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Was Sprache mit uns macht

Von Adelheid Ohlig

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Sprache bestimmt das Bewusstsein. Umgekehrt stimmt es auch: Bewusstsein bestimmt unsere Sprache. Kübra Gümüşay lockt uns mit diesem Buch auf die Fährten der Sprache, die uns zu neuem Bewusstsein führen kann. Eine gerechte Gesellschaft bereitet sich auch durch Wortwahl vor. Wenn ich nicht angesprochen werden als die, die ich bin, werde ich nicht gesehen. In unserer Sprache ist es wichtig zu differenzieren, die Möglichkeiten zu nutzen, die eine der, die, das Sprache bietet. Ob in Sprachen, die die Unterscheidung nach Geschlecht nicht treffen, bei Prime Minister, doctor, teacher das Bild einer Frau vor dem inneren Auge aufscheint, wurde bislang nicht untersucht. Das wüsste ich gern.

Gümüşay führt locker von der Macht der Sprache zu den Lücken, die durch einen Absolutheitsglauben entstehen. In ihren klugen, klaren Ausführungen liegt Potential: werden wir uns unserer Sprache bewusst. Und sehen wir Vielsprachigkeit als Fähigkeit und nicht als Mangel, wie es gerade kürzlich ein Bericht einer Kulturbehörde in Österreich suggerierte.

Zahlreiche Querverweise stützen die Darlegungen der Autorin, die von ihrer Sehnsucht nach einer menschlichen Sprache ausgehen. Sie sehnt sich nach einer einbeziehenden Sprache, einer Sprache, die Differenzierung und Gemeinschaft zulässt, einer Sprache, die  unsere Welt nicht begrenzt, sondern unendlich weit öffnet und Freiheit schenkt: «Freies Sprechen setzt voraus, dass die eigene Menschlichkeit und Existenzberechtigung nicht zur Disposition steht.» Erleichternd empfinde ich ihren Hinweis, dass wir erst auf dem Weg dazu sind und Fehler machen werden, Fehler machen dürfen, kritisieren dürfen, ohne schon gleich Lösungen parat zu haben. Ohne Fehler hätten wir nie etwas gelernt. Auch dank unserer Fehler lernen wir die Welt und uns selbst kennen.

Mit «Sprache und Sein» gibt Gümüşay Anreize, zu hoffen: «Anreize sich der eigenen Perspektive und Begrenztheit bewusst zu werden. Und damit der Potenziale dieser Welt. Anreize, an der Gesellschaft mitzubauen, in der wir wirklich leben wollen.»

Ich wünsche Büchern dieser Art grosse Verbreitung, um ein gerechtes, gütiges, wertschätzendes Miteinander entstehen zu lassen.

Kübra Gümusay, Sprache und Sein, Hanser Verlag Berlin 2020, 208 S., 18 Euro.

Autorin: Adelheid Ohlig
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 29.09.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Gudrun Nositschka sagt:

    Liebe Adelheid Ohlig,

    zu Ihrer Frage gibt es bereits Forschungsergebnisse, die die Linguistin PD Dr.in Friederike Braun der Uni Kiel auf der Tagung der Gerda-Weiler-Stiftung zum Thema “MutterSPRACHE” 2008 in Hannover vorgestellt hatte. Sehr erhellende Ergebnisse was das “generische Maskulinum” im Gehirn auslöst – weit und breit wird eine Frau noch nicht einmal mitgedacht, auch nicht von Frauen!

  • Jutta Pivecka sagt:

    Kübra Gümüsays Essay ist allseits auf viel Zustimmung und sogar Begeisterung gestoßen. Mir dagegen ist es schwer gefallen, das Buch bis zu Ende zu lesen, da ich es gedanklich sehr schwach finde.
    Diese Rezension verweist schon im ersten Satz auf einen meiner Hauptkritikpunkte: Zwischen dem im Titel angesprochenen “SEIN” und dem Bewusstsein unterscheidet die Autorin kaum. Dabei ist diese Unterscheidung gerade auch für sprachtheoretische Überlegungen zentral. So kommt es dazu, dass Gümüsay m.E. die Sprache gleichermaßen unterschätzt wie überschätzt. Sie überschätzt Sprache, indem sie suggeriert, dass Sprache allein “Sein” schafft, dass also die Welt selbst eine (fast) ausschließlich durch Sprache konstruierte sei. Das gilt, wie ich finde, gerade in unserer modernen europäischen (spätestens seit der frühen Neuzeit) durch Bilder und Bildwelten konstituierten Welt”anschauung”(!) kaum. Diese Differenzierung erst hätte auch erlaubt, herauszuarbeiten, wie sich die Formen der Weltkonstruktion in Orient und Okzident seither von einander weg entwickelt haben (gleiches gilt für die Unterscheidung zwischen Schriftsprache und Mündlichkeit, die ebenfalls unterbelichtet bleibt).
    Eine alles inkludierende Sprache kann es meiner Auffassung nach gar nicht geben (da Sprache weder die Welt IST, noch diese 1:1 je “abbilden” kann) – und gerade deshalb sind die Grenzen unserer Welt eben nicht die Grenzen unserer Sprache. Und hier unterschätzt Gümüsay die Sprache und ihre Möglichkeiten. Sprachliche Interventionen, die Grenzen verschieben und Gedankenräume eröffnen, vollziehen sich nämlich nicht nur über die von Gümüsay vorgeschlagenen, die auf die Schließung ganz bestimmter, JETZT idenfizierter “Lücken” abzielen (und damit dialektisch unvermeidbar neue “tote Winkel” schaffen), sondern seit je eben gerade durch die Ungenauigkeit und Unlogik der Sprache und den Umgang mit den daraus resultierenden Missverständnissen, z.B. durch Ironie und Humor. Die Thematisierung der Lücke im und durch den Witz ist eine der ältesten und zugleich wirksamsten Methoden, die Unzulänglichkeit der Sprache offenkundig zu machen und zu überschreiten. All das kommt bei Gümüsay aber nicht oder kaum vor.(Am schlimmsten und gefährlichsten wäre daher meiner Auffassung nach eine – dem Anspruch nach – “perfekte” logische Sprache. Genau darin sehe ich auch das Problem der Sternchen etc.; in der angelegten Eskalation, die immer neue, komplexere und unverständlichere Kombinationen erfordert, um eine immer “korrektere” Sprache zu schaffen. Auch Sprachenvielfalt mit all den Übersetzungsproblemen ist ein wirksamer Schutz vor Verabsolutierung. Daher ist es gut, dass Übersetzungsarbeit nie ganz gelingt, sondern immer neue “Lücken” aufreißt, auf die ein reflektierter und gewitzter Umgang mit Sprache aufmerksam wird.)

    So bleibt für mich der Eindruck, dass es weniger um ein philosophisches Nachdenken über Sprache (und Sein ?) geht, als um eine recht schlicht gedachte und allseits bereits bekannte politische Agenda Gümüsays. Dabei wirkt es schal und geradezu traurig, dass dort, wo es konkret werden könnte, die beklagte Hierarchie der Literaturen nicht wirklich aufgehoben wird. Denn Gümüsay fordert zwar z.B. die Einbeziehung türkischsprachiger Literatur in den Unterricht deutscher Schulen (was ich begrüße), weiß dann aber keine Autorin, keinen Autor zu nennen, außer nationalistisch-islamistische Apologeten des “Türkentums”. Mag sein, dass sie selbst kaum türkischsprachige Literatur liest und kennt. Spontan fiele mir für die Schule das Werk Perihan Mağdens ein, die, in der Türkei sehr populäre, Romane geschrieben hat, die sich mit jugendlichen Lebenswelten in der Gegenwart auseinandersetzen. Wer mit türkischsprachigen Literaturliebhaberinnen spricht, wird auch immer wieder z.B. auf den Namen Nâzım Hikmet stoßen und nicht zuletzt auf den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Keine der genannten (oder viele andere) erwähnt Gümüsay, sondern Necip Fazil Kisakürek, den hasserfüllten Antisemiten. Ich weiß, dass sie sich dafür entschuldigt hat, seine Schriften seien ihr nicht bekannt gewesen. Aber offenbart sich dann hier nicht eine fast unglaubliche Ignoranz gegenüber der türkischen Literatur, die derjenigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft in nichts nachsteht?
    Zum generischen Maskulinum -> meine Schülerinnen und Schüler (davon mehrere türkische Muttersprachler*innen) haben sich im vergangenen Jahr sehr intensiv damit auseinandergesetzt – ausgehend von Gümüsays Thesen. Sie endeten ihre Präsentation mit einer Gegenüberstellung von statistischen Erhebungen zu verschiedenen frauenrechtlichen und emanzipatorischen Themen (demokratische Beteiligung, sexualisierte Gewalt, Vermögensverteilung…etc.pp.), um zu zeigen, dass Sprache allein (eben hier: kein generisches Maskulinum im Türkischen) keine Veränderungen bewirkt.

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