beziehungsweise – weiterdenken

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Rubrik denken

Von der Begrenzung zur Selbst-Beschränkung des „Genug“

Von Dorothee Markert

Wegen der Seuche musste das von mir schon lang ersehnte jährliche Denk-Treffen von „Kultur-Schaffen“ dieses Jahr leider ausfallen. (Hier habe ich einmal etwas über den Denkzusammenhang „Kultur-Schaffen“ geschrieben). Wider Erwarten ging das gemeinsame Denken beim stattdessen vereinbarten Videotreffen recht gut, auch wenn das Drumherum fehlte: die Freude des Wiedersehens, die Gespräche in den Pausen und beim Essen, der Genuss des Zusammenseins, das Gefühl zu Beginn, unendlich viel Zeit zum Denken zu haben, der Luxus des Versorgtwerdens in einem schön gelegenen Tagungshaus, all das, was bisher zu unserer Erfahrung gehörte, dass gemeinsames Denken glücklich macht. Zum Trost und weil Videotreffen anstrengender sind und daher nicht so lange dauern können wie unsere sonstigen Denktage, vereinbarten wir gleich mehrere weitere Videositzungen für dieses Jahr, etwa alle zwei Monate wollen wir an einem Tag ein paar Stunden lang miteinander denken.

Beim zweiten Treffen erzählten wir zunächst reihum von unseren Erfahrungen, Beobachtungen und Erkenntnissen im Corona-Lockdown und kamen schließlich zum Thema „Umgang mit Grenzen“. Eine These war, dass das Akzeptieren und Einhalten von Grenzen leicht fällt, wenn wir ihre Notwendigkeit einsehen. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass diese Notwendigkeit gut begründet und vermittelt, am besten sogar selbst erfahren werden muss. Seit die Ansteckungs- und Todeszahlen der Seuche in unserem Land zurückgegangen sind und immer wenn der Klimawandel bei uns wieder weniger spürbar ist, schwindet die Einsicht, dass Begrenzungen und Einschränkungen notwendig sind. So kommt es durch Nicht-Einhaltung von Abstandsgebot, Maskenpflicht und Begrenzung der Personenzahl zu erneuten Ansteckungswellen, in einigen Ländern schon zu einem zweiten Lockdown. Und der Raubbau an unseren irdischen Lebensgrundlagen geht unvermindert weiter, obwohl die Grenzen des Wachstums schon lange überschritten sind, was durch den Klimawandel inzwischen auch bei uns immer deutlicher spürbar ist.

Der Widerstand gegen von außen gesetzte Grenzen nimmt gerade überall zu, die Bereitschaft, auf vernünftige Argumente zu hören, schwindet zusehends. Wie an dem Konjunkturpaket zur Ankurbelung der Wirtschaft nach dem Lockdown zu sehen ist, wurde auch von Seiten der Regierung die Chance nicht genutzt, durch gezielte Maßnahmen auf einen Umbau der Wirtschaft weg von klimaschädlichen Produkten hinzuwirken, also beispielsweise von Autos und Flugzeugen. 

Von außen gesetzte Grenzen akzeptieren wir als Erwachsene meistens nur im Notfall oder wenn massive Sanktionen drohen. Sie werden mit einer Unfreiheit gleichgesetzt, die wir nach der Kindheit überwunden zu haben glaubten. Sich dagegen zu wehren, scheint viel mit Selbstachtung zu tun zu haben, vielleicht auch mit zahlreichen Heldenerzählungen vom Grenzen-Überwinden, die uns geprägt und die kulturelle Verknüpfung von Grenzüberschreitung und dem Gefühl von Freiheit verstärkt haben. Eine Mitdenkerin behauptete daher, Grenzen seien nie freiwillig, sonst wären es keine. Als ich widersprach und meine Erfahrung mit Selbst-Beschränkung nach dem Maßstab des persönlichen „Genug“ anführte, schlug eine andere Mitdenkerin eine Unterscheidung vor, die mich nun zum Weiterdenken inspiriert: „Begrenzung“ als das von außen Gesetzte und „Beschränkung“ im Sinne von „sich einschränken“ als freiwilliges Sich-Selbst-Beschränken. 

