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Professionelle Ökonomie und Care: Inkompetenz, Desinteresse, Verärgerung und Verunsicherung

Von Ina Praetorius

Seit bald fünf Jahren führt Ina Praetorius von der Schweizer Initiative “Wirtschaft ist Care” Korrespondenzen über die Frage, wie akademische Ökonom*innen mit der unbezahlten Care-Arbeit umgehen. Eine Bilanz.

Seit April 2016 versuche ich und versuchen wir herauszufinden, wie mit Ökonominnen und Ökonomen im akademischen Forschungs- und Lehrbetrieb und in businessaffinen Medien mit der unbezahlten Care-Arbeit umgehen. Ich selber verfahre dabei meist intuitiv, nach Lust und Laune: Wenn mir zum Beispiel nach ein paar heiteren Minuten zumute ist, während der Hefeteig in der Schüssel oder die Pizza im Ofen aufgeht, frage ich rasch Jens Südekum oder Peter Bofinger per Tweet, wann man denn wohl den größten Wirtschaftssektor ins BIP (Bruttoinlandsprodukt) aufzunehmen gedenke. Jens Südekum twitterte am 20. Oktober 2020 zurück: „Tut mir leid, aber ich habe mich mit diesem Thema nicht näher beschäftigt und kann die Frage daher nicht beantworten.“

Inkompetenz

Was Herr Südekum wahrscheinlich nicht weiß, ist, dass er mit dieser Antwort in einer bereits gut gefüllten Schublade landet, auf der ein Zettel mit der Aufschrift „Ignoranten“ klebt. Auch Prof. Dr. Thomas Bieger, der ehemalige Rektor der Universität St. Gallen, erklärte sich nämlich nach einem längeren Mailaustausch am 10. Mai 2020 letztlich für nicht zuständig, sprich: inkompetent. Und Prof. Dr. Yvan Lengwiler, ehemaliger Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel und Mitglied im Board der „Schweizerischen Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik“ (SGVS) schrieb uns am 2. April 2019, „dass die außermarktliche Ökonomie eher ein marginales Gebiet der Tätigkeiten der meisten Forscher darstellt. Ich selber, beispielsweise, könnte Ihnen nichts Fundiertes zu diesem Thema sagen, weil das einfach nicht mein Tätigkeitsgebiet ist.“

Herr Patrick Rickenbach teilte uns schon am 22. Januar 2017 mit, die Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz verfüge „im Bereich der unbezahlten Arbeit in Privathaushalten über keine Angebote“ und Forschungsprojekte würden „in diesem Themenbereich nicht geführt.“ Auf unsere zweite Umfrage im Jahr 2018 hin erklärten sich am 23. April Prof. Dr. Peter Petrin, Rektor  der Hochschule für Wirtschaft Zürich, am 26. April Prof. Dr. Aleksander Berentsen, Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, am 7. Mai Prof. Dr. James Davis, Politologe an der Universität St. Gallen, am 22. Mai Prof. Dr. Jürg Kessler, Rektor der HTW Chur, am 1. Juni Prof. Dr. Andreas Ettemeyer, Rektor der NTB Buchs, am 21. Juni Prof. Dr. Sebastian Gurtner von der Berner Fachhochschule und am 26. Juni Eva Tschudi von der Hochschule Rapperswil im Namen jeweils des gesamten Lehr- und Forschungspersonals für inkompetent.

Peter Bofinger empfahl mir auf Twitter zunächst, nachdem ihn eine Kolumne im „Handelsblatt“ vom 11. September 2020 wohl etwas irritiert hatte, ich solle sein Buch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ lesen. Als ich ihm daraufhin mitteilte, ich wolle mir meine produktive Nativität nicht nehmen lassen, schlug er mir am 18. Oktober 2020 vor, wenigstens das Gutachten „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Ein umfassendes Indikatorensystem“ zur Kenntnis nehmen. Weil ich dieses Gutachten bereits in dessen Erscheinungsjahr 2010 gelesen hatte, fiel es mir leicht, daraus am 19. Oktober 2020 die Antwort Bofingers auf meine Frage in Tweet-Form zu rekonstruieren: 1) BIP-Wachstum muss weitergehen. 2) Unbezahlte Care-Arbeit existiert in Form unverbindlicher Appelle. 3) Kompliziertes ist zu kompliziert und zu teuer.“  Daraufhin wollte er wissen, ob ich sonst keine Probleme habe. 

