus Privilegien erwächst, die mir aufgrund meiner Hierarchiestufe “zugeeignet” sind, eine andere ist als diese feministische. Oder? Im Sinne dessen, dass die feministische keine Hierarchie benötigt, sondern “nur” dem Fakt Rechnung trägt, dass wir Menschen die Erde und das Leben vieler Mit-Lebewesen zerstören können, wenn wir eben nicht beginnen, responsabel zu denken, zu sein, zu leben. Da denke ich wohl noch weiter dran rum.
    Das mit dem Bösen und dem Unglück interessiert mich; ich würde spontan meinen, dass das ganz unbedingt unterschieden werden muss. Aber dazu weiß ich zu wenig von der Diskussion und dem Kontext.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, aus dem Urlaub heraus fällt es mir schwer, zu diesem langen Text Stellung zu nehmen, an manchen Stellen fühle ich mich missverstanden, an anderen nicht.

    Du hast Recht, dass Empathie wichtig ist. Wir empfinden sie aus unserem Körper heraus (woraus sonst?), aber wir empfinden sie alle nicht immer und wir können sie auch nicht immer „gerecht“ verteilen. Wem wir wann unsere Empathie zuteil werden lassen, sagt oft mehr über uns, unsere Zeit und unser Milieu aus, als über diejenigen und ihre Situation, denen wir Empathie zeigen. Für mich kann ich, wenn ich dies nachvollziehe, erkennen, warum es sicher wahr ist, dass die Situation und das Leid (wobei ich finde, dass Empathie immer mehr und anderes sein sollte als bloßes Mit-Leid) von Trans-Menschen für mich schwerer vorstellbar ist als andere: Es liegt daran, dass ich mir fast gar nicht vorstellen kann, nicht einverstanden mit meinem Körper zu sein, ihn als etwas Fremdes oder Falsches wahrzunehmen. Das ist mir tatsächlich sehr fremd, auch unheimlich, so sehr, dass meine Vorstellungskraft im Grunde daran scheitert. Diese Fremdheit gilt dabei gar nicht allein Transmenschen, sondern auch jenen, die ihre Körper aushungern oder verletzen oder umoperieren, um ihn einem Idealbild anzugleichen. Die feindliche Beziehung zum eigenen Körper kenne ich nicht einmal im Ansatz; meine Vorstellungskraft sträubt sich auch gegen sie. Ich weiß (vermittelt über Worte), wie viel Leid Menschen erfahren, die sich so unwohl in ihrem Körper fühlen, dass sie sich ritzen, dass sie sich langwierigen und schmerzhaften OPs unterziehen, dass sie Nahrung verweigern. Aber ich verstehe es nicht. Es bleibt mir fremd.

    Und hier spielt vielleicht wieder eine Rolle, wie wir mit Sprache umgehen. Für mich ist sie eine Vermittlung dessen, was ich denke und fühle. Aber ich denke unmittelbar in Bildern. Was ich mir nicht als Bild vorstellen kann, das bleibt mir in Wahrheit fremd.

    Diese Erfahrung der Fremdheit rechtfertigt natürlich nicht den Ausschluss anderer. Ich habe sie nur angeführt, um mir selbst und anderen zu erklären, was noch mitschwingen mag – auch zunächst unbewusst – in meiner Haltung.

    Warum es mir und anderen wichtig ist, das Wort und die Bedeutung von „Frau“ nicht gegen zergliederte einzelne Körperfunktion oder -organe auszutauschen, wurde ja vielleicht in den Kommentaren und auch in Dorothees Text ein wenig deutlich. Und ich hoffe, dass auch klar geworden ist, dass es mir nicht darum geht, Trans-Frauen auszuschließen. Ich möchte nur weiterhin dann von mir als „Frau“ sprechen, wenn es um meinen Körper (seinen Alterungsprozess z.B.) geht.

