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Rubrik erinnern

Kapitel 8: Abstrakte Beziehungen und formalisierte Rechte: wie Gesellschaft denken?

Von Antje Schrupp, Andrea Günter, Dorothee Markert

Zum 20. Jubiläum der Flugschrift „Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik“ wurde das Büchlein im Christel Göttert Verlag neu aufgelegt und wird hier im Forum auch erstmals online veröffentlicht (hier der Link zum Anfang). Dies ist das 8. Kapitel: Abstrakte Beziehungen und formalisierte Rechte.

Wenn eine neue Ordnung der Beziehungen die Voraussetzung für Kultur und die wesentliche Aufgabe der Politik ist, ist es notwendig, nicht nur das konkrete Zusammenleben von Müttern, Töchtern und Söhnen, Nichtmüttern, Eltern, Großeltern, Vätern, Nachbarinnen, Freunden, Zusammenlebenden oder Alleinlebenden im Auge zu haben, sondern auch abstrakte Beziehungen zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft, die nicht über konkrete Verhandlungen, sondern über allgemein gültige Regeln vermittelt sind.

Wie aber funktioniert Beziehung auf dieser abstrakten Ebene? Derzeit beobachten wir einerseits die Klage, dass das Leben immer anonymer und individualisierter wird, dass man die lebendige Kraft von Beziehungen überall beschneidet, und andererseits die Forderung nach mehr Selbstverantwortung der einzelnen, nach weniger Staat, weniger Gesetzen.

Es ist ein historischer Fortschritt darin zu sehen, dass der Rechtsstaat die Ansprüche und Abhängigkeiten der einzelnen so weit formalisiert hat, dass die Menschen nicht mehr der Willkür ihrer unmittelbaren Umgebung – ihrer Väter, Ehemänner, Gönner – ausgeliefert sind. Rechte sind in einer industrialisierten und zunehmend anonymisierten Gesellschaft unabdingbar.

Wenn somit gesetzlich verankerte Rechtsansprüche als eine Formalisierung von Hilfe und Fürsorge verstanden werden können und damit auf der Grundlage gegenseitiger Abhängigkeit funktionieren, so tendieren sie doch dazu, gerade diesen Bezug unsichtbar zu machen. Dies geschieht, wo der Besitz individueller, formaler Rechte – entgegen ihrer ursprünglichen Intention – als ein Garant von Unabhängigkeit interpretiert wird. Dadurch kann die Vereinzelung zugleich gefördert werden, unter der wir ebenso leiden können wie unter unguten Abhängigkeitsverhältnissen.

Aus: Ulrike Wagener, Dorothee Markert, Antje Schrupp, Andrea Günter: Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik. Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim 1999, Neuauflage 2019

Autorin: Antje Schrupp, Andrea Günter, Dorothee Markert
Eingestellt am: 02.01.2021
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