Schon am 17. August 2019 haben wir in einem Workshop im Rahmen der Denkumenta.2 begonnen, die auf unsere Fragen eintreffenden Antworten in Form einer Typologie zu systematisieren. An diese Vorarbeit knüpfe ich mit diesem Blogpost an. Ich werde zunächst noch einmal erzählen, was sich seit dem 24. April 2016 zugetragen hat, und dann die im August 2019 angedachte Typologie weiter entwickeln, aus guten Gründen konsequent ent-anonymisiert.

Rekonstruktion der Projektgeschichte

Am 24. April 2016 also stellten wir zehn Dekanen beziehungsweise Rektoren und einer Rektorin wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten und Fachbereiche per Brief folgende Fragen: 1. Welchen theoretischen Stellenwert hat die Care-Arbeit, insbesondere die unbezahlte Arbeit in Privathaushalten, in Ihrer Institution? 2. Welche einschlägigen Forschungsprojekte sind abgeschlossen, im Gange oder geplant? Um uns nicht durch Masse zu überfordern, wählten wir als Forschungslabor die deutschsprachige Schweiz, in der wir alle wohnen. Die Ergebnisse dieser ersten Umfrage fassten wir am 22. November 2017 in einer Thesenreihe zusammen. 

Weil schon bald absehbar war, dass die Umfrage kein deutliches Ergebnis erbringen würde, gaben wir im Herbst 2016 zusätzlich bei der Fachhochschule St. Gallen (heute OST) eine Literaturstudie zum Stand der Care-Forschung in der deutschsprachigen Schweiz in Auftrag, die am 28. August 2017 in St. Gallen präsentiert wurde. Weil diese Studie ein erhebliches Defizit hinsichtlich Forschung und Lehre zur unbezahlten Care-Arbeit zutage gefördert hatte, schrieben wir am 9. April 2018 noch einmal die Leitungsebenen derselben wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereiche an, die wir schon zwei Jahre zuvor kontaktiert hatten. Dieses Mal suchten wir nach einer Kooperationspartnerschaft für unsere Idee, runde Tische zur Zukunft der Care-zentrierten Ökonomie zu organisieren. Weil wir auch mit dieser zweiten Umfrage kaum auf Interesse stießen, organisierten wir den ersten runden Tisch am Freitag, 25. Januar 2019 zusammen mit der Abteilung soziale Arbeit der Fachhochschule Ostschweiz (Bericht), den zweiten am Freitag, 24. Januar 2020 in Kooperation mit der Kulturzeitschrift Avenue. Der dritte wird wieder in Zusammenarbeit mit der Abteilung soziale Arbeit der Fachhochschule OST am 22. Januar 2021 stattfinden, auf der Grundlage einer zweiten Studie, die wir im Jahr 2020 zur Frage der Repräsentation von Care und Wirtschaft in gebräuchlichen Schulbüchern haben durchführen lassen.

Diese rund vier Jahre dauernde Geschichte bildet die Grundlage für den informellen Gesprächsprozess, der sich inzwischen vor allem auf Twitter, der liebsten Social Media Plattform der Ökonom*innenzunft fortsetzt und der es nun ermöglicht, die an der zweiten Denkumenta im August 2019 in Ansätzen erstellte Typologie zu präzisieren:   

Die Schweigsamen

In These 1 unserer Auswertung der Umfrage 2016/2017 heißt es: „Wir sind … erstaunt über die insgesamt geringe und zögerliche Resonanz, die unsere Umfrage auf den Leitungsebenen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereiche der deutschsprachigen Schweiz ausgelöst hat: Von drei der elf angeschriebenen Institutionen haben wir bis heute keine Antwort erhalten. Eine Institution teilte uns am 19. August 2016 ausdrücklich mit, sie wolle auf die Beantwortung unserer Fragen verzichten. (Nachtrag 24.10.2020: Es handelt sich dabei um eine Mail von Prof. Dr. Jacques Bischoff, damals Rektor der Hochschule für Wirtschaft, Zürich, datiert 19. August 2016, IP).“ Heute, am 24. Oktober 2020, liegt trotz unzähliger Nachfragen unsererseits aus dem Dekanat der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich auf beide Umfragen noch immer keine Antwort vor. Schon am 15. Februar 2018 habe ich dieser Fakultät und ihrem Dekan Harald Gall deshalb einen ironischen Sonder-Blogpost mit dem Titel „Exzellenz“ gewidmet. Erstaunlicherweise hüllen sich nämlich auch Prof. Dr. Ernst Fehr und Prof. Dr. Dina Pomeranz, von denen wir gern Antwort bekommen hätten, in Schweigen, Dina Pomeranz allerdings erst seit dem Zickenkriegchen, das wir im Februar 2018 ausgefochten haben. Auch die Studierendenschaft der Fakultät, die mittlerweile auf der Fakultätswebseite nicht mehr zu finden ist, war zu keiner Auskunft bereit. Verhält sich die Gesprächsbereitschaft wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten etwa umgekehrt proportional zu ihrer Exzellenz?