    Ein weiterer, mir wichtiger Aspekt ist mir in der Diskussion mit Antje noch klarer geworden und er vertieft sich, wenn ich deinen Text lese: Es beunruhigt und erstaunt mich immer mehr und führt auch zu einer inneren Distanzierung, wenn Frausein gleichgesetzt wird mit der Selbstwahrnehmung als unterdrückt und entrechtet. Für mich ist mein Frausein zu keiner Zeit geprägt gewesen von Unterdrückung. Damit meine ich nicht, dass es keine gegeben hat oder gibt. Aber das ist eben nicht nur nicht „alles“, sondern mir nie auch nur ansatzweise das Wichtigste gewesen. Ich habe Frausein immer als schön, als mächtig und als richtig empfunden. Die – für mich gefühlte – ständige, auch ständig eingeforderte Identifikation mit Unterdrückungserfahrung, mit Dissidenz und Widerstand, mit einer bestimmten politischen Haltung (z.B. mit unbedingter Gegnerschaft zum „Kapitalismus“) usw. usf. ist für mich eben nicht der Kern meines Frauseins und deckt sich auch nicht mit meinem Begehren als Frau in der Welt.

    Ich weiß nicht, wie alle Menschen „frei“ sein können oder werden können. Ich kann mich nur darum bemühen, in meinen Beziehungen Freiheit zu gestalten. Dabei verstehe ich Freiheit eben nicht als „tun, was ich will“ (das hatte ich in einem anderen Kontext missverständlich ausgedrückt), sondern als die Übernahme von Verantwortung in diesen Beziehungen. — Ich hatte es in einem Kommentar an Antje schon versucht zu formulieren: Je älter ich werde, desto wichtiger wird mir auch, diese Verantwortung nicht ungebührlich auszudehnen, dorthin, wo ich Verhältnisse nicht überblicke und Zusammenhänge auch nicht genügend verstehe.

    Die Utopie, die du am Ende deines Textes referierst, kann ich von meinem Begehren her nur als erschreckend wahrnehmen, denn sie scheint ja zu bestätigen, was ich und andere (sicherlich eher überzogen) befürchten: dass dieser Diskurs um „Frausein“ am Ende auf das Verschwinden von Frauen (und Männern) zielt, auf die Aufhebung der Kategorie Geschlecht. Das ist keine Zukunftsaussicht, für die ich etwas zu geben bereit bin. Denn ich leide nicht an der Geschlechterdifferenz. Vielmehr erfreue ich mich an ihr. Was Geschlecht bedeutet, darüber mag ich verhandeln, darüber, ob es das gibt, eben nicht. Dabei bin ich mir keineswegs sicher, ob die „schöne neue Welt“, die du entwirfst, nicht tatsächlich wird. Doch wenn es so ist, habe ich meinen Nachkommen nichts anderes mitzugeben in diese Welt als die Sehnsucht nach der Geschlechterdifferenz und eine Neigung zum Widerstand, die aus dieser Sehnsucht erwachsen könnte.