Schon mehrmals habe ich solche Begriffsunterscheidungen, sogar wenn sie nicht dem üblichen Sprachgebrauch entsprechen, als sehr inspirierend für das Denken empfunden, z.B. Hannah Arendts Unterscheidung der Begriffe „Arbeiten“, „Herstellen“ und „Handeln“ für das menschliche Tätigsein oder die Unterscheidung zwischen „Bedürfnis“ und „Begehren“ bei Chiara Zamboni. „Eingrenzung“ und „Einschränkung“ werden eigentlich synonym gebraucht, wie ich meinen Wörterbüchern entnehmen konnte. Auch die Bilder einer Grenze und einer Schranke unterscheiden sich ja nicht sehr, höchstens in der Vorstellung, dass man eine Schranke umgehen kann, zumindest zu Fuß. Nichts hindert uns jedoch daran, die beiden Begriffe „Begrenzung“ und „Beschränkung“ für eine Unterscheidung im oben beschriebenen Sinne zu nutzen. Im Weiteren spreche ich also von Begrenzung, wenn die Grenze von außen gesetzt wird, und von Beschränkung, wenn ich selbst bestimme, wo für mich das „Genug“ liegt.

Viele Menschen, mit denen ich gesprochen oder deren Aussagen ich gelesen habe, auch meine Mitdenkerinnen von „Kultur-Schaffen“, konnten dem Lockdown Positives abgewinnen: Sie fühlten sich nicht so getrieben, sie kamen heraus aus dem Hamsterrad, sie hatten nicht ständig Angst, etwas zu versäumen, sie konnten innehalten und sich Pausen gönnen, ihnen wurde bewusst, was sie brauchen und was nicht. So viele Menschen misteten zuhause aus, dass die Recyclinghöfe nicht mehr alles annehmen konnten. Auf den Straßen standen Kartons mit Sachen „zu verschenken“, da konnte ich mich immer wieder mit Lesestoff eindecken. Menschen entwickelten Dankbarkeit für gute Lebensmittel, nahmen sich Zeit für das Kochen, lernten den Wert guter Beziehungen neu schätzen, sie führten gute Gespräche, bei manchen war auch das Zusammensein mit den Kindern inniger und entspannter. Großeltern schrieben ihren Enkelkindern Briefe, diese malten Bilder für sie. Man nahm sich Zeit für längere Telefonate. Obwohl die Zeitung dünner war, las ich sie viel lieber, denn das ganze nichtssagende Politikergeschwätz und –gezänk und das Geschrei der Lobbyisten fielen weg. Stattdessen erfuhr ich etwas darüber, wie es anderen Menschen in dieser Zeit ging und freute mich über kreative Lösungen, die die Begrenzungen besser aushaltbar machten. Viele gingen hinaus in die Natur und sahen Schönes in der Umgebung, sie freuten sich am Vogelgezwitscher und an der Stille, der Himmel war so blau wie in der Kindheit. Auch in den sonst von TouristInnen überlaufenen Städten war es nun ruhig und die BewohnerInnen konnten sich an den Schönheiten ihrer Stadt freuen. Eine Mitdenkerin erzählte von einer großen Abschiedsfeier, die sie aus beruflichen Gründen besuchen musste: Da die Kontakte auf fünf Personen begrenzt worden waren, kam sie wirklich ins Gespräch mit den anderen, während sonst aufgrund der ständigen Unterbrechungen durch Leute, die man auch noch begrüßen muss, nur Smalltalk möglich ist. Gedränge und Angerempelt-Werden am Buffet fielen weg, jede Person bekam einen Teller mit ausgesuchten Köstlichkeiten für sich allein. Und sie hatte Zeit, das Essen zu genießen. Meine Mitdenkerin wünscht sich aufgrund dieser Erfahrung, über die Gestaltung größerer Feierlichkeiten neu nachzudenken.

Wie bei ihr war auch bei anderen der Wunsch groß, etwas aus der Begrenzungs-Erfahrung hinüberzuretten in die Zeit danach. An dieser Stelle war jedoch auch Resignation zu spüren, die Befürchtung, das werde wohl kaum gelingen, sobald „die Wirtschaft“ wieder anläuft. Aber muss „die Wirtschaft“ wirklich genauso wieder anlaufen wie vor der Krise? 

