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Geburtshilfe – eine Weihnachtsgeschichte

Von Kathrin Bolt

«Zeig her deinen Prachtburschen!» Balthasar, der Sterndeuter, klopfte Josef kameradschaftlich auf die Schultern. «Wir haben euch Geschenke mitgebracht. Das Beste, was wir gefunden haben.» Die drei Sterndeuter strahlten. Ihre Begeisterung für das grosse Himmelslicht, das sie heute entdeckt und mit dieser Geburt in Verbindung gebracht hatten, war ihnen anzusehen. Doch Josef blieb stumm. Bleich war er und seine Augen gerötet. «Wie heisst eigentlich euer Kind?» fragte Melchior. «Sollte es nicht ein königlicher Name sein in dieser besonderen Sternennacht?  

Foto: Debby Hudson /Unsplash

«Das Kind heisst Jesus. Und seine Eltern brauchen jetzt Ruhe.» Verblüfft schauten die drei Sterndeuter zum Hirten, der unscheinbar neben Maria kniete. «Jetzt legt eure Geschenke hin. Setzt euch und seid still. Betet für die Familie. Sie haben Grosses geschafft!» «Was will ein einfältiger Hirte uns weisen Sterndeutern sagen?», dachten sie. Doch sie wagten nicht, ihm zu widersprechen. Eine ruhige Selbstsicherheit lag in seiner Stimme. Sie knieten nieder und schwiegen und wunderten sich nicht einmal darüber, dass dieser Hirte näher bei Maria stand als Josef, und dass er das eingewickelte Kindlein in seinen Armen hielt, als wäre es sein eigenes.

Eine Weile war es ruhig im Stall. Josef weinte still seine Tränen. Maria schloss erschöpft die Augen und die Sterndeuter beteten. Dann begann das Kind zu weinen. «Es hat Hunger», sagte der Hirte. «Geht vor die Türe und schaut, dass niemand reinkommt. Das Kind und die Mutter brauchen Ruhe, sonst klappt es nicht mit dem Stillen.» Zu Josef sagte der Hirte: «Leg dich ein wenig hin. Du hast über 24 Stunden nicht geschlafen».

Als Josef sich hinlegte und die Augen schloss, zogen vor seinem inneren Auge noch einmal die Bilder der letzten Tage und Stunden vorbei. Wie Maria sich krümmte auf dem Esel, als die ersten Wehen kamen. Wie er verzweifelt ein Bett für sie suchte. Wie sie ihn bittend und voller Angst anschaute. Und wie sie am Ende dankbar waren für diese dunkle, kleine Stallhöhle mit etwas Heu und Stroh. Nur sie beide und die Tiere waren zunächst im Stall. Und fast kein Licht. Maria begann zu schreien vor Schmerz und wusste nicht, ob sie sich hinsetzen oder hinlegen sollte. «Ich kann nicht mehr», sagte sie. «Ich weiss nicht, wie man ein Kind zur Welt bringt! Du musst Hilfe holen!»

Die zehn Minuten, die Josef brauchte, um ins Wirtshaus zu rennen und einen Menschen zu finden, den er ansprechen konnte, kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. «Ist die Fruchtblase schon geplatzt?» fragte die Wirtsfrau. «Fruchtblase? Ich weiss es nicht!» sagte Josef. «Ich habe Angst, dass sie stirbt!» «Dann brauchen wir Salome, die Hebamme». Die Wirtin wollte sich sogleich auf den Weg machen, da kam der Wirt dazwischen: «Was sagst du da? Salome? Diese Hexe? Du weisst doch, was man über sie erzählt. Diese Frau hat bei uns nichts verloren!» «Willst du Maria sterben lassen?» Josef war verzweifelt. «Hör zu», sagte der Wirt, «ich habe dir meinen Stall angeboten. Ihr könnt bleiben, so lange ihr wollt. Aber diese Hexe kommt mir nicht ins Haus, hast du verstanden?» Tränen schossen in Josefs Augen. «Kannst du uns nicht helfen?» fragte er die Wirtin. «Das würde ich ja gerne. Aber ich bin keine Ärztin und auch keine Hebamme. Ein Kind zur Welt zu bringen ist kein Kinderspiel! Geh jetzt zu deiner Frau, Josef. Ich bring dir gleich Tücher und heisses Wasser.»

Verzweifelt rannte Josef zurück in den Stall. Maria lag gekrümmt am Boden, der nass war unter ihr, und stöhnte vor Schmerzen. «Ich weiss nicht, wie ich dir helfen soll». Josef begann zu weinen. Die Wirtin kam, brachte Tücher und Wasser, Essen und Trinken, eine Lampe und ein kleines Schnapsglas. Als sie Maria sah, wurde sie blass. «Trink das, Maria. Ich ruf jetzt die Hebamme!» «Aber dein Mann hat doch gesagt…», stammelte Josef. «Ich mach das schon», sagte die Wirtin und eilte aus dem Stall.

Die nächsten sechzig Minuten waren für Josef und Maria ein Albtraum. Die Schmerzen wurden schlimmer und Maria bat Josef, ihr die Kleider auszuziehen und Tücher bereitzulegen. Josef gab sein Bestes. Doch die Angst, dass er allein mit Maria bleiben würde und ihr ein Baby aus dem Körper ziehen sollte, blockierte ihn. Maria litt, mal schreiend, mal winselnd, mal still weinend und Josef wusste nicht, wohin mit seiner Hilflosigkeit.