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Jutta, vielen vielen Dank für deine ausführliche Antwort aus dem Urlaub! Ich weiß das sehr zu schätzen.
    Es ist so vieles so interessant! Ich zum Beispiel, ich bin auch – und wenn ich mich so umhöre, merke ich immer, wie selten das noch immer ist – wahnsinnig glücklich und zufrieden mit meinem Körper, in meiner Körperin. Ich habe beispielsweise nur glaube zweimal in meinem Leben eine (freiwillige) Diät gemacht, mit 17 oder so, ich fand das eine ganz schlimme Erfahrung (ich war so fixiert aufs Körpermaß und so, ich hatte nichts anderes mehr zu denken, es war furchtbar), und habe es nie wieder gemacht. Dieses Gefühl der Zufriedenheit mit mir selbst teile ich also total mit dir.
    Warum andere Menschen ihrem Körper schlecht behandeln, also z.B. sich ritzen… ich glaube, niemand möchte es, sondern es ist eine Art Projektion von (seelischer, physischer, emotionaler etcpp.) Verletzungen auf den eigenen Körper, um also anderen Schmerz durch “neuen” Schmerz zu lindern z.B. Aber ja… da kennen sich andere viel besser aus. Was ich sagen will ist, dass diese Menschen Gründe haben und Erfahrungen gemacht haben, die unverdaut und also unverarbeitet sind und sich so irgendwie den Weg nach außen suchen. Ich würde mir wünschen, dass niemand je solche traumatisierenden Erfahrungen machen muss (da wären wir schon wieder beim guten Leben für alle ;).
    Was das Gefühl von trans Menschen angeht, im falschen Körper zu stecken… der Film “Girl” von Lucas Dhont gibt eine gute Möglichkeit, sich da einzufühlen… ich bin eine Netflix-Spätzünderin und schaue mich gerade durch “Orange is the new Black” und finde hier die Rolle der Sophia Burset auch wahnsinnig interessant. Das ist wohl einer der Gründe, warum ich Kino (neben Literatur) so liebe: weil Filme mir die Möglichkeit geben, mich in (fremde) Menschen (und ihre Kontexte, Konflikte, Leben) einzufühlen.
    Was ich auch mit dir teile: ich empfinde Frausein natürlich auch als schön. Aber ja… ich verstehe oder fühle hier unseren Dissenz… oder wie soll ich das nennen, hehe… ich kann meine patriarchats-kapitalistische Kritik-Brille wohl nie mehr ablegen. Aber das liegt halt auch daran, dass wir mit unserer Gesellschaftsordnung gerade in einen selbstproduzierten Kollaps reinrutschen. Donna Haraway drückt es so aus: “Ein eingeschränkter (oder neoliberaler) Individualismus, aufgebessert durch Autopoiesis, ist weder metaphorisch noch wissenschaftlich betrachtet gut genug; er führt uns auf tödliche Pfade.” (Unruhig bleiben, S. 51) Ich liebe auch die Verschwendung und das Übermaß und den überflüssigen Luxus und all das, was du geschrieben hast unter Dorothees Text des “Genug”, und nichts wäre schöner, als all dem weiter fröhnen zu können, aussuchen zu dürfen etcpp. Aber diese unsere Erde ist endlich und verletzlich und bereits jetzt schon vielfach verletzt. Ein “Genug” kommt bei mir nicht von innen, sondern zunächst als Zwang von außen, wenn ich will, dass auch meine Töchter noch ein gutes Leben auf dieser Erde haben können. Und weil ich es als “Zwang von außen” so unerträglich finde, muss ich es das alles irgendwie inkorporieren, also einen Weg finden, wie das alles zu vereinbaren geht, ohne dass mich das alles überfordert. Momentan habe ich das richtige Maß und die richtige Art noch nicht gefunden, ich fühle mich ständig überfordert. Weil ich Dinge tun muss, bei denen – wie du so schön sagst – ich die Verhältnisse nicht überblicke und auch nicht komplett Verantwortung übernehmen kann (und es am liebsten eben auch nicht täte). Warum tue ich es dennoch, warum gehe ich raus aus meiner Komfortzone? Weil ich genau weiß, was ich meinen Töchtern in 20 Jahren NICHT sagen möchte. Ich möchte ihnen nicht sagen, “ich habe nichts getan, weil ich mich überfordert gefühlt habe”. Also… komme ich ins Tun, … und es wirft mich eben in Bahnen, auf denen ich mich nicht gut auskenne, aber hey, Grenzen und Zäune und eigene Wohlfühlzonen sind auch zum Dranrütteln und Hinterfragen da. Aber gut, all das ist ja wieder eine andere Geschichte.
    Was eure Aversion – also Antjes und deine, und sicher noch so einiger anderer Leser*innen – gegen diese fiktive Zukunftsvision angeht, so kann ich das total verstehen, immerhin sind wir Differenzfeministinnen. Ich habe sie übrigens nicht entworfen, sondern Marge Piercy hat sie entworfen; und was sie da gemacht hat, ist Kunst. Um über diese ein Nachdenken oder auch eine mögliche Debatte im Diskursraum anzuregen. Sie hatte dafür Gründe, irgendwas hat sie inspiriert, und dem wollte sie nachgehen, bis “ganz ans Ende” und komplett ausgepinselt. Ich finde das einfach wunderbar und ich bin so dankbar dafür. In jeder feministischen Science Fiction wird dieses Thema mehr oder weniger durchgespielt. Ob Frauen nun “noch mehr” Frauen werden, weil sie ohne Männer leben, oder “noch mehr” durch patriarchale Strukturen unterdrückt werden und sich dennoch in Nischen und Rändern und Sprache frei fühlen. All das ist nicht die Realität, all das sind Angebote für das Körpergehirn, um in Unruhe zu geraten und um über das Hinaustauchen aus dem Jetzt-So-Menschsein in ein alternatives Menschsein eintauchen zu können. “Man kann Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine” also “erstens als Kunst genießen, und man kann mit ihr zweitens Dinge und Verhältnisse denken, die ohne sie ungedacht bleiben müssten” (Dietmar Dath in Niegeschichte, S. 21); “hier tut sich etwas auf, was die konkrete Erfahrung überschreiten will” (ebd., S. 47). Es ist also keine Zukunftsvision (ich habe in meinem Artikel nur so getan als ob, aber ich werde zukünftig überlegen, ob ich das in der Form wieder tue… ich werde da noch ein bisschen rumexperimentieren). Mich hat dieser Roman sehr zum Denken angeregt, ich habe in ihm keine Antworten im Sinne von “So muss es/wird es sein” gefunden (wie du vielleicht glaubst, Jutta), sondern noch mehr Fragen, die mein Körpergehirn unruhig halten, und allein das genügt mir. Vorerst. Ich möchte die Geschlechterdifferenz nicht abschaffen. Ich möchte ein gutes Leben für alle Bewohner*innen in diesem zerbrechlichen Lebensraum Erde.
    Ich danke dir nochmal für deine Antwort, das ist alles sehr spannend. :)