Die positiv beschriebenen Erfahrungen in der Zeit der Begrenzung weisen auf ein Zuviel hin, das uns in „normalen Zeiten“ am guten Leben hindert: 

Zu viele Verpflichtungen, auch in der Freizeit, zu viele Menschen auf zu engem Raum, zu viele Wahlmöglichkeiten, zu viel Angst, etwas zu versäumen, zu hohe Geschwindigkeiten, zu viele Autos, zu viele Flüge, zu viele Reisen, zu viel sinnlose und für unseren Planeten schädliche Arbeit, zu viele unnütze Dinge, zu viel oberflächliches Geschwätz, zu viel Selbstdarstellung, zu viel Ressourcen- und Lebensmittelverschwendung und vieles mehr. 

Dieses Zuviel hat mit dem Teil der Wirtschaft zu tun, auf den wir im Lockdown gut verzichten konnten, es ist der Teil der Wirtschaft, der unbedingt ständig wachsen muss, damit genug Gewinne daraus gezogen werden können. Und es ist dieser Teil der Wirtschaft, der jetzt alles tut, um durch staatliche Gelder und Garantien darin unterstützt zu werden, dass sie möglichst wieder genauso anlaufen kann wie vor der Krise.

All diesem Zuviel setze ich die Erfahrung des „Genug“ entgegen. Und ich hoffe darauf, dass viele Menschen in der Zeit der Begrenzung diese Erfahrung machen konnten. Denn wenn ich dankbar sein kann dafür, dass ich genug habe, genug zu essen, genug Schönes in meiner Umgebung, genug gute Beziehungen, genug Kleidung, genug kulturelle Anregung, genug attraktive Freizeit- und Urlaubsmöglichkeiten, genug sinnvolle Arbeit, die mich befriedigt und nicht überfordert, dann bin ich weniger anfällig für den Sog durch all das Zuviel um mich herum, dann kann mir das ständige „schneller, besser, mehr“ nichts anhaben. 

Die Orientierung am „Genug“ ist kein Verzicht, es ist noch nicht einmal eine Beschränkung. Sie erfordert nur, dass ich gut auf mich achte. Und doch kann sie helfen, das Zuviel zu reduzieren, das unser Leben schwer und unsere Erde kaputt macht.

Als die Läden und die Restaurants wieder öffnen durften, blieb der Run in die Innenstädte erstaunlicherweise aus. Die Läden waren viel leerer als vorher, die Restaurants trotz Begrenzung der Personenzahl noch nicht einmal ausgelastet. Das Einkaufen mit Maske mache weniger Spaß, klagte ein Vertreter des Einzelhandels, die Leute würden nur kaufen, was sie brauchen. Und größere Anschaffungen würden sich die Menschen überlegen, da viele Angst um ihren Arbeitsplatz hätten.

Vielleicht sind diese Erklärungen für die derzeitige Konsumzurückhaltung ja nur ein Teil der Wahrheit? Vielleicht haben ja doch mehr Menschen das „Genug“ für sich entdeckt und das leichtere und schönere Leben, das es mit sich bringt?

Auf jeden Fall ist gerade deutlicher zu erkennen denn je, wie der kapitalistische Wachstumszwang direkt der Bereitschaft zu freiwilliger Beschränkung entgegenarbeitet, die ja nicht nur unser Leben leichter machen, sondern auch unseren Planeten retten könnte, und wie sehr staatliche Maßnahmen diesem Teil der Wirtschaft in die Hände arbeiten. Wie alle Rabatte soll uns die zeitlich begrenzte Mehrwertsteuerreduktion dazu bringen, dass wir jetzt Dinge anschaffen, die wir eigentlich erst später und vielleicht gar nicht brauchen. Auch ich habe gleich darüber nachgedacht, ob wir unsere Heizung nicht jetzt erneuern sollten, um Mehrwertsteuer zu sparen, obwohl unsere alte nach zwanzig Jahren immer noch gut läuft.