Prof. Dr. Wolfgang Buchholtz von der Universität Regensburg ist ein Außenseiter in meiner Versammlung. Aus gut dokumentierten Gründen hat er den Ehrentitel „Professor Schweigsam“ bekommen.

Ein Sonderfall in der Kategorie „Die Schweigsamen“ ist auch Prof. Klaus Schwab, der Erfinder und Seniorchef des World Economic Forum WEF. Mit ihm versuche ich schon seit den Jahren 2005 und 2006 ins Gespräch zu kommen, in denen ich als kirchliche Beauftragte das „Open Forum“ beobachtet habe, das seit 2003 jedes Jahr parallel zum WEF in Davos stattfindet. Am 23. März 2012 schickte Klaus Schwab mir als Antwort auf meine Fragen ein dickes Buch mit dem Titel „The World Economic Forum. A Partner in Shaping History. The First 40 Years“, für das ich mich, nachdem ich es studiert hatte, am 12. Juli 2012 bedankte. In einem Brief vom 16. Juli 2012 stellte er mir die Frage, warum es den Religionen nicht gelungen sei, den Wertezerfall zu stoppen. Diese Frage habe ich am 18. Juli 2012 nach bestem theologischem Wissen und Gewissen beantwortet. Seither habe ich trotz etlicher Mails und Briefe samt Anlagen meinerseits nichts mehr von Klaus Schwab gehört.

Die Genervten

Drei namhafte Ökonom*innen, nämlich Prof. Dr. Monika Bütler von der Universität St. GallenProf. Dr. Rudi Bachmann von der University of Notre Dame/USA und Dr. Max Roser von der Universität Oxford/GB haben mich zu unterschiedlichen Zeiten und aus Gründen, die ich bei Gelegenheit zu rekonstruieren gedenke, auf Twitter blockiert. Dina Pomeranz toleriert mich zwar noch als Followerin, hat aber, wie gesagt, seit dem 13. Februar 2018 auf keinen Tweet meinerseits mehr geantwortet, was ein partielle Zuordnung zur Kategorie der Schweigsamen nahelegt. Moritz Kuhn, Research Fellow an der Universität Bonn, mit dem zusammen ich am 11. Juni 2020 in einem Podcast von Radio detektor.fm zum Thema „Wirtschaftswissenschaft neu denken?“ befragt wurde, beantwortete gegen Ende der Aufnahme (Minute 17ff) die Frage, ob es einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftswissenschaft im Sinne der Einbeziehung des größten Sektors brauche, so: „Nein… Das funktioniert vermutlich einfach praktisch nicht. … Dementsprechend haben wir uns darauf geeinigt, dass wir wirtschaftliche Aktivität auf eine bestimmte Art und Weise messen.“ Bei diversen Wiederbegegnungen auf Twitter zeigte er sich verärgert darüber, dass ich diese seine Aussage zuweilen zitiere. Am 20. Oktober 2020 twitterte er: „Sie sind leider maximal destruktiv und nur am rumstänkern, weil Ihnen irgendetwas nicht passt. … Liefern Sie Antworten für diese offenen Probleme!“ Seit ich ihn mit dem Link zur monetären Bewertung der Haushaltsproduktion auf der Webseite des statistischen Bundesamtes der Schweiz beliefert habe, ist er verstummt.

Die Gesprächigen

Der erste Ökonom, der sich zu unserer Frage vergleichsweise ausführlich geäussert hat, ist Prof. Dr. Reiner Eichenberger von der Universität Fribourg. Am 1. Juni 2016 schrieb er uns, er halte „die Wertschöpfungsstudien für den nicht-marktlichen Bereich … für durchaus interessant.“ Trotzdem müsse er „über die vielen Forschungsarbeiten zur Hochrechnung der Haushaltsleistungen vor allem schmunzeln, denn sie würden ja in der Konsequenz bedeuten, dass Tätigkeiten wie Essen oder Schlafen im Bruttoinlandsprodukt auftauchen müssten.“ Er halte „die Vorschläge zur Erfassung von außermarktlichen Tätigkeiten deshalb letztlich für brandgefährlich“, denn „von der statistischen Erfassung zur staatlichen Kontrolle und damit auch zur Besteuerung sei es (nur) ein kleiner Schritt,“ weshalb er mir die Rückfrage stellen wolle, „ob ich denn bereit sei, für einen Abendspaziergang oder das Gespräch mit einem Kind Steuern zu zahlen.“ (mehr dazu hier und hier).