  • Antje Schrupp sagt:

    @Jutta – Ich glaube, der zentrale Punkt beim Selbtverständnis von trans Personen ist nicht dass sie nicht einverstanden mit ihrem Körper sind, sondern die Ablehnung des Körpers ist nur eine Reaktion auf das damit begründete “missgendering” von Dritten. Der Körper wird abgelehnt, weil er als Ursache des Leidens gesehen wird, aber das Leiden kommt nicht wegen dem Körper, sondern wegen der Tatsache, dass man deshalb ein Geschlecht zugewiesen bekommt, das man nicht als das eigene sieht. Daher sind ja auch die neueren Diskussionen an dieser Stelle bereits anders, wenn etwa gesagt, wird dass auch ein Penis ein weibliches Geschlechtsteil sein kann oder der Uterus ein männliches.

    Zum Ende und zum Thema des “Verschwindens” der Geschlechterdifferenz: Das ist soweit ich es sehe kein inhärenter Bestandteil von Queertheorie, da ist der common ground lediglich die Ablehnung der binären Vorstellung von Geschlecht, wonach es nur und genau zwei Geschlechter gibt, die sich durch körperliche Kategorien voneinander unterscheiden. Und die Vorstellung der “Aufhebung” von Geschlecht ist eine alte Idee, die auch schon im Gleichstellungsfeminismus da war, ebenso wie übrigens die Fixierung auf die Diskriminierungserfahrung – letzteres finde ich im Queerfeminismus eigentlich überhaupt nicht, da die Diskriminierungserfahrung nicht ans Geschlecht geknüpft wird, sondern an die Zuweisung. Also Frausein ist für sich genommen etwas Schönes und völlik okay, für alle, die Frauen sind. Während eher der Gleichheitsfeminismus gesagt hat: Frausein ist so blöd, wir müssen uns unbedingt den Männern angleichen (überspitzt gesagt). Es gibt einige, die vorschlagen, Geschlecht als Kategorie ganz aufzulösen (hornscheidt/Oppenländer in “Exit Gender” zum Beispiel), aber das ist nicht generelle Ansicht.