Autorin: Dorothee Markert
Eingestellt am: 04.07.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Elanne sagt:

    Mir kommt das mittlerweile monatelange Gerede über das
    zarte Befinden derer, die genug und zuviel haben, langsam reichlich zimperlich vor.Es war ja fast nichts.
    Was machen die Menschen, wenn es wirklich ernst wird?

  • Ute Plass sagt:

    @Elanne -gute Frage: “Was machen die Menschen, wenn es wirklich ernst wird?”.

    Ernst ist die Weltlage ja insgesamt , wenn auch nicht
    wegen dem Virus SarsCov-2, sondern wie Dorothee Markert aufzeigt,
    wegen einer zerstörerischen kapitalistischen Produktionsweise, die kein ‘Genug’ kennt.
    Einerseits dürfte dies durch die Definition “epidemische Lage von nationaler Tragweite” bei mehr Menschen ins Bewußtsein gerückt sein, andererseits versucht die Regierung mit gigantischen Geldsummen einen, weiter Demokratie gefährdenden, Kapitalismus zu retten.

    Meine anfängliche Hoffnung, dass die Corona-Krise einen umfassenden Bewusstseinswandel mit bewirken könnte, ist leider
    sehr schnell zerstoben.

    Wovon ich genug habe, ist die Panik- u. Angstmache von Politik und diversen Medien.

    Genug habe ich von einer fürsorglichen Entmündigung und von einer Lock-down-Romantisierung, die die regierungsamtlich verordneten Maßnahmen zu klösterlichen Einkehrtagen verklären.

    Genug habe ich davon, dass Menschen nicht Verantwortung übernehmen im Umgang mit ihrer Angst, sondern sich einschüchtern lassen von Bildern und Zahlen, welche sie unhinterfragt hinnehmen.

    Genug habe ich von politischen Entscheidungen, die sich vor allem auf einen virologischen Tunnelblick stützen, die mit dazu beitragen, weitaus größere Schäden, Leid und Tod zu verursachen als dieses Virus selbst.

    Genug habe ich davon, dass so viele Menschen die Aussetzung von wesentlichen Grundrechten hinnehmen zugunsten einer vermeintlichen Sicherheit.

    Genug habe ich auch von sog. Leitmedien, die “alternative Expertisen” als Verschwörungen abtun und diverse Internetforen, die diesen Gehör schenken, gleich mit denunzieren.

    Wovon ich nicht genug habe, ist Aufklärung, die der Entängstigung dient und zum Selber- und Weiterdenken anregt:

    “ beziehungsweise weiterdenken” kann da gar nicht ‘zuviel’ werden.;-)

  • Merci für Artikel und Kommentare, ich hoffe, dass nun wirklich eine gerechtere Gesellschaft sich Bahn bricht! Der alte Kapitalismus führt nicht weiter.
    Glückauf !

  • Ute Plass sagt:

    “Manche glauben ja, dass aus dem Schock etwas Gutes entstehen wird. Vielleicht, was so dringend nötig wäre: Staaten, die sich wirklich um ihre Bürger und Bürgerinnen kümmern, Staaten mit mehr Demokratie, mehr Gerechtigkeit, weniger Umweltzerstörung, viel weniger Profitdenken im Gesundheitswesen. Ein naiver Glaube.”
    (Zitiert aus: westendverlag.de, Kommentare, Risiken und Nebenwirkungen)

  • Fidi Bogdahn sagt:

    Danke für den Artikel, und danke für Ute Plass` Kommentar!
    Ich möchte einen mir sehr wichtigen Gedanken noch anfügen bzw. hervorheben:
    Es ist nicht selbstverständlich aber doch relativ leicht, dankbar zu sein,
    wenn genug vorhanden ist… „…dankbar dafür, dass ich genug habe, genug zu essen,
    genug Schönes in meiner Umgebung, genug gute Beziehungen, genug Kleidung, genug…“.
    Ja, Dankbarkeit ist sehr wichtig, und bestimmt ist in dieser Corona Zeit die Wahrnehmung dafür für viele noch mal ganz neu gekommen.
    Das ´Genug` birgt für mich aber noch eine ganz andere LebensQualität (und dieses Genug setzt nicht ein Genügend voraus, -denn das hieße ja, ich wäre dann nur bisschen bescheidener; nein): es ist genug da und wird “mehr“, wenn es mir genügt – so wie es letztlich ist.
    “Die Orientierung am „Genug“ ist kein Verzicht, es ist noch nicht einmal eine Beschränkung.“
    Es ist für mich stets genug da – zum Leben und damit auch zum Sterben.