Prof. Dr. Reto Föllmi, Leiter des Instituts für Internationale Ökonomik an der Universität St. Gallen, haben wir am Mittwoch, 22. Mai 2019, zum Gespräch in die St. Galler DenkBar geladen, wo er bereitwillig zugestand, dass wir mit unserem Anliegen Recht haben. Hinsichtlich der naheliegenden Folgefrage, was denn nun zu tun sei, hielt er sich dann aber bedeckt und beließ es bei der Andeutung, das Prinzip der Forschungsfreiheit lasse es nicht zu, dass Bürgerinnen und Bürger auf die Tätigkeit von Institutionen wie der Universität St. Gallen Einfluss nehmen.

Frau Prof. Dr. Christine Böckelmann ist zwar nicht Ökonomin, aber sie leitet die Abteilung Wirtschaft der Hochschule Luzern. In einem Brief vom 26. August 2016 schrieb sie Sätze, deren Tragweite wir bis heute noch nicht ermessen können: „Spezifische Forschungen zu unbezahlter Arbeit in Privathaushalten wurden (in der HSLU IP) bislang nicht ausgeführt. Das liegt sicherlich nicht daran, dass die Fragestellung als nicht relevant erachtet wird, sondern zu einem erheblichen Anteil daran, dass unsere Forschung stark abhängig von Drittmitteln ist. Eine unserer Hauptfinanzierungsquellen ist die KTI (heute Innosuisse IP ), die ihre Mission in der ‚Wirtschaftsförderung‘ sieht; beim Thema Care-Arbeit bestünde keine Chance, Mittel bei der KTI zu generieren.“

Auch Prof. Dr. Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz ließ sich bereitwillig zu Gesprächen einladen: zunächst im März 2019 von Radio SRF, dann am 16. November desselben Jahres zum „Vierten Care-Frühstück mit Inhalt“ der Schweizer Frauen*synode. Zwar gibt er gern Auskunft über die diversen Widersprüche, Paradoxien und Dilemmata in wirtschaftswissenschaftlichen Diskursen und weist in seinen populären Büchern „Die Tretmühlen des Glücks“ (1. Aufl. 2006) und „Der Wachstumszwang“ (2019) unermüdlich auf die Absurdität der Wachstumsideologie und deren uneingelöste Glücksversprechen hin. Eine Antwort auf die Frage, ob eine lebensdienliche Korrektur des BIP, eine Aufnahme des größten Sektors in den Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften und die Einführung alternativer Messmethoden (über die Länder hinaus, die sich bereits in Richtung auf eine Wellbeing-Economy auf den Weg gemacht haben) sinnvoll und machbar seien, ist er die Antwort aber bis heute schuldig geblieben.

Zu den Gesprächigen zähle ich auch Reto Lipp, seit 2007 Moderator der Deutschschweizer TV-Sendungen „SRF Eco“ und „SRF Börse“. Meistens gibt er Antwort, wenn er auf Twitter angesprochen wird. Allerdings lässt er sich schnell aus der Ruhe bringen, zum Beispiel wenn wir die Ersetzung von „SRF Börse“ durch ein Sendegefäss namens „SRF Zukunft“ oder „SRF Glück“ oder „SRF Care“ vorschlagen. Deshalb ist eine partielle Zuordnung zur Kategorie „Die Genervten“ naheliegend.

Die Irritierten

Prof. Dr. Stefan Felder, Gesundheitsökonom an der Universität Basel, schrieb mir am 2. Juli 2019 nach einem längeren, etwas konfusen Mailwechsel, „der flockig-rockige Stil meines Schreibens“ überfordere ihn und ich solle ihn bitte aus meinem Verteiler streichen. Er ist damit der bisher einzige unserer Gesprächspartner aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Lehr- und Forschungsbetrieb, der offen von Überforderung schreibt. Da er sich ausdrücklich einen Abbruch des Gesprächs gewünscht hat, ist es uns verwehrt herauszufinden, was er damit genau meint.

