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Rubrik handeln

Corona & Carearbeit – Leider nichts dazugelernt…

Von Uta Meier-Gräwe

Die Coronalehre – von Thomas Gsella
Quarantänehäuser sprießen, Ärzte, Betten überall.
Forscher forschen. Gelder fließen. Politik im Überschall.
Also hat sie klargestellt: wenn sie will, dann kann die Welt.
Also will sie nicht beenden, das Krepieren in den Kriegen.
Das Verrecken vor den Stränden und dass Kinder schreiend liegen in den Zelten; zitternd, nass.
Also will sie alles das.

Wer geglaubt hatte, dass die Einsichten aus dem Schock der ersten Corona-Welle in punkto „Systemrelevanz von Carearbeit“ zu schnellen und vor allem wirksamen politischen Entscheidungen führen würden, sieht sich kurz vor Weihnachten enttäuscht. Als die Infektionszahlen im Sommer zurückgingen, wurde zwar hin und wieder noch vor einer möglichen zweiten Welle im Herbst gewarnt, ansonsten aber gefielen sich deutsche Politiker vor allem in der Rolle, wieder einmal „Klassenbester“ gewesen zu sein. Eine kluge und vor allem vorausschauende Vorbereitung auf eine zweite Welle fand dagegen – bei Lichte besehen – nicht statt. Der erneute exponentielle Anstieg von Covid-2-Erkrankungen, die trotz „Lockdown light“ seit Wochen nicht hinreichend genug zurückgehen, zeigt uns spätestens jetzt: mit dem gebetsmühlenartigen Verweis auf gestiegene Intensivbettenkapazitäten und Beatmungsgeräte ist es eben nicht getan. Für diese Hardware-Produkte gibt es übrigens ein bundesweites Register. Zur Anzahl von Pflegekräften und zu ihren Qualifikationen liegen dagegen keine verlässlichen Statistiken vor. Wie kann das sein? Ohne Personal können Intensivbetten nicht „bepflegt“ bzw. medizinisches Gerät nicht bedient werden – eigentlich logisch, oder? Jetzt kommt mehr und mehr auch der ungeheuerliche Tatbestand ans Licht, dass es gerade das reiche Deutschland ist, das in Krankenhäusern und Pflegeheimen einen deutlich schlechteren Personalschlüssel aufweist als Italien, Frankreich, Spanien, die Schweiz, Norwegen, Schweden, ja selbst als Polen und die USA.

Trotz dieser ohnehin katastrophalen Ausgangssituation sind in ca. 70 Prozent aller Kliniken und Krankenhäuser die im Frühsommer in Aussicht gestellten Boni-Zahlungen bis heute nicht angekommen. Sie reichten allenfalls für 100.000 Pflegekräfte, aber eben nicht für die 440.000 Carearbeiter*innen, die unter erschwerten Corona-Bedingungen gearbeitet haben. Neben dem ohnehin hohen Ansteckungsrisiko für das Pflegepersonal kommt erschwerend hinzu, dass die eigentlich geplanten neuen Personaluntergrenzen wegen Corona erst einmal ausgesetzt worden sind. Im Gegenteil: In einigen Bundesländern wurden die wöchentlichen Höchstarbeitszeiten in Kliniken bis Mai 2021 sogar auf 60 Stunden heraufgesetzt. Auch in der Altenpflege beklagen Mitarbeiter*innen seit langem den Mangel an Personal. Sie sind es leid, für die systemischen Missstände der vergangenen Jahrzehnte mit ihrer eigenen Gesundheit zahlen und beinahe jedes zweite freie Wochenende einspringen zu müssen, weil jemand von den Kolleg*innen erkrankt ist. Und dennoch: Die Löhne liegen in diesem Care-Beruf nach wie vor deutlich unter dem Durchschnittseinkommen. Zudem steht völlig in den Sternen, ob es ab 2023 wirklich einen Flächentarifvertrag mit einem Stundenlohn von 18,50 Euro und 28 Tagen Urlaub geben wird.  Aufgrund der Zersplitterung der Branche dominiert immer noch eine Blockadehaltung vieler Anbieter.

Wie kann es unter diesen ungünstigen Rahmenbedingungen überhaupt gelingen, engagierte Nachwuchskräfte für diese Sorgeberufe zu begeistern? 