  • Antje Schrupp sagt:

    Liebe Dorothee, danke für dein Aufschreiben dieser Diskussion. Ich denke immer noch an der Freiwilligkeit der Grenzen herum – und oute mich hier mal als diejenige Mitdenkerin, die “behauptete, Grenzen seien nie freiwillig, sonst wären es keine.” Tatsächlich bin ich immer noch dieser Überzeugung, denn du schreibst ja selbst am Ende: “Die Orientierung am „Genug“ ist kein Verzicht, es ist noch nicht einmal eine Beschränkung”. Ich denke, was wir erlebt haben, ist etwas anderes als eine “Orientierung am Genug”, sondern in der Tat eine Begrenzung, und zwar eine unfreiwillige. Und wenn wir diese Erfahrung nutzen wollen, um zu einer “Orientierung am Genug” zu kommen, müssen wir, glaube ich, eingestehen, dass beides nicht dasselbe ist.

    Jedenfalls ist das meine Erfahrung, dass freiwilliges “Orientieren am Genug” bei mir nicht funktioniert, ich aber ganz leicht unter Zwang auf etwas verzichten kann. Ich habe aufgehört zu Rauchen, als ich durch eine Zahnwurzelentzündung mit Extraktion und anschließendem Urlaubsflug praktisch dazu gezwungen wurde, und es fiel mir dann wundersamerweise ganz leicht.

    Vielleicht bin ich ja in dieser Hinsicht sehr sonderbar, aber “moralische Freiwilligkeit” funktioniert bei mir überhaupt nicht. Vielleicht erklärt das auch die teilweise sehr emotionalen Debatten über Anti-Corona-Maßnahmen: Viele Leute sind erschrocken, wenn sie sehen, wie leicht Menschen unter Zwang etwas machen, was sie normalerweise nie machen würden (Ute hat ja auch in diese Richtung kommentiert). Und andere Menschen sind erschrocken, wie schnell Leute mit vernünftigem Verhalten wieder aufhören, sobald es nicht mehr vorgeschrieben wird.

    Mit der großen Betonung auf Freiwilligkeit in unserer Kultur machen wir es den Menschen jedenfalls ungeheuer schwer, gut zu sein, weil sie sich für jede gute Tat selber motivieren müssen. Ich weiß nicht, ob das verständlich ist, mir ist der Gedanke auch noch nicht so ganz klar, aber für mich kann ich jedenfalls bejahen, dass man mich häufig “zu meinem Glück zwingen muss” und ich dann dankbar bin, wenn es jemand tut.

    Was man daraus jetzt schließen kann im Hinblick auf das Genug weiß ich auch nicht, aber ich denke, unter Corona haben wir als Gesellschaft das erste Mal (in meiner Lebenszeit) so etwas wie ein ein kollektives Zwangsgefühl erlebt, ähnlich wie sonst vielleicht bei einem Krieg oder regional bei einem großen Unglück (vielleicht damals die Überschwemmungen im Osten).. usw. Und die Erfahrung gemacht, dass eine solche Zwangssituation das Unmögliche plötzlich möglich macht, für mich immer noch das Beeindruckendste die stillstehenden Flugzeuge.

    Naja, bin noch nicht mit Denken fertig,

  • Ulrich Wilke sagt:

    Liebe Dorothee,
    eine weise Denkart liegt deinem Artikel zugrunde. “In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister”, heißt es volkstümlich.
    Gut sind die dran, die ihr Leben den Bedingungen schmerzlos anpassen
    können; das nenne ich “optimieren”. Viele nichtoptimale Arten sind
    ausgestorben; das ist die wesentliche Bedingung der Evolution.
    Hegel soll geschrieben haben: “Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.” Mathematiker unterscheiden fein zwischen “Schranke” und “Grenze”: “Grenze” ist eine erreichbare Größe, also Teil der
    begrenzten Menge; “Schranke” eine unerreichbare.