Stefan Barmettler, zur Zeit Chefredakteur der „Handelszeitung“, hat sich erst nach mehreren Anschreiben zu einer Antwort verlocken lassen. Am 30. Oktober 2019 schrieb er uns, es sei vollkommen unklar, wie die „Zusatzkosten“ von 107 Milliarden Franken pro Jahr, die den Berechnungen von Mascha Madörin zufolge zu begleichen wären, finanziert werden sollen. Angesichts der hier deutlich ausgesprochenen Überforderung rettet er sich in eine moralische Umdeutung des Problems: „Im Übrigen würden sich viele Eltern dagegen aussprechen, einen Kindererziehungslohn zu beziehen, weil sie Erziehungsarbeit nicht als eine Art ‚geldvermittelten Tauschakt‘ (…) sehen, sondern als Akt der Zuneigung, Verantwortung und/oder Freude.“ Die Fragen, wie Care-Arbeiter*innen zu entschädigen wären, die sich solcherart Moral nicht leisten können, und wie sich die Ausblendung des größten, des basalen systemrelevanten Sektors auf wirtschaftspolitische Diskurse etwa im Zusammenhang mit Debatten um Armut, weltweite Gerechtigkeit oder Klimawandel auswirken, bleiben vorerst unbeantwortet. Immerhin hat Stefan Barmettler es zugelassen, dass in der Handelszeitung vom 13. August 2020 ein Text mit dem allerdings missverständlichen, von der Redaktion gesetzten Titel „Unbezahlte Tätigkeiten sind unverzichtbar“ von Caroline Krüger erscheinen dufte.

Wie weiter?

Und was fangen wir nun an mit der Sammlung aus Schweigen, Überforderung, Irritationen, verkehrten Analysen, Verdrängung, Ärger, Bequemlichkeit, Blockaden und Inkompetenz? Wer wird in Zukunft die ökosystemrelevanten un- und unterbezahlten Tätigkeiten erforschen und als Mitte der Oikonomia lehren? Sollen das weiterhin nur die unterdotierten Genderforscher*innen, Sozial- und Kulturwissenschaftlerinnen und Pädagoginnen tun? Als folgsame Ehefrauen der BIPologie? Soll der größte, der unbezahlte Wirtschaftssektor in alle Zukunft nur von un- und unterbezahlten Aktivistinnen und Idealistinnen zum Thema gemacht werden (These 6)? Wollen die so genannten Ökonom*innen, die sich sachgemäß Chrematist*innen oder BIPolog*innen nennen sollten, weiterhin in „wissenschaftlicher Freiheit“ ihre Bullshit-Hobbies pflegen, ungestraft die Zahlen aus den statistischen Ämtern ignorieren und notwendige Haus- und Betreuungsarbeit in Unkenntnis offizieller Zahlen und eingeführter Terminologie mit den sieben Prozent „Freiwilligenarbeit“ verwechseln?

Wir freuen uns immer noch auf Antworten und bleiben derweil nicht untätig.

Autorin: Ina Praetorius
Eingestellt am: 07.11.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Juliane Brumberg sagt:

    Vielen Dank, liebe Ina, für diesen erheiternden Bericht über traurige Umstände. Er ist nur eins von vielen Beispielen für die seit Jahrzehnten praktizierte “Cancel Culture” von berechtigten feministischen Anliegen. Doch Hartnäckigkeit führt zum Ziel. Lass Dich nicht beirren!

  • Anne-Käthi Zweidler sagt:

    Ja, mach bitte weiter liebe Ina. Grad jetzt, wo wegen Corona die Care-Arbeit vielen Leuten endlich ins Bewusstsein dringt, ist deine Hartnäckigkeit wichtig. Ich glaub es war Mahatma Ghandi der gesagt hat: wenn du eine neue Idee vorbringst, wirst du von der Mehrheit zuerst verspottet. Dann wirst du von ihr deswegen bekämpft. Und schliesslich, wenn die Idee langsam aber sicher nicht mehr ignoriert werden kann, dann war genau diese Mehrheit schon immer deiner Meinung. Pass auf, plötzlich behaupten dann genau diese Ökonom*innen sogar, sie hätten die Wissenschaft der Care-Arbeit “erfunden”.