    Schließlich, was mich an deiner Position nicht überzeugt: Die BEdeutung von “Frau” ist nicht feststehend. Aus der Existenz von zwei reproduktiven Varianten Mensch lässt sich keine soziale Norm ableiten. Und es ist nicht zu leugnen, dass die Bedeutung von “Frau” ganz faktisch heute ganz etwas anderes ist als “Mensch mit reproduktiven Merkmalen soundso”. Die Entscheidung von Differenzfeministinnen wie dir und mir und Anne (und wahrscheinlich den meisten Leserinnen in diesem Forum), aus dieser Zuweisung (“Du hast höchtswahrscheinlich einen Uterus, daher bist zu Frau und also Ansprüchen, Anforderungen und einer Geschichte von 4000 Jahren Patriarchat ausgesetzt”) etwas Freiheitliches, Selbstbestimmtes zu machen, ist eine POLITISCHE Entscheidung, keine notwendige. Es ist keine naturwissenschaftliche Wahrheit darin. Es ist selbstverständlich möglich und legitim, es anders zu entscheiden und zum Beispiel zu sagen “Ich weigere mich, diese soziale Position einzunehmen und nur weil mein Körper soundso aussieht, hat niemand ein Recht, mich in irgendeine Kategorie zustecken” und da entlang geht die Auseinandersetzung. Man kann diesem ARgument zum Beispiel nicht damit begegnen, zu behaupten, die Zuweisung “Frau” wäre doch nur eine neutrale Bescheibung einer körperlichen Variante, denn das stimmt halt einfach nicht.

  • Liebe Anne,

    soviele Gedankenstränge. Mit allem, was in unseren/-m Körper-innen lebt oder nicht mehr lebt, weil es entfernt wurde, durch Operation, wegen Erkrankung, umgebaut, weil anderes Begehren, es nie da war, gibt es je nach dem immer aktuelle oder akute leibliche Gegebenheiten mit innewohnenden Verlusten oder Kräften. Ich mag Sätze wie Innere Wirkstoffe der Frauen und meine damit genau solche, die aufgrund der Eierstöcke, Gebärmutter, Vulva, Klitoris wie Ihres Zusammenspiels mit Hormonen und Gehirn eine Frau zu etwas in die Lage versetzen.

    Ich kenne eine Ärztin, die hat schöne Worte wie “Eischatzkammer, Eianlage, Lustkraft der Lebenshöhle (Gebärmutter) und forscht an solchen Fragen, welche Rolle das Mark in den Eierstöcken in den Wechseljahren spielt. Es soll ein Wirkstoff sein, der so gut wie nicht erforscht wird, da die “Männliche” Wissenschaft kein Interesse daran hat oder gar nicht so weit auf die Idee kommt, was wirklich wirklich im weiblichen Körper (Ausgestattet eben mit Eierstock, Gebärmutter, Vulva, Scheide, Klitoris) geschieht. Also genomische Information in den Eizellen (die hat eine Transfrau nicht)

    Eine andere Frau sagte mal, sie glaube das die Wechseljahre der Frau der Missing Link in der Evolution sind. Dass die Hitze, die der originäre weibliche Körper erzeugt, eine bestimmte Kraft beinhaltet, die anzuwenden wir noch gar nicht kennen.