Bis es an der Tür klopfte. «Maria? Bin ich hier richtig?» hörten sie eine tiefe, warme Frauenstimme sagen. Josef blickte auf und sah, wie ein Hirte den Stall betrat und sofort zu Maria eilte. Sorgfältig tastete er Marias Bauch und Unterleib ab. «Ich bin Salome, die Hebamme», sagte der verkleidete Hirte und Josef konnte für einen kurzen Moment wieder lächeln. «Eine Hexe, die wie ein Hirte aussieht.» Salome lachte. «Nur, dass ich keine Hexe bin, sondern eine ganz normale, ziemlich erfahrene Hebamme. Aber es wird dauern, bis die Herren und Wirten dieser Welt begreifen, wie sehr es uns braucht. Und jetzt pack mit an, Josef! Maria braucht unsere Hilfe».

Ruhig und bestimmt gab die Hebamme Anweisungen. Josef war froh, als er Maria mit seinen Armen festhalten und sie beim Atmen ermutigen konnte. Er war gefordert, als er Kräuter aufkochen und frische Tücher besorgen musste. Und er war überfordert, als er mehrere blutige Tücher auswaschen und der Hebamme ein ausgekochtes Messer bringen sollte.

«Vielleicht muss ich einen Schnitt machen», erklärte Salome. Die Geburt ging langsam voran. Maria verlor viel Blut und zwischendurch dachte Josef, dass er nicht nur sein Kind, sondern auch seine Frau verlieren würde. «Jetzt pressen! Mehr! Noch mehr!», hörte er die Hebamme sagen, nachdem er für einen kurzen Moment eingenickt war. «Komm Josef, ich sehe schon das Köpfchen!». Dann ging alles schnell. Und Josef kam nicht mehr aus dem Staunen heraus, als er das blutverschmierte Baby an der Nabelschnur in den Händen der Hebamme sah. Es sah mitgenommen aus, blau angelaufen mit eingedrücktem Kopf. Und dennoch war es das Schönste, was Josef je gesehen hatte. «Wir haben einen Sohn», flüsterte er, kurz, bevor das göttliche Kind seinen ersten, ersehnten Schrei von sich gab.

«Jetzt darfst du deine Freunde wieder reinholen. Jesus hat getrunken und schläft». Die Worte der Hebamme rissen Josef aus seinen Erinnerungen. «Einen Moment noch», sagte er und ging zu Maria. Behutsam hielt er ihre Hand und küsste sie auf die Stirn. Jesus lag nebenan in der Futterkrippe und strahlte diesen Frieden im Schlaf aus, den nur Neugeborene ausstrahlen können. Salome schaute aus dem Fenster.

«Da draussen kommen Hirten. Ich glaube, die wollen zu euch. Besser ich geh jetzt, bevor mich jemand erkennt.» «Danke», sagte Josef. «Ich wüsste nicht, was wir ohne dich gemacht hätten. Du hast uns das Leben geschenkt.» «Ja, du bist die beste Hirten-Hexen-Hebamme der Welt», lachte Maria zum Abschied. Dann verschwand Salome, so unauffällig wie sie gekommen war. Die Sterndeuter, Hirten und viele Männer und Frauen, die von dieser wundersamen Geburt im Stall gehört hatten, kamen zur Türe hinein. Sie staunten über das junge Paar mit ihrem Kind in der Futterkrippe, das einen glückseligen Frieden ausstrahlte. Gerade so, als hätte der Heilige Geist diesem Kind auf die Welt geholfen.

Autorin: Kathrin Bolt
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 19.12.2020
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Esther Gisler Fischer sagt:

    Liebe Kathrin

    Danke für diese schöne Geschichte, in der du Blut, Rotz und Schleim nicht verschweigst und der Hebamme, welche sicher auch Maria gehabt hat als als Unterstützung, zu ihrem gebührenden Recht verhilfst!
    Hättest du die ‘Ruach Gottes’ auch noch richtig als ‘Hlg. Geistkraft’ übersetzt, wäre deine Geschichte perfekt!

    Sei herzlich gegrüsst von
    Esther.

  • Kristin Flach-Köhler sagt:

    Liebe Kathrin,
    genau so könnte es sich zugetragen haben, die Geschichte der Geburt Jesu.
    Vielen Dank für die Beschreibung von Details und vor allem die der subversiven Kraft der Frauen, die doch immer wieder, wenn etwas Neues in die Welt kommen will, so nötig ist.
    Ich werde sie Heiligabend vorlesen, Danke!

  • Bari sagt:

    DANKE!
    genauso irdisch war die Geburt so wenig heile Welt wie dieses Weihnachten.

  • Simone Curau-Aepli sagt:

    So wird es gewesen sein. Eben eine Menschwerdung mit allem was dazugehört. Da gibt es nichts zu beschönigen und doch ist es das grösste Wunder, das ich selber erleben durfte. Danke für diese geerdet Weihnachtsgeschichte.

  • Luisamaria grax sagt:

    Frauen sind schwanger. Frauen gebären. Frauen pfllegen kranke. Frauen hüten die kleinen kinder. Frauen arbeiten zu minderlöhnen. Frauen helfen betagten. Frauen putzen und kochen. Frauen sind schön. Frauen haben supergute ideen. Frauen sind kraftvoll und kreativ. Frauen sind würdig. Frauen wagen wut und kampf für ihre rechte. Frauen erobern sich ihren platz. Frauen lassen ab von angst und manipulation . Frauen zeigen sich in ihrer kraft. Frauen sind schwestern, jede eizigartig mit ihren begabungen und ihrem weg. Frauen dienen dem leben. Frauen unterstützen sich in diesem bewusstsein.
    Diese gedanken kommen mir beeim lesen der geschichte.

  • Elfriede Harth sagt:

    Einfach schoen!

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