  • Dorothee Markert sagt:

    Liebe Ina, mich beeindruckt auch, wie beharrlich du dafür kämpfst, dass das Care-Thema in das, was bisher offiziell “Wirtschaft” heißt, Eingang findet. Doch ich zweifle daran, dass es etwas bringt, wenn du diejenigen, von denen du erwartest, dass sie sich damit beschäftigen, auf die Weise vorführst, wie du es in diesem Artikel tust (mit Namensnennung und Kategorisierung nach Inkompetenz, Schweigen, Genervtsein usw.). Ich denke, dass diese Tür damit endgültig zu ist, wenn sie es nicht schon vorher war. Ich verstehe deinen Ärger, aber ein gewisses Verständnis hab ich auch für die Verweigerungshaltung deiner Nicht-GesprächspartnerInnen. Schließlich stellt der Anspruch, Wirtschaft sei Care, ihr ganzes Forschen und Lehren in Frage. Vielleicht wäre es sinnvoller, davon auszugehen, dass Care ein wichtiger, zentraler, grundlegender Teil von Wirtschaft ist, die Gleichsetzung “Wirtschaft ist Care” hat auch mir noch nie eingeleuchtet.

  • Liebe Ina, danke für deine Beharrlichkeit!
    Ich habe heute den Artikel von Riane Eisler, US-Soziologin, gelesen und musste an dich denken. Vielleicht interessant für dich?

    Aus dem ausführlichen Bericht:
    „Sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus wurzeln in einer dominanzgeprägten Tradition. Für (Adam, Anm.) Smith genauso wie für (Karl, Anm.) Marx war die Natur einzig dafür da, um ausgebeutet zu werden“, erklärt Eisler. Ähnlich habe es sich mit den Frauen verhalten: Ihnen wurde die Fürsorgearbeit im Haushalt überantwortet – natürlich unbezahlt. Ein Grundproblem, das zwar bis heute Bestand habe, von Ökonomen aber meist übersehen werde. Als Ausnahme nennt Eisler den indischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen, dessen Forschung zur globalen Gerechtigkeit mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde.”

    https://orf.at/stories/3187108/?fbclid=IwAR0C5-mLJ09WrKNztKXHHv7ENBh1OEKMD6IB7qwhNgzjq_nv1Jt7QmxKT6s

  • Sandra Divina Laupper sagt:

    Liebe Ina,
    angeregt durch deine Denkanstöße (mit denen ich mich zum ersten Mal schon vor mehr als zwanzig Jahren dank einem Artikel von Dir in Via Dogana auseinanderzusetzen hatte), habe ich angefangen, in meinem Unterricht in der Schule einiges umzuschreiben und anders zu gewichten, als es in den Lehrbüchern sonst üblich ist. So stehe ich z.B. den Ausdrücken “aneignende Wirtschaftsweise” (in der Altsteinzeit: sammeln und jagen als Lebensgrundlage) versus “produzierende Wirtschaftsweise” (Jungsteinzeit: Ackerbau und Viehzucht als Lebensgrundlage) sehr skeptisch gegenüber. Ich finde, dass in diesen Begriffen jede Menge Ideologie zu finden ist. So legt der Ausdruck “aneignende Wirtschaftsweise” ein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur, aus der sich die Menschen ohne angemessene Gegenleistung das Lebensnotwendige aneignen würden, nahe. “Produzierende Wirtschaftsweise” hingegen legt die Vorstellung nahe, die Menschen würden hier selber das Lebensnotwendige herstellen, ohne es sich von jemand anderem – sprich: der Natur – zu holen und dieses andere damit auszubeuten. In Wirklichkeit ist ja genau das Gegenteil der Fall.
    Um dieser Ausdrucksweise auszuweichen, verzichte ich lieber ganz auf den Begriff “Wirtschaft”, der sowieso gern ideologisch besetzt ist und mit “kapitalistischer Wirtschaft” gleichgesetzt wird. Ich spreche lieber von “Arbeit” und beschreibe die Arbeitsvorgänge, die für die Menschen damals notwendig waren, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern, möglichst detailliert: von der Geburtsarbeit bis zur Geburtenkontrolle, von der Nahrungsbeschaffung bis zur Nahrungsbereitung und -aufbewahrung, von der Herstellung von Werkzeugen und Waffen bis zur Gestaltung der Schlafplätze und Wohnlichkeiten…
    Das eröffnet ganz andere Perspektiven. Vielleicht kann es auch für Dich nützlich sein, von “Arbeit” anstatt von “Wirtschaft” zu sprechen, weil da der Kreis der potentiell kompetenten Personen schon von vornherein kleiner ist. Weiterhin viel Glück bei Deiner Suche!

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