Das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) wollte dieses Problem mit einer 5-teiligen Miniserie „Ehrenpflegas“ angehen. Für viel Geld (700.000 Euro) wurde der Auftrag zur Serie an die Produzenten von „Fack ju Göhte“ (absichtliche Falschschreibung von Fuck you Goethe) vergeben. Es wollte eine Kampagne lostreten, um junge Leute mit „unkonventionellen Wegen der Ansprache“ für eine Pflegefachkraft-Ausbildung zu begeistern. Das ging allerdings vollkommen nach hinten los. Nur zwei Peinlichkeiten als Kostprobe: Boris, der bereits drei Berufsausbildungen abgebrochen hat und nun einen neuen Anlauf in der Altenpflegeschule nimmt, ist zu doof, um zu verstehen, was eine generalistische Pflegeausbildung ist. Aber da stecke ja das Wort „General“ drin, das klinge „voll geil“, so meint er, „nach Panzergeneral.“ Oder: Seine Mitschülerin bietet an, ihn in ihrem Cabrio mitzunehmen. Auf die Frage, ob es das Auto ihrer Eltern sei, lautet ihre Antwort: „Nö“ – sie habe es sich von ihrer Ausbildungsvergütung (!!!) gekauft. Ja, geht’s noch? Dementsprechend vernichtend waren die Reaktionen im Netz – auch von den Pflegeverbänden. Teuer, peinlich, sexistisch. Die einzige Reaktion von Seiten des Ministeriums: jetzt würde wenigstens über die Pflege geredet.

Ähnlich realitätsfern war bereits ein Videoclip, den das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) aus Anlass des Muttertages 2020 ins Netz gestellt hatte (#Muttertag): Ein kleines Mädchen zählt auf, wie sich ihr Alltag in Corona-Zeiten geändert hat: Mama befindet sich im Homeoffice. Es gibt häufig Spagetti und das neue Lieblingsspiel der Mutter gipfelt in der Frage, wer am längsten still sein kann. Das Mädchen mag dieses Spiel nicht besonders, dafür darf sie jetzt ausnahmsweise viel mehr fernsehen. Da Oma als Betreuungsperson für die Kleine wegen Corona ausfällt, erhält sie von Mama großzügig ein elektronisches Tablet, damit die Großmutter ihrer Enkelin vor dem Einschlafen via Skype schöne Geschichten vorlesen kann. Weil dem Mädchen ihre Freunde fehlen, wird sie von Mama getröstet. „Mama macht so viel für uns, sie schneidet sogar unsere Haare.“ 

Einen Vater scheint die Kleine nicht zu haben. Oder wo steckt er? Sorgearbeit übernimmt er jedenfalls definitiv nicht. War der Clip womöglich als Persiflage gedacht, um tradierte Geschlechterrollenstereotype und ihre (Re)Traditionalisierung in Zeiten von Corona zu kritisieren? Dann bräuchte der Clip einen Teil 2. Den gibt es aber nicht. Oder handelt es sich womöglich um eine alleinerziehende Mutter? Auch das erfahren wir nicht. Wer mit den Lebenslagen von alleinerziehenden Müttern auch nur einigermaßen vertraut ist, weiß allerdings, dass sie ihren Kindern nicht einfach mal so ein teures Tablet kaufen können. Dafür haben sie meist kein Geld.

Was also muss noch passieren, bis die unbezahlte und berufliche Carearbeit wirklich als systemrelevant begriffen und ins Zentrum eines zukunftsfähigen Wirtschaftsmodells gestellt wird, anstatt nun auch noch das Konsumieren zur „patriotischen Pflicht“ zu erheben, wie es Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gerade getan hat?

Der zweite Vers des Gedichts „Coronalehre“ könnte folglich lauten:

In Kliniken, im Pflegeheim – das Personal, es kann nicht mehr.
Und auch die Mütter leisten Care.
Sie fühlen sich verbrannt und leer.
Da helfen keine Videos weiter und stimmen uns mitnichten heiter, wenn sie weismachen wollen, wie attraktiv Sorgeberufe angeblich seien sollen.
Auch pflegende Angehörige werden übersehen, wie können sie das überstehen – allein gelassen und erschöpft?
All das ist seit langem krass.
Doch in Sachen CARE ist auf Politik kein Verlass

Autorin: Uta Meier-Gräwe
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 10.12.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Leider so wahr, und zum schämen: das reiche Deutschland geizt. Schrecklich. Wo bleiben die Gewerkschaften?

  • Birgit Ertl sagt:

    Traurig und wahnsinnig ärgerlich, wie miserabel das für die Betroffenen nach wie vor läuft. Ohne sie würde doch gar nichts mehr gehen!!!

  • Ute Plass sagt:

    Ja: “Leider nichts dazu gelernt” oder:

    Es war Einstein, der gesagt hat: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“

  • Daniela Ghielmetti sagt:

    Der Sport ist wichtig und die Fluggesellschaften und und und…
    Ich denke, dass ein BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN NUR FÜR FRAUEN (ab 18 Jahren) eingeführt werden muss. Wer sonst macht all die Care-Arbeiten?

  • Bari sagt:

    JA, es wird Zeit, das die Profitorientierung im Gesundheitswesen in die Tonne getreten wird. Denn das geht auf Kosten des Pflegepersonals, das ohne Rücksicht immer mehr aufgebrummt wird und verdienen tun die Chefs und Anleger. Stattdessen eine gute Bezahlung für die, die Arbeit machen und keine Hierarchien die Arbeit verteilen , statt sie zu tun.

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