    Und welche Frau, die das alles im Inneren hat (ohne Operation, Transition, Hinzufügen aus Armfleisch oder Armhaut usw) erforscht das wirklich? Weil solches Vermögen meist im biologischen Fruchtbarkeitsritus von Kinderkriegen und Familie steckt und noch nicht in den nächsten Oktaven, wie sich denn Eizelle und Samenzelle als Schwingung noch auf anderen Wegen begegnen können, die nicht durch den üblichen Geschlechtsverkehr zustande kommt.

    Allein das Zusammenspiel aus Nerven, Nervenbahnen, Hormonen, Kontraktionen, Flüssigkeiten, Herzkraft, bewirkt etwas. Und ganz sicher verliert ein(e) Transmann solche Möglichkeiten durch das Entfernen von Gebärmutter, Eierstöcken, Vulva und Brüsten) (gewinnt andere, wie vielleicht sein Begehren und Identität über den hinzugefügten Penis
    zu realisieren, als soziale Rolle usw.)

    Geschlecht ist wie ein Kontinuum und eingebunden, und je nach dem gefangen und frei in den jeweiligen Kontexten. Innen wie Außen.

    In einer Gesellschaft, die stolz darauf sein könnte, dass aus dem (bisher) Mutterleib (noch nicht KI Gebärmuttermaschine) ein Wesen, Mensch hervorkommt, das unzählige Geschlechtsvarianten haben kann und damit total ok und willkommen ist, ohne groß Aufhebens darum zu machen. Würde, so denke ich, viel weniger “Geschlechtsangleichung auf der physischen nach sich ziehen, weil meine Forschungen zeigen, dass ein männliches Verlangen auf bestimmte Art sexuell lieben zu können in den weiblichen Anlagen erinnert sein kann und eben genau das nicht in dem künstlich hinzugefügten Penis zur Empfindung kommt.
    Empfindungen machen etwas mit uns und unseren Beziehungen. Sie lassen uns Erfahrungen, Berührungen suchen, die das Selbst formen, sprechen lassen, lieben lassen, wollen. Das ist sinnlich, poetisch und politisch, weil aus Verlangen der heterosexuellen Ordnung ganze Gesellschaften und Abläufe kreiert werden.

    Sowas wie Urstoffe des Leibes lassen sich nicht leugnen, können aber in Vergessenheit geraten oder verkümmern, wie einen Muskel , den man, Frau nicht benutzt.

    Was ist und gegeben wurde Qua Geburt? Was sind die weiblichen und männlichen und dazwischen oder daneben Möglichkeiten etwas zu fühlen und zu können, genau in diesem Leib, der da ist? Und wie tauschen wir uns und ihn (den Leib) die Körperin mit anderen aus, ein, um?

    Soweit mal mein Gedanken. Eine nie enden werdende Forschungsreise. Ein Fluss, mich und Dich zu finden im Flüssigsein. Ein Ort der inneren Alchemie, inneren Geschlechtsum-ver-wandlung und Anverwandtschaft als Mensch.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Antje, den Dissens können wir nicht aufheben. Es stimmt zwar, dass die Zuweisung “Frau” keine “neutrale Beschreibung einer körperlichen Variante” (einer nicht allzu seltenen “Variante” würde ich allerdings unbedingt hinzufügen) ist (in unserer Gesellschaft), aber ich kann begehren, dass es so werden möge. Und das tue ich. Ich war eine Frau, bevor ich je etwas vom Differenzfeminismus gehört habe und ich habe “Frausein” auch nicht als “Zuschreibung” erfahren, sondern entdeckt – als “körperliche Variante”. Erst später habe ich auch erfahren, dass es mit sozialen Zuschreibungen verbunden ist, die falsch oder einengend sein können. Frausein ist für mich jedoch keine politische Entscheidung und ich möchte auch keine draus machen. Das stimmt einfach – für mich!

