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Alltagsgeschichte in Freundinnenbriefen aus den 1950er Jahren

Von Juliane Brumberg

Angesichts der elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten ist sie fast ausgestorben: Die ausgeprägte Briefkultur, die viele Jahrhunderte insbesondere auch zwischen Frauen gepflegt wurde. Nach dem Tod ihrer Mutter fand Bettina Schmitz, die auch bzw-Autorin ist, einen riesigen Stapel von Briefen vor, die die Mutter ziemlich regelmäßig von ihrer besten Freundin bekommen hat. Dankenswerterweise hat sie diese gesichtet, geordnet und veröffentlicht. Ich habe das Buch einfach so, ratzfatz, weggelesen. Sehr anschaulich berichtet die Briefschreiberin Johanna ihrer Freundin über ihren Alltag, ihre Lebensumstände und die Sorgen und Probleme einer jungen, zunächst noch unverheirateten, Lehrerin in den 1950er Jahren. Interessant ist, von welchen Erwartungen, Werten und Moralvorstellungen die Partnersuche geprägt war, welchen Raum sie einnimmt und wie offen in diesen Briefen über alles kommuniziert wird. Insofern eröffnet sich eine weitere Facette des Freundinnenthemas, das in diesem Forum immer wiederauftaucht, zum Beispiel hier und hier. Mit Interesse habe ich darin auch von dem Zusammenhalt gelesen, der damals unter den Flüchtlingsfamilien aus dem Sudetenland geherrscht haben muss. Oder über die beengten Wohnverhältnisse; denn wenn irgendjemand aus der alten Heimat in die Nähe kam, rückte die ganze Familie zusammen, um den durchreisenden Verwandten oder Bekannten eine Schlafstatt zu bieten.

Thema ist auch die Geldnot, die es oft nicht erlaubte, dass die Freundinnen sich besuchen konnten. Während die Verfasserin als – damals sehr knapp bezahlte – Grundschullehrerin zunächst in einem kleinen Dorf und dann in Schweinfurt arbeitete, lebte die Empfängerin der Briefe in der Schweiz und arbeitete dort wohl als Hausmädchen bei wohlhabenden Familien. Aus ihrem Leben erfahren wir leider nur indirekt. Von ihr sind offenbar keine Briefe überliefert. Damit bin ich bei den Mängeln dieser so interessanten Publikation. Zu einem besseren Verständnis und noch mehr Lesefreude hätte es beigetragen, wenn die Herausgeberin eine kurze Einführung gegeben hätte: Woher kannten die beiden Frauen sich? Wann sind sie geboren? In welcher verwandtschaftlichen Beziehung stehen sie zu den weiteren Personen, die in den Briefen immer wieder auftauchen? Und auch, wie wurde die Freundschaft weitergepflegt, nachdem beide Freundinnen ‚unter der Haube waren‘. Wohnten sie dann wieder dichter beieinander? Der Briefwechsel, der 1950 begann, endet 1961.

Ein weiterer Aspekt ist die Beziehung zur Mutter, über die die Briefschreiberin manchmal klagt, obwohl sie ihre Eltern liebt. Auch nach der Verheiratung, so erfahren wir aus den Briefen, lebt sie mit ihrem Ehemann auf beengtem Raum mit in der elterlichen Wohnung. – Das Mutterthema beschäftigt auch die Herausgeberin der Briefe, Bettina Schmitz. Ihre Gedanken zu der eigenen Mutterbeziehung und der Mutter-Kind-Beziehung ganz allgemein hat sie den Briefen, die ja an ihre eigene Mutter gerichtet waren, vorangestellt. Dort erklärt sie auch, warum sie der Briefsammlung den Titel ‚Das Mutterfell‘ gegeben hat. Auch diesen Teil des Buches habe ich mit Interesse und Gewinn gelesen. Nicht erschlossen hat sich mir allerdings, was er mit der sich anschließenden Briefsammlung zu tun hat, denn es handelt sich um Briefe, die ihre Mutter lange vor der Geburt ihrer Tochter Bettina erhalten hatte. Eigene Kinder hatten damals weder die Schreiberin noch die Empfängerin. Dass die Tochter ihre Mutter durch diese innigen und offenherzigen Freundinnenbriefe noch einmal ganz anders kennenlernt, steht auf einem anderen Blatt. Für die Leserin jedoch bleibt die Adressatin der Briefe, also die Mutter von Bettina Schmitz, eher verschwommen; gut vertraut ist sie indes mit der Briefschreiberin und fühlt sich fast selber befreundet mit ihr.

Wie dem auch sein, insgesamt hat mir die Lektüre Vergnügen bereitet, konnte ich doch in die Alltagsgeschichte, Werte und Normen meiner eigenen Kindheit in den 1950er Jahren eintauchen. Meine Eltern dürften in etwa gleichaltrig mit den Protagonistinnen der Briefsammlung sein. Einmal mehr wurde mir dabei bewusst, wie viel sorgenfreier ich mich als junge Erwachsene ausprobieren durfte im Vergleich zu jener Generation, die nach den Schrecken von verlorenem Krieg und Verlust der Heimat erst mühsam wieder zu einer Normalität zurückfinden konnte.

Bettina Schmitz, Das Mutterfell, ein-Fach-verlag 2020, ISBN 978-3-928089-90-6, 342 Seiten, 25,80 €.

Autorin: Juliane Brumberg
Redakteurin: Juliane Brumberg
Eingestellt am: 09.03.2021
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Kommentare zu diesem Beitrag

  • Bettina Schmitz sagt:

    Gestern abend habe ich die Besprechung entdeckt und freue mich, dass Du, Juliane, das Buch gerne gelesen hast. Mein Plan war ja gewesen, Rita hauptsächlich von Johanna be-schreiben zu lassen. Aber es ist vielleicht doch eine gute Idee für eine weitere Auflage, einen vielleicht auch nur kleinen Lebenslauf von Rita beizufügen … selbst wenn es schließlich doch in erster Linie ein Buch über Freundinnenschaft geworden ist, was ja wiederum auch Dein Fachgebiet ist!

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