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„Seine Frau pflegt ihn…“ Warum falsches Framing von Care zu falschen Analysen führt. Ein Fallbeispiel.

Von Ina Praetorius

Am 17. Oktober 2019 sendete das Nachrichtenportal „10 vor 10“ des Schweizer Fernsehens SRF eine neunminütige Reportage mit dem Titel „Pflegekosten – die Armutsfalle“.  Anlass für die Sendung war eine Sparmaßnahme, die das nationale Parlament im März 2019 beschlossen hat: Ab 2021 müssen die sozialstaatlichen Ergänzungsleistungen, die Senior*innen zusätzlich zur regulären Rente beziehen können, um ihre Pflege im Alter zu finanzieren, unter bestimmten Bedingungen von den Erb*innen zurückbezahlt werden. 

Gezeigt wurden in der Reportage zunächst Bewohner*innen eines Alters- und Pflegeheims, die die hohen Kosten ihrer Pflege aus dem eigenen Vermögen bezahlen oder dafür Ergänzungsleistungen beziehen. Danach besucht der Reporter den ehemaligen Swissair-Informatiker Walter Ehn in seiner Eigentumswohnung für ein Interview: Das Pflegeheim ist, so Ehn, für ihn „keine Option“ (Minuten 03.21-03.23), obwohl er seit Jahren gehbehindert und pflegebedürftig ist. Herr Ehn will keine Ergänzungsleistungen beziehen, jetzt wegen der Rückerstattungspflicht erst recht nicht. Er will nicht, dass seine Tochter und die Enkel später  eventuell ihre Wohnung verkaufen müssen, um die Ergänzungsleistungen zurückzahlen zu können (Minuten 06.16-06.26). Der Reporter erklärt den Hintergrund dieser Position mit einem einzigen bezeichnenden Satz: „Seine Frau pflegt ihn, vor allem in der Nacht

Obwohl die Reportage die zur Debatte stehende konkrete politische Maßnahme zulasten von Erbinnen und Erben durchaus kritisch beleuchtet, entsteht hier doch der Eindruck, dass Walter Ehn die vorbildliche Person ist, die im Gegensatz zu den Heimbewohner*innen sich selbst, seiner Tochter und der Allgemeinheit Kosten erspart, indem er günstig zuhause lebt und keine Ergänzungsleistungen bezieht. 

Beanstandung: Die unbezahlten Pflegeleistungen der Ehefrau bleiben unsichtbar

Am 29. Oktober 2019 reichte Martha Beéry-Artho gegen diese Reportage bei der Ombudsstelle der SRG Beschwerde ein. Sie kritisiert zwei Dinge: Zum Einen erfülle die Sendung nicht den in der SRG-Konzession Art.3.3 festgelegten Anspruch der „angemessenen Darstellung und Vertretung der Geschlechter.“ Zum Anderen blieben die unbezahlten Pflegeleistungen der Ehefrau unsichtbar, weshalb das Gebot der Sachgerechtigkeit nicht erfüllt sei. Denn die pflegende Ehefrau werde zwar erwähnt, sie werde aber nicht befragt, und ihre Situation werde nicht geschildert, obwohl sie zwingend zum Thema gehöre. Martha Beéry-Artho schreibt in ihrer Beschwerde: „Pflege kostet Arbeit, Zeit, Einsatz, Energie, … auch wenn sie ohne Bezahlung geleistet wird. … Wie aus den genannten Zahlen der Kosten der zu pflegenden Alten in Heimen zu entnehmen war, (ist) die gratis erbrachte Pflege der Angehörigen zuhause für den Staat kostensparend. … Das kommt nirgends zur Sprache.“  

Ablehnung der Beanstandung: Es handelt sich um zwei Themen

Der Ombudsmann Roger Blum wies am 24. November 2019 die Beanstandung ab, nachdem er eine Stellungnahme der zuständigen Redaktion eingeholt hatte. In seiner Begründung verweist er zum Einen auf die Programmautonomie und gibt der Redaktion Recht, die in ihrer Stellungnahme betont hatte, es seien in der Sendung mehrere Frauen zu Wort gekommen. Zum anderen argumentiert er, und das ist der eigentlich wichtige Punkt, „die Freiwilligenarbeit (sei) in diesem Beitrag nicht das Thema“ gewesen, und es wäre „zu kompliziert“ geworden, diesen Aspekt in einer Sendung zu berücksichtigen, in der es ja um ein anderes Thema, nämlich nicht die Betreuung durch Angehörige, sondern die Frage der Pflegekosten, gegangen sei. Es störe ihn zwar auch, dass „diese wichtige Person, die Herrn Ehn das von ihm gewählte Finanzierungsmodell ermöglicht, nur kurz erwähnt und nicht gezeigt“ worden sei. Aber da die Frau es abgelehnt habe, gefilmt zu werden, läge „keine böse Absicht der Redaktion vor“, zumal überzeugend dargelegt worden sei, dass man „die Freiwilligenarbeit vor allem der Frauen“ in anderen Sendungen thematisiert habe.

Zwei Themen? 

Das Framing der Situation folgt hier deutlich dem schlecht begründeten Verständnis von (so genannter) Ökonomie, das nur „Einrichtungen und Handlungen“ einbezieht, die in den Geldkreislauf einbezogen sind. Entsprechend erscheinen die unbezahlten Leistungen der Ehefrau, die hier entgegen der Terminologie des Bundesamtes für Statistik fälschlicherweise als „Freiwilligenarbeit“ statt als „Betreuungsarbeit“ bezeichnet werden, als ein anderes Thema, das in andere Sendungen verlagert werden kann, in denen es um Anderes, nämlich nicht um Ökonomie, sondern um „Hilfe“ durch „Angehörige“ geht. Die traditionelle, im Zeitalter der Emanzipation längst überwunden geglaubte Dichotomie von (männlich codiertem) öffentlich sichtbarem monetärem Kalkulieren und (weiblich codierter) privat-unsichtbarer Fürsorglichkeit ist leicht zu erkennen. Roger Blum hat allerdings wohl Recht, wenn er keinen „bösen Willen“ seitens der Redaktion erkennen kann. Es geht hier tatsächlich nicht um gut oder böse im individuell moralischen Sinne, sondern um mehr oder weniger plausible Definitionen des Ökonomischen.