  • Anne Newball Duke sagt:

    Liebe Regina,

    vielen Dank für deine schönen Beschreibungen. Ich bin da ganz bei dir. Während ich das las, musste ich an Monique Wittig denken und wie sie in einem ihrer (fiktiven) Bücher beschrieb, wie Frauen, gedacht in einer Welt und als eine Art Amazonen ihre Menstruationstage feiern, wie die Frauen jene Frau, die sie gerade hat, umpflegen und in dieser turbulenten Körperinzeit mit ihr sind. Ich habe zuvor so etwas noch nie gelesen (Menstruation als etwas zu sehen, das wir feiern könnten, in der wir uns gut fühlen und eventuell auch mehr von uns finden können, das nicht nur als “störend” in der eigenen Körperin vercodet ist) und mir so etwas dadurch auch noch nie vorstellen können. Es hat mir gezeigt, dass da noch ganz viel ist, was wir nicht wissen und was noch erkundschaftet werden möchte und auch noch zu Leben kommen und mit Leben gefüllt werden will. Danke für deinen Beitrag!

    Liebe Jutta,
    ach ja… Dissens… ich habe mehr und mehr Lust, diese Dissens… wie kann ich das nennen… Dissensfokussierung ;) aufzulösen und mehr hin zu einem Verstehen umzuwandeln. Also zum Beispiel: Ich möchte verstehen, warum du so denkst und fühlst, und ich möchte gern auch verstanden werden. Dann ist Dissens gar nicht mehr so wichtig. Natürlich fühle ich mich mehr an einem denkerischen und fühlerischen Standort verwurzelt, aber dennoch habe ich ja die Möglichkeit, mich aus mir kurzzeitig hinauszudenken und in andere hineinzudenken, wenn mir Schlüssel angeboten werden. Und dann eine gemeinsame Sprache zu finden, in der (wichtige, ja oftmals viel wichtigere) Dinge (die dann ja oft nicht bearbeitet werden durch irgendeinen Dissens) vorangebracht werden können über einen wo und wie auch immer gelagerten Dissens, das finde ich mittlerweile viel wichtiger. Also… die Frage: Was ist wirklich wichtig? Welcher Dissens spielt wann eine wichtige Rolle, und wann aber ist dieser Dissens echt mal egal, und sollten wir echt großzügig mit ihm in uns sein? Das Vorankommen, das Weiterdenken ist mir halt wirklich immens wichtig, und das geht ja nur mit anderen, und zwar über Dissens hinweg. Damit halt eben wirklich wichtige Dinge gemeinsam und nicht getrennt weitergedacht werden können.
    Ist es nicht schade, wenn am Ende steht: Wir haben Dissens. Punkt. ? Sind wir dann vorangekommen? Ich denke mehr und mehr, es ist eine Frage, ob vorangekommen werden will oder nicht. Ich will, dass einfach ganz viel in Bewegung kommt etcpp. Und deswegen: Wenn wir am Ende eines schönen langen Gesprächs weiter in Dissens verweilen, dann bin ich also etwas unbefriedigt, hihi. Aber ja, das ist ok. Vorerst. ;)

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Anne, vielleicht ist es aber auch gerade diese Vielfalt, die wir immer brauchen, die sich gar nicht in einem Konsens auflösen darf, damit wir beweglich bleiben, nicht unbedingt als Einzelne, sondern als Gesellschaft. Ich glaube das: Dass für das Ganze das Beharren, die Verantwortung für das zu Bewahrende genauso wichtig ist wie der Drang und die Bewegung hin zur Veränderung und Umbrüchen. Ich traue da meinem Gefühl, dass ich jetzt und in dieser Frage und diesem Kontext mehr beizutragen habe, wenn ich beharre. Hier habe ich – vor nurmehr schon wieder 4 Jahren – schon einmal aufgeschrieben, was mir zu dem Thema wichtig bleibt: https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2016/06/frausein-ein-gesprach-mit-antje-schrupp.html

Weiterdenken