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Rubrik erinnern

Sie war eine, die genau hinschaute. Ein Nachruf auf Marianne Wex.

Von Heike Brunner

Körperhaltung im öffentlichen Raum 2020 copyright H.Brunner

Die Künstlerin und (Selbst-)Heilerin Marianne Wex wurde 83 Jahre alt.

Berlin: Ich sitze in der U-Bahn Linie 3 Richtung Krumme Lanke. 14 Stationen habe ich vor mir und nutze die Zeit, um den den öffentlichen Raum zu beobachten. Den Raum, den auch Marianne Wex beobachtet hat. Sie wurde damit berühmt, vor allem ihre Bilder dazu. Die Herren rechts und gegenüber von mir sitzen breitbeinig, die Damen zur linken und rechten mit überschlagenen Beinen. Nur eine junge Frau mit Cowboy-Stiefeletten, zerrissener Jeanshose, rotem Janker und Kurzhaarschnitt hat die Beine entspannt abgestellt. Sie hält ein Buch auf den Oberschenkeln abgestützt, in dem sie vertieft liest. Ihre Beine sind nicht so weit wie die der Herren geöffnet, aber auch nicht verschämt zusammengedrückt. Dennoch ist sie von sechs sitzenden Frauen die einzige in dieser lockeren Haltung, alle anderen sitzen platzsparend und verschränkt.

Zeichnung Frau in der U3 mit lockerer Sitzhaltung 2020 copyright H.Brunner

Marianne Wex ist die Frau, die diese Haltungsmisere per Zufall schon in den 1970ern aufdeckte und dann dokumentiere – in der Ausstellung ‘Let`s take back our space: Weibliche und männliche Körpersprache als Ergebnis von patriarchalen Strukturen“, 1977. Die studierte Künstlerin mit einer Ausbildung in Hamburg und Mexiko erhielt als erste Frau in Hamburg eine Dozentenstelle für Kunst. Über mehrere Jahre fotografierte sie Frauen und Männer im öffentlichen Raum. Erst bei der Sichtung dieser Arbeiten wurden ihr die stereotypen Körperhaltungen von Frauen und Männern bewusst. Sie hielt der Gesellschaft den Spiegel vor, die Bilder wurden zudem im Stern abgebildet und in der ganzen Republik bekannt. Viele taten ihre Bilderserien zunächst als reine Dokumentation ab. Doch sie inszenierte diese schwarz-weißen Bildreihen sehr bewusst indem sie Ausschnitte aus der Werbung und Abbildungen von Politikern unter die Bilder montierte; die breitbeinig sitzenden Männerreihen immer über die Bildreihen der Frauen. Es waren oft doppelt so viele Frauen zu sehen, denn sie machten sich so klein und saßen so eng gedrängt, dass es beim Ansehen schier schmerzte. Die Bilder ließen keine Ausreden mehr zu, wohl aber Raum zur Bewusstwerdung.

Als Teenager habe ich die Bilder auf kopierten Blättern im Gesellschaftskundeunterricht zu sehen bekommen. Wir diskutierten dazu wie wild und das hat meine Generation sehr stark geprägt: Haltung öffentlich zu verändern, sich als Frau Raum zu nehmen, nicht nur zum Sitzen, sondern auch zum Atmen und zum in Erscheinung treten. Das wurde sicherlich durch die Offenbarung dieser Bildstrecken gestärkt. Marianne Wex legte den Bildband zur Ausstellung 1979 zunächst im Eigenverlag auf, 1984 erschien das Werk im Frauenliteratur Verlag Berlin erneut. Damit beeinflusste sie maßgeblich die feministische Frauenbewegung.

Krankheitsbedingt wandte sich Marianne Wex ab den 1980ern der Selbstheilung zu und lebte einige Jahre in Neuseeland und England. Dort lernte sie viel über ganzheitliche, holistische und spirituelle Medizin und begann Workshops zur Selbstheilung von Frauen anzubieten. Neben Selbstheilung und Körperhaltung war ihr die Parthenogenese ein sehr wichtiges Thema und sie bezog sich dabei auf die Quantenphysik. Dazu veröffentlichte sie ein Buch und verschiedene Aufsätze Ende der 1990er Jahre und Anfang 2000. In Frauenzusammenhängen, etwa in dem Frauenlandhaus Charlottenberg oder auch bei den feministischen Heilpraktikerinnen von Lachesis e. V. war sie regelmäßig als Referentin aktiv. Eine, die öfter mit ihr Veranstaltungen im FGZ Sirona organisierte, sagte begeistert über Marianne, sie sei “eine von den Menschen, die total hierarchielos und die Gleichzeitigkeit des Seins lebten.” * Auch in ihrer Heilarbeit hat sie viele tief berührt.