  • Jutta Pivecka sagt:

    @Antje @Dorothee Ich teile die Erfahrung, dass “Freiwilligkeit” nicht zu Einschränkungen führt. Als eine, die im evangelisch-evangelikalen Milieu aufgewachsen ist, triggert mich jedoch wenig mehr als eine missionarische Askese-Freude, die ich nur zu gut (wieder er)kenne. Wo ich herkomme, war es immer “genug”. Alles, was das Leben bunter, wilder, bequemer, lustiger, verruchter machte, war überflüssiger Luxus, verfemt, wenig “gottgefällig”. Gottgefällig war Verzicht, Genügsamkeit, Selbstbescheidung. “Gebücket mit dem Hut in der Hand, kommst du durchs ganze Land.”, stand gestickt über dem Sofa. Wer mehr und anderes will, als schon da ist, bekam die Verachtung der Gemeinschaft schnell zu spüren. Mein Opa (der “Rebell”?) musste den Einbau von Boilern gegen anhaltenden Widerstand durchsetzen, denn fließend warmes Wasser verwöhnt und macht faul. — Mich wird daher keine mehr zum “Genug” bekehren können. Tatsächlich bin ich auch philosophisch und evolutionstheoretisch davon überzeugt, dass nur der Überfluss, die Verschwendung, das “Zuviel” genügend Chancen zur Anpassungsfähigkeit an sich verändernde und unvorhersehbare Entwicklungen bieten. Es ist ja auch gar nicht so, dass es immer von allem mehr gibt. Pferdekutschen gab es auch schon mal mehr. Und jetzt gibt es fast keine mehr. Ich vermisse sie nicht. Und so wird’s mit Autos (und vielen anderen) auch sein. Nur wird es dann etwas geben, was wir uns wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen können. (Vielleicht werden wir uns “beamen”;-)) Was aber nur entstehen kann, wenn wir den Überfluss haben, das Überschießende, das Zuviel, den wilden Wuchs. — Kaum etwas fürchte ich daher mehr, als dass weltanschaulich gefestigte Missionar_innen festlegen (wollen), was wovon für wen “genug” ist. Ja, im Gegensatz zu den meisten anderen in meinem Umfeld fürchte ich mich davor sogar mehr als vor allen möglichen und wahrscheinlichen Folgen z.B. des Klimawandels. Und deshalb setze ich weiter auf “Freiwilligkeit”. Weil ich gar nicht weiß (und auch keiner anderen zutraue es zu wissen), was im Einzelnen “gut” ist für alle – und aus welcher Wucherung, die mir und anderen heute vielleicht unsinnig und verschwenderisch erscheint, das Neue entstehen könnte, das wir brauchen.

  • Antje Schrupp sagt:

    @Jutta – ich würde dir weitgehend zustimmen, aber viele Leute muss man erstmal zwingen, sich in ein Auto zu setzen, bevor sie die Pferdekutsche aufgeben, oder? Der Überschuss des Internet ist doch ein gutes Beispiel: So viele Leute haben erst jetzt, unter Zwang, gemerkt, was man damit alles machen kann!

    PS: Was mir noch einfällt: Die pietistische Losung war aber ja gerade nicht Zwang, der, denn es ging doch moralisch darum, dass man es “einsieht”, dass man also nicht nur macht, was vorgegeben wird, sondern dass man es auch “selber will”.

  • Jutta Pivecka sagt:

