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Rubrik Blitzlicht

Ein Schulaufsatz von 1998 über Geschlechterrollen

Von Kathleen Oehlke

„Sexism in the Schoolhouse“ lautet die Überschrift eines Zeitungsartikels von 1992, mit dem wir im Schuljahr 1998/99 im Englischunterricht gearbeitet haben. Darin wird über eine Studie berichtet, der zu Folge Mädchen und Jungen im Schulunterricht unterschiedlich behandelt werden – zum Nachteil der Mädchen. Gegen Ende des Artikels wird die Sichtweise der damaligen stellvertretenden US-Bildungsministerin Diane Ravitch dargestellt, die folgendermaßen zitiert wird: Rather than sexism in education, …, the problem is sexist attitudes encouraged by TV, advertising and movies: the researchers „picked the wrong target.“

Kürzlich fiel mir mein Aufsatz, leider ohne die genaue Aufgabenstellung, in die Hände und löste einiges bei mir aus. Ich gehe davon aus, dass wir zum Zitat von Diana Ravitch Stellung beziehen sollten. Und das schrieb ich dazu (stilistisch etwas geschliffene Übersetzung):

Ich denke, dass Sexismus in unserer Gesellschaft nicht auf einen einzelnen Bereich des täglichen Lebens zurückzuführen ist. Natürlich spielen Fernsehen und Werbung eine wichtige Rolle bei diesem Problem, aber ich bin davon überzeugt, dass seine Wurzeln in der Erziehung und der Bildung liegen. Wenn Babys alt genug sind, um mit Spielzeug zu spielen, bekommen sie dieses von ihren Verwandten. Aber da gibt es einen Unterschied. Jungen bekommen Spielzeugautos, Bälle oder Puzzles, wohingegen Mädchen daran gewöhnt werden, mit Puppen, kleinen Backöfen und Babyausstattung zu spielen. Das bedeutet, Jungen kommen im Alter von drei oder vier Jahren mit technischen Dingen in Berührung, während Mädchen vielleicht niemals z. B. ans Reparieren ihres Fahrrades herangeführt werden. Stattdessen lernen sie den Haushalt zu führen und bekommen den Eindruck, dass ihr Job etwas mit Bildung oder Kinderbetreuung zu tun haben muss.

Dazu kommt, dass es in der Schule LehrerInnen gibt, die Vorurteile gegen Mädchen haben, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern. Dadurch fühlen sich dann auch die Jungen den Mädchen überlegen. Persönlich habe ich Erfahrungen mit dem Verhalten von Jungen z. B. im Sport gemacht. Ich spiele gern Basketball, weswegen ich häufig mit den Jungen im Jugendclub spiele. Als ich gerade angefangen hatte, wollen manche Jungs nicht gern mit mir spielen. Dazu muss ich sagen, dass ich das einzige Mädchen dort bin, so dass es für sie eine neue Erfahrung war. Wie jede/r, habe ich mich im Lauf der Zeit verbessert und mittlerweile macht es den Jungen nichts mehr aus, mich in ihrem Team zu haben. Diese Erfahrung lehrte mich, das Mädchen und Frauen nicht aufgeben sollten, für ihre Rechte zu kämpfen.

Die andere Seite des Konflikts ist, dass das, was Kinder von ihren Eltern lernen, täglich im Fernsehen und in der Werbung gezeigt wird. Deswegen glauben Kinder wirklich, dass Frauen eine Art Bedienstete der Männer oder gar eine niedere Spezies sind. Da ist z. B. dieser Werbespot für Würstchen, in dem ein Junge und sein Vater von einem Fußballspiel nach Hause kommen, während die Hausfrau in der Küche arbeitet. Vater und Sohn setzen sich an den Tisch und bestellen bei der Mutter die beworbenen Würstchen als seien sie in einem Restaurant. Meiner Meinung nach ist dies typisch für nachahmendes Verhalten. Der Vater in diesem Spot zeigt dem Jungen, wie eine Frau zu behandeln ist. Und die Mutter sagt nichts gegen dieses Verhalten, so dass der Junge glauben muss, dass das so richtig ist. So kommt es, dass kleine Jungen während der Werbepause in einem Film derartiges Verhalten gezeigt bekommen und es womöglich übernehmen.

Zusammenfassend muss ich sagen, dass die Autorin [wahrscheinlich meinte ich Diane Ravitch] nicht unbedingt falsch liegt. Aber sie behandelt das Problem nicht in seiner Komplexität und dass es aus verschiedenen Faktoren besteht, die miteinander verknüpft sind.

Nachdem ich mich darüber gefreut hatte, dass ich auch schon während meiner Schulzeit kritisch auf Geschlechterstereotype geschaut habe, kam bei mir eine Art Wut hoch. Ich hatte plötzlich ganz klar und aus eigenem Erleben vor Augen, dass die stellv. US-Bildungsministerin vor fast dreißig Jahren auf den enormen Einfluss von Werbung auf die Reproduktion von Geschlechterklischees hingewiesen hat. Und zwar so, dass das Thema auch im „ganz normalen“ Schulunterricht behandelt wurde. Und nun finde ich meinen Schulaufsatz wieder und muss feststellen, dass er aktueller geworden ist anstatt veraltet. Mir scheint es, als hätten etliche Marketingabteilungen dieser Welt den Artikel und das Zitat von Diane Ravitch gelesen und ihr unbedingt Recht geben wollen. Aber nicht, ohne zumindest klischeebeladene Grüße in Form von Prinzessinenfedertaschen und Pausensnacks „für echte Kerle“ in die Schulen zu schicken.

Rückblickend würde ich sagen, dass ich zwar eigene Erfahrungen in den Aufsatz einfließen lassen konnte, aber gleichzeitig nicht den Eindruck hatte, die Darstellungen in TV und Werbung könnten etwas mit mir zu tun haben. Ich habe ja schließlich mit den Jungs Basketball gespielt. Bis ich allmählich begriff, dass sie sehr wohl etwas mit mir zu tun haben, waren ca. 15 Jahre vergangen. Fünfzehn Jahre, in denen sich die heute ca 60-70 Jährigen vielleicht gefragt haben, wo wir, die „jungen Frauen“, sind bzw. so lange waren. Wieso von uns so lange so wenig zu hören war. Und ich bin wütend. Wütend für alle diese und mit allen diesen Frauen, die seit Jahrzehnten für Geschlechtergerechtigkeit kämpfen, und dann feststellen müssen, dass Rosa-Hellblau-Geschlechterklischees mittels Marketing immer aggressiver reproduziert werden und dass viele junge Frauen das Problem nicht ernst nehmen, vielleicht nicht einmal sehen.

Hoffnungsvoll stimmt mich, dass sich Organisationen wie der Verein Klische*esc e.V. und Pinkstinks unermüdlich dafür einsetzen, das Bewusstsein für problematische Geschlechterklischees zu schärfen und dafür kämpfen, dass diese sowohl aus Klassenzimmern, als auch aus der Werbung verschwinden. Auf dass niemand in zwanzig Jahren diesen Text findet und mit heruntergeklappter Kinnlade feststellt, dass die Problematik mit den Rollenklischees in der Werbung und in Schulen ja 2020 „schon“ bekannt war seitdem immer schlimmer geworden ist.

Quellen und Links

Der im Unterricht behandelte Artikel aus der Sprachlernzeitung „World and Press“ (Mai-Ausgabe von 1992) war eine gekürzte Version des Artikels „Sexism in the Schoolhouse“ von Barbara Kantrowitz erschienen in der Newsweek, 23.2.1992. (https://www.newsweek.com/sexism-schoolhouse-200632 , bis zur Stelle …”picked the wrong target.” )

http://pinkstinks.de

http://klischeesc.de

Autorin: Kathleen Oehlke
Redakteurin: Kathleen Oehlke
Eingestellt am: 23.08.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane Brumberg sagt:

    Deine Wut kann ich verstehen, Kathleen. Interessant ist wirklich, dass eine Themenstellung zu Geschlechterrollen offensichtlich schon seit mehr als 50 Jahren in den Lehrplänen verankert ist, immer dem Zeitgeist angepasst. Ich erinnere mich, dass während meiner Oberstufen-Schulzeit zu Beginn der 1970er Jahre in Schleswig-Holstein bzw. Hamburg zweimal so ein Thema angeboten wurde. Einmal lautete es: “Ist das Abitur (oder Studium) für ein Mädchen überflüssig gewesen, wenn es bald nachher heiratet?” Ein bisschen weiter sind wir also doch, so würde das Thema heute mit Sicherheit nicht mehr formuliert werden. – Deine Wut über den Rückgriff auf uralte Geschlechterstereotype in der Werbung teile ich. Und leider wirkt die Werbung sehr subtil. Da ist ein guter, aufkläernder Schulunterricht, den es ja zum Glück gibt, ein Tropfen auf dem heißen Stein.

  • Dr. Gisela Forster sagt:

    Ich selbst bin in einem Mädchengymnasium aufgewachsen und da war es ganz klar, dass Mädchen in den Naturwissenschaften sehr gut sind. Mathematik war für mich immer wie Erholung, denn man musste nichts lernen, sondern nur den Zusammenhang verstehen, was ich als sehr leicht empfand – aber eben in einer Mädchenklasse, wie es in einer gemischten Klasse gewesen wäre, weiß ich nicht.

    Als ich aber selbst als Lehrerin arbeitete, bemerkte ich, dass in den Klassen die Jungen den Ton angaben, am meisten die frechen, vorlauten und herrscherbewussten Jungs. Und die Mädchen traten dem keineswegs entgegen, sondern flüchteten in die Rolle des hübschen Püppchens, das Gesicht zugeschminkt, den Körper mehr offen als bekleidet und in der Mathematik das leichte Dummchen.

    Nur ganz wenige Mädchen, etwa 5 Prozent, konnten sich dieser Rollenverteilung widersetzen und mit viel Selbstbewusstsein ihre Begabungen auch in Naturwissenschaften zeigen.

    Ich habe mein möglichstes getan, diese starken Mädchen zu fördern, sah aber immer wieder, dass die Mädchen selbst lieber in die zweite Reihe traten.

    Ein weiter Weg seit den Erfahrungen, die in dem Artikel genannt wurden, hin zur Geschlechtergleichheit in der Schule.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Liebe Kathleen, Dein Text erschrickt mich aus zwei Gründen: Einmal, weil ich mich erinnere, dass es auch bei mir und vielen gleichaltrigen Freundinnen so war, dass wir erst “entdeckten”, dass auch wir von den Geschlechterrollenstereotypen betroffen waren, als wir schon über 30 waren Vorher hatten wir uns eingebildet, uns ginge das nichts an, wir seien da “drüber weg”. (Ich selbst habe z.B. viel mit Technik-Spielzeug gespielt.) Es ist bitter zu erkennen, dass eine Frauengeneration nach der anderen diese Erfahrung immer wieder neu machen muss.
    Zum zweiten bin ich erschrocken, weil ich als Lehrkraft mich natürlich frage, was all diese Unterrichtseinheiten zum Thema letztlich bringen. Ich mache jedes Jahr die Erfahrung, dass abgewehrt wird. Fast alle zeigen sich regelmäßig überzeugt, mit ihnen habe das nichts zu tun, ihre Generation sei da weiter und die Werbung (und anderes) habe keine Wirkung mehr auf sie und ich denke immer wieder darüber nach, wie ich das aufbrechen kann.

  • Jutta Pivecka sagt:

    Interessant in diesem Jahr die Haltung meines Deutsch-Kurses (lese gerade Klausuren): Fast alle lehnen die Idee des “Mitgemeint”-Seins im generischen Maskulinum ab. Die weibliche Endung “-in” wird von ihnen eingefordert und als ein selbstverständliches Recht der Frauen angesehen, das ihnen “schon immer zusteht”. Dagegen – fast ebenso einhellig – wird das “Gendersternchen” als überflüssig und eher lästig angesehen. (Im Unterricht hatten wir das vor der Klausur – noch – nicht behandelt.) Es ist ein Kurs, in dem die Frauen die Mehrheit sind, aber die männlichen Teilnehmer vertreten keine andere Position.

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