Anfang des neuen Jahrtausends druckte die Emma die Bildserie noch einmal. Alice Schwarzer stellte fest, ja die Frauen reden zwar heute wie im 21. Jahrhundert, aber ihre Körpersprache ist im 19. Jahrhundert stecken geblieben. Marianne Wex hat in den letzten Jahren ihres Lebens die Bildserie wieder verstärkt international ausgestellt und damit immer wieder neue Generationen inspiriert.

Auf meinem Nachhauseweg schieße ich noch ein Foto in der U-Bahn. Ich bin allein im Waggon, nur eine Frau steigt vorne ein. Ich fotografiere ihre Füße. Später sitzt ein junger Mann neben mir mit überschlagenen Beinen, vielleicht hat sich doch ein bisschen was geändert, aber Luft nach oben bleibt ohne Zweifel.

*Zitat von Sigrid Schellhaas, FGZ Sirona Wiesbaden. Dort stellte Marianne Wex aus und gab Workshops.

Autorin: Heike Brunner
Eingestellt am: 21.10.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Anna Blietschau sagt:

    Ich habe mich wirklich sehr über den Nachruf gefreut.
    Ich selber habe Marianne bei Safia kennengelernt. Sie wohnte eine Zeit lang
    auch in Wüstenbirkach. Für mich war Marianne eine Art versponnene Spiritfrau
    und ich eine verkopfte “Ichweißnichtwas.”
    Aber wenn wir uns trafen, führte das immer zu sehr intensiven Gesprächen,
    in denen wir uns gegenseitig mit unseren Gedanken über das Mensch -Sein bereichern konnten.
    Und dass dies möglich war, lag zum Großteil nicht an mir, sondern an Mariannes
    Zu-Geneigtsein. Vielen Dank!

  • Susanne van Kimmenade sagt:

    Marianne trat im Altenbückener Frauenzentrum zu einer dämmrigen Stunde durch die Türe und mit ihr soviel spritzige Lebendigkeit, dass ich mich spontan über die Ankunft einer jungen Frau in unserer Gruppe freute.
    Das war Mitte der 90er! Sie ging auf die sechzig zu und war die Lehrerin der Gruppe, eine große Lehrerin, wie sich heraus stellen sollte, der ich sehr viel zu verdanken habe.

    Was sie uns in der Selbstheilungsarbeit vermittelte, überstieg das für den Verstand fassbare, es schien unglaublich und basierte doch auf Erfahrung und war erfahrbar zumindest für diejenigen von uns, die bereit waren sich einzulassen.
    Intuitiv wusste ich, dass ich Marianne vertrauen konnte und was sie sagte wahr war.

    Mystiker sowie Physiker sprechen auf ihre Weisen von dem, was Marianne für uns über alle Sinne erfahrbar machte: Kosmisches Bewusstsein, in der Vielfalt in der es sich kreiert, entfaltet sich als unendliche Weisheit, als unendliche Liebe in jeder Faser unseres Seins. Marianne hatte sich und uns daran erinnert, diese Einheit in der Vielfalt sehen, tasten, hören, ja manchmal auch riechen und schmecken zu können.
    Mariannes Heilungstätigkeit bestand darin, “nur- wahrzunehmen” sich jenseits unserer dualistischen Prägungen mit allen Sinnen der einen kosmischen Lebensenergie zu öffnen und sie in physischen Schmerzen, ebenso wie in beengenden mentalen Mustern und emotionalen Prägungen wahrzunehmen. Und zu entdecken, wie eben diese Präsens, dieses “Mitschwingen” wie Marianne es nannte die Ausdehnung gebundener Lebensenergie, ihr wieder in den Fluss kommen, Heilung ermöglicht.