    @Antje Du hast Recht, der Pietismus setzte auf den Zwang des Gewissens. Das war wirksam. Und sehr einschneidend. Ich habe manche Nacht wach gelegen und gedacht, dass ich in die Hölle komme, weil ich nicht will, was ich doch wollen soll.
    Und dennoch weiß ich – und “will” es inzwischen auch -, dass dieses Denken mich geprägt hat und ich mich davon nie ganz werde “befreien” können. Ich nehme daraus etwas mit, was mir gegenwärtig immer wichtiger wird: die Idee der Freiheit mit jener der Verantwortung zu verbinden.
    Aus der Überforderung, die ich erfahren habe, leite ich aber auch ab, die Begrenzung eher anderswo zu suchen: Ich fordere Freiheit nur dort, wo ich die Verantwortung übernehmen kann und ich übernehme Verantwortung nur dort, wo meine Fähigkeiten es zulassen. Das setzt meinen Utopien Schranken. Auch meinem Begehren, das früher eher nach dem Unmöglichen, nach dem “Paradies auf Erden” sich gestreckt hat. Ich habe gelernt, dass auch das Paradies ein Garten ist – und jeder Garten eine Begrenzung hat (auf vielen alten Bildern ist es sogar eine Mauer). Die Grenze ist das eigene Vermögen. Es realistisch einzuschätzen ist die Verpflichtung. Mein Begehren zielt nicht mehr darauf, “die Welt” zu gestalten, sondern auf das Wirken in jenem “Garten”, dessen Grenzen die meinen sind. Seit ich die Begrenzung anerkenne, bin ich zufriedener, aber auch viel weniger “missionarisch”. Vielleicht könnte man es sprachlich so fassen: Ich strebe nicht mehr nach “dem guten Leben für alle”, sondern nach einem besseren für alle. ” Ein Bild/eine Utopie von einem Paradies ohne Grenzen (das kein Garten mehr ist, sondern die Welt) erscheint mir mehr und mehr vermessen.
    Zurück auf die pragmatische Ebene: Ja, man muss die Menschen überreden (nicht zwingen) von der Pferdekutsche ins Auto zu steigen…Es gelingt ja auch oft in Beziehungen. Meine Mama am Telefon zu ihrer Freundin: “Schau mal, wenn Du ein Smartphone hättest, dann könnten wir uns ab und zu Gifs schicken…” (und dann erklärt sie, was Gifs sind…) (Und wenn ich wütend bin, dann kann es schon vorkommen, dass ich die Leute zwingen will und gelegentlich fühle ich eine ekle Lust an Repressionen z.B. gegen Leute, die ihre SUVs auf dem Fahrradweg parken usw. usw….Manches muss man auch mit Zwang regeln, wahrscheinlich, aber ich bin froh, dass ich dafür die Verantwortung nicht trage.)

  • Antje Schrupp sagt:

    @Jutta – sehr interessantes Thema. Die “Welt” ist ja laut Hannah Arendt nicht etwa “alles”, sondern das, was zwischen Menschen entsteht, die sie gestalten. Die Frage wäre, was ist der Unterschied zwischen deinem Paradiesgarten und dem “nur Privaten”, und wie hängt deine Unterscheidung (wenn überhaupt) mit der zwischen dem Persönlichen und dem Politischen zusammen? Aber führt jetzt in diesem Kontext hier vermutlich zu weit.

    PS: Kennst du Dorothees Buch über den Pietismus? https://antjeschrupp.com/2010/11/24/pietismus-und-revolution/

    Meine “christliche” Sozialisation fand ja als Kampf gegen den “Pietkong” statt, das waren ja regelrechte Kulturkämpfe damals in den 1980ern, jedenfalls bei uns auf dem Land.

  • Jutta Pivecka sagt:

    @Antje Klar kenne ich Dorothees Buch. Ich habe sogar darüber geschrieben: https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2013/09/doppelgesichtigkeit-unser-verdrangtes.html
    Und über die “Gärten”: Hortus conclusus
    Privat vs politisch: Ich denke nicht, dass “der Garten”, in dem ich wirke(n will) nur “privat” ist. Meine (Erwerbs-)Arbeit z.B. ist durchaus auch politisch. Wie vieles andere, wofür und worin ich mich engagiere. Aber ich lerne, mich – und meine Umwelt – nicht zu überfordern. Die Grenzen meiner Verantwortlichkeit (die ja die Grenzen meiner Fähigkeiten und meiner Einsichten sind) einzusehen und in meine Forderungen (an mich und andere) fürsorglich einzubeziehen.
    Das Verhältnis zwischen privat und öffentlich ist dann tatsächlich noch einmal ein weiteres Thema – da verändert sich gegenwärtig vieles und das zu beschreiben und zu erkennen erfordert schon viel Mühe, noch schwieriger – zumindest für mich – ist gerade herauszufinden, was ich in Bezug auf dieses Verhältnis will (wollen kann).

  • Dorothee Markert sagt:

    Danke für eure Kommentare und Ergänzungen und die lebhafte Diskussion am Ende.
    @Jutta: Offensichtlich ruft das Wort “genug” schon von sich aus die Assoziationen “moralisch” und “zum Verzicht genötigt werden” hervor, so dass gar nicht mehr so genau gelesen wird, was ich wirklich meine. Ich spreche immer von einem persönlichen “Genug”, d.h., jede Person kann das nur für sich herausfinden, was bedeutet, dass es sehr unterschiedlich empfunden wird und daher viel Differenz hervorbringt. Wahrscheinlich sollte ich nicht vom “Genug” sprechen, ohne die anderen Begriffe aus dem ABCdesgutenlebens dazuzunehmen, ohne die vielleicht wirklich nicht verstanden werden kann, was ich meine. Außer der Dankbarkeit sind das vor allem die Fülle, die Schönheit und das Innehalten. Also: Kein “Genug” ohne Fülle und Schönheit und kein von außen gesetztes Genug. In meinem Text hier habe ich ja von einer Erfahrung des Genug geschrieben, die Menschen durch die Corona-Begrenzungen machen konnten und auch wirklich gemacht haben. Auch über ein jeweils konkretes Zuviel, das jenen Menschen durch diese Erfahrungen bewusst wurde. Und ich habe behauptet, dass die derzeitige Konsumzurückhaltung durchaus etwas mit diesen Erfahrungen zu tun haben könnte.
    @Antje: Du hast wahrscheinlich Recht, dass für viele Menschen eine Begrenzung oder ein gewisser Druck nötig sind, damit sie neue Erfahrungen machen, so wie du gemerkt hast, dass du gut ohne das Rauchen leben kannst. (Solche Begrenzungen müssen gar nicht von außen gesetzt werden, meistens bringt das Leben sie von selbst mit). Aber ich höre nicht auf zu hoffen, dass Menschen aus diesen neuen Erfahrungen dann etwas in ihre eigene “freiwillige” Lebensgestaltung integrieren, so dass es langfristig auch zu deutlichen Veränderungen kommt. Wenn du da so pessimistisch bist, dann frage ich mich, wie du dich gleichzeitig als Anarchistin bezeichnen kannst. Denn der Anarchismus setzt doch ganz massiv auf verantwortungsvolle Lebensgestaltung und politische Aktivitäten, die ohne Begrenzungen und Druck von außen, zumindest ohne Herrschaft und Hierarchien auskommen, oder habe ich da was falsch verstanden?

  • Jutta Pivecka sagt:

    @Dorothee Du hast Recht – mich triggert die Freude an der Selbstbeschränkung – sofort!
    Sicher habe ich da, bezogen auf deinen Text, überzogen und dich wohl auch missverstanden. Aber auch beim nochmaligen Lesen glaube ich ableiten zu können, dass du eine gesellschaftliche Konsequenz aus den Erfahrungen des “Lockdowns” (den es in Deutschland ja nur bedingt gab, anders als z.B. in Spanien) wünschst, keine nur individuelle. Darauf bezog sich der 2. Teil meines Kommentars. Ich glaube tatsächlich nicht – vor allem auch nicht in Bezug auf den Klimawandel – , dass von der beobachteten “Konsumzurückhaltung” Hoffnung ausgeht. Das löst keinerlei Probleme, sondern verschafft nur einigen ein besseres Lebensgefühl. Das ist ok und schön für die Betroffenen, aber nach meiner Überzeugung steckt darin keinerlei Lösungsansatz z.B. für den Klimawandel. Es wird z.B. nicht mehr Elektrizität, die viele längst nicht haben, aber sich ersehnen, dadurch erzeugt, dass hier weniger T-Shirts gekauft oder Schokoriegel verzehrt werden. Der Rückgang des Co2-Ausstoßes ist temporär und der wirtschaftliche Rückgang kann dazu führen, dass technologische Innovationen und der Umbau der Carbonwirtschaft weltweit noch langsamer vorankommen. Genau das befürchte ich.

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