Oder doch nur ein Thema namens „Pflegekosten“ ?

Vor dem Hintergrund eines plausibleren bedürfniszentrierten Verständnisses von Ökonomie erscheint die traditionelle Sphärentrennung allerdings als obsolet, denn ob Pflegeleistungen bezahlt oder unbezahlt erbracht werden, spielt keine Rolle, solange die Bedürfnisse der umsorgten Person befriedigt werden. Würde die Situation des Ehepaars Ehn vor dieser Folie zur Darstellung gebracht, so wüssten wir, nachdem wir die Reportage gesehen haben, nicht nur, wie viele Schweizer Franken von wo nach wo geflossen sind, sondern auch, wie viel Zeit und Energie die Ehefrau investiert, wie viel sie durch ihre Leistung zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beigetragen und folglich dem Staat an Kosten erspart hat, wie sich ihre Tätigkeit auf ihr Befinden und ihre eigene Alterssicherung auswirkt, kurz: wie es ihr geht. Statt der traditionellen zweigeteilten Welt aus einer von Geldwerten dominierten sichtbaren Sphäre und einer von vor- oder außerökonomischer ehelicher Liebe bestimmten unsichtbar gemachten Privatsphäre hätten wir ein sachgerechtes Gesamtbild, in dem eine realistische Kostenrechnung im Sinne und zugunsten aller Beteiligten allererst möglich würde. 

Beschwerde abgelehnt: Der Entscheid der UBI vom 29. Mai 2020

Martha Beéry-Artho hat am 19. Dezember 2019 ihre vom Ombudsmann abgelehnte Beschwerde an die nächste Instanz, die UBI (Unabhängige Beschwerdeinstanz Radio und Fernsehen) weiter gezogen. An ihrer Sitzung vom 29. Mai 2020 hat auch die UBI die Beschwerde abgeleht. In der Begründung, die am 14. August 2020 versandt und publiziert wurde, steht: „Die Beschwerdeführerin rügt, die Berichterstattung sei unvollständig gewesen. Die Redaktion habe nicht darauf hingewiesen, dass der pflegebedürftige Mann nur dank der unentgeltlich erbrachten Pflegeleistungen seiner Frau weiterhin zu Hause leben könne. Diese Rüge ist jedoch unbegründet, verweist doch die Redaktion in einem Off-Kommentar ausdrücklich auf die Pflegeleistungen der Ehefrau («Seine Frau pflegt ihn, vor allem in der Nacht.»). Aufgrund des Kontexts und der Ausführungen des Mannes war für das Publikum erkennbar, dass die Ehefrau diese Betreuung unentgeltlich erbringt. Dass die Informationen zu diesem Aspekt etwas knapp ausfielen, hatte seinen Grund auch im Umstand, dass sich die Ehefrau nicht vor der Kamera äussern wollte. Das Publikum wurde aber aufgrund des erwähnten Hinweises der Redaktion nicht über die von der Frau erbrachten Pflegeleistungen getäuscht, dank welchen ihr Ehemann zu Hause bleiben konnte.“

Was schließen wir daraus?

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 30.08.2020

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Aus meiner Sicht unverständich der Entscheid er UBI: Die durch die Ehefrau kostenlos erbrachten Leistungen hätten in die Gesamtsicht zwingendeinbezogen werden müssen, auch wenn diese sich nicht persönich dazu hat äussern wollen!

  • Kathleen Oehlke sagt:

    Bemerkenswert finde ich auch die Ausdrucksweise des Sprechers. Ihm zufolge hat Herr Ehn sich eine Eigentumswohnung gekauft, in der er jetzt lebt. Ich hätte ja zumindest gedacht, dass sich die Eheleute Ehn gemeinsam eine Wohnung gekauft haben, in der sie nun im Alter leben. So finde ich es noch schlimmer, aber vielleicht sogar ehrlicher. Es ist SEINE Wohnung, in der ER lebt. Nun ja.
    Und zur Entscheidung der UBI: Ja, in der Sendung ging es um Ergänzungsleistungen und evtl. Rückzahlungen. Immerhin wurde die Pflegearbeit seiner Frau nicht als Liebesdienst an Herrn Ehn bezeichnet. Und den Kindern und Enkeln bleibt mehr vom Erbe, wie schön. Was aber bleibt Frau Ehn, sollte ihr Mann vor ihr sterben? Angesichts des Gesundheitszustandes von Herrn Ehn ist das ja gar nicht so unwahrscheinlich. Zumindest dieser Aspekt hätte erwähnt werden müssen. Denn was ist, wenn Frau Ehn, womöglich verwittwet, selbst pflegebedürftig wird? Wird sie die Wohnung erben und verkaufen dürfen, um einen Platz in einem guten Pflegeheim zu finanzieren?

    Es ist ja fast schon ironisch, dass Frau Ehn selbst nicht gezeigt wird, wenn auch auf eigenen Wunsch. So bleibt die Pflegearbeit auch im wörtlichen Sinn unsichtbar. Bravo, SRF. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich partout kein Ehepaar finden ließ, bei denen beide Beiteiligten hätten zu Wort kommen wollen.

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