    Mariannes blosse Präsens, ihr freies lebendiges Schwingen, habe ich über viele Jahre immer wieder bei mir selbst und bei anderen als ausreichend erlebt, Lebensenergie anzuregen in die Ausdehnung zu gehen. Erfahrungsgemäss wird diese Ausdehnung von bislang gebundener, verklumpter, eingefrorener Energie oft zunächst als Schmerz, als vorübergehende Lähmung, als aus dem Körper austretende Kälte oder Hitze erlebt.
    Und das verdanke ich Marianne, in jeder solcher “Krisen” schon die Heilung in ihrer Entfaltung zu sehen, ja mehr noch, in dem Moment, in dem die Verbindung mit der kosmischen Lebensenergie, unserer Essenz, wieder hergestellt ist, Heilung zu erfahren, ein beglückendes Gefühl!
    Bei unserer letzten Begegnung vor einigen Jahren stellte sich im Austausch, im gemeinsamen Singen (Oberton Singen im Hotelaufzug, Marianne kannte da keine Scheu) und miteinander Schwingen diese grosse Freude unmittelbar ein! Es ging auch über eine Verabredung jede an ihrem Ort zur selben Zeit zu schwingen und die wie wir unter grossem Lachen festgestellt habe, auch wenn sich unser Alltagsbewusstsein bei der Zeitumrechnung – ich lebe im Nahen Osten- vertan hatte.
    Das kosmische Bewußtein ist unendlich und wir können frei von Raum und Zeit miteinander schwingen.
    Marianne sagte bei ihrem Vortrag auf dem Frauennaturheilkundekongress 1992: “Hiermit ist auch das Gefühl der Unabhängigkeit davon, ob mich diese Schwingung in das Sterben, in die Lösung von meiner physischen Form führt oder nicht, verbunden.”
    Du hast Dich lösen können ganz nach dem kosmischen Plan des freien Flusses!

  • Sophia sagt:

    Im Stöbern der Nachrufe auf Marianne Wex ist oft von der Künstlerin die Rede und von ihrer Forschung. Als ich Marianne begegnete, hatte sie bereits eine große Reise hinter sich – ihre Universitätszeit mit Professur, eine Krankheitsdiagnose, die nur wenig Hoffnung ließ und daraus resultierend ihre Entscheidung, sich auf eine Reise der Selbstheilung zu begeben, die sie in ferne Länder und auf Inseln führte. Marianne hat in den Seminaren , die Sie danach abgehalten hat, über ihren Werdegang der Heilung ausführlich erzählt. Sie hat nicht nur ihre eigene Heilung erfahren, sondern ist danach zu Lili Cornford in die Praxis gegangen, hat viele Jahre an der Klinik in England gearbeitet und die Methode “Mental Colour Therapy” nach Deutschland gebracht. So war mein eindrücklichstes Erlebnis das Kennenlernen (in den Neunziger Jahren) dieser Therapie und der Heilung mit Obertönen – noch nie hatte ich in meinem Leben so reine und schillernde Töne und Obertöne gehört als die, die aus Marianne kamen. Engelssphärengleich öffneten sie den Raum und taten ihr gutes Werk. Marianne hat uns im Rahmen der Seminare Techniken vermittelt, das Erspüren nahe gebracht und das Singen mit Obertönen praktiziert. Ich kann sagen, daß dies meine erste bewußte Begenung mit Heilungsarbeit war und mich ganz entscheidend beeinflußt hat, auch geheilt. Danke schön Marianne !

  • Hannah Lenz sagt:

    Da ich morgen einen Vortrag über Heilarbeit halten werde, wollte ich noch einmal im Netz nach Marianne Wex “schauen”. Vor ein paar Jahren hatten wir noch telefoniert, uns davor Mitte der 90-er Jahre in Altenbücken kennen gelernt.
    Ich lud sie damals nach Schwerin ein, um einen Vortrag über “Parthenogenese” zu halten, und organisierte hier zentrale Räumlichkeiten. Gewohnt hat Marianne währenddessen bei mir zuhause, in einem winzig kleinen Häuschen auf dem Land, dass ich damals mit meinem Mann und den fünf Kindern teilte.
    “Der Laden – am Abend der Veranstaltung im Schleswig-Holstein-Haus – war voll”, denn viele Schweriner Frauen waren Anfang der 90-er Jahre lern-lustvoll, es war eine gute Aufbruchstimmung.
    Später im Leben konnte ich die bei Marianne gelernte feinstoffliche Energiearbeit auch innerhalb meiner logopädischen Arbeit anwenden. Erstaunlich war und ist, dass ich offenbar bei anderen Menschen das mentale Farbempfinden steigern kann, obwohl ich selbst nichts davon sehe. Als Kind war ich Synästhetikerin.
    Ich werde das Wissen, welches mir durch Marianne vermittelt wurde, immer weiter tragen.
    Als ich heute die eine Tochter fragte, die inzwischen selbst zwei Kinder hat, ob sie sich an Marianne Wex erinnert – denn damals war sie gerade sieben Jahre alt – antwortete sie:
    “Ja, das war doch die Frau, die einen Salbeitee trinken wollte, und mich bat, aus unserem Kräuterbeet ein großes Blatt zu holen. Davon machte sie sich einen Liter Tee!”
    Wer Marianne kannte weiß, dass sie praktisch “von nichts” leben konnte, und dennoch eine wunderbare Energie verströmte.
    Es ist Zeit, erneut von ihr zu lernen!
    Danke Marianne, ich werde morgen von deinem Leben